eJournals körper tanz bewegung 4/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2016.art18d
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Tango Argentino in der Verhaltenstherapie

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2016
Hans Gunia
Cynthia Quiroga Murcia
Nach einer kurzen Einführung in den Tango Argentino und einem Überblick über Studien zur gesundheitlichen Wirkung von Tango Argentino stellen die Autoren ihren Workshop im Rahmen des Darmstädter Bündnisses gegen Depression vor. Der Inhalt des Workshops wird genauso wie die didaktische Vorgehensweise detailliert beschrieben. Die Autoren zeigen, wie sie Tango Argentino, Psychoedukation und Kommunikationsstrategien miteinander verbinden.
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144 Forum: Aus der Praxis körper-- tanz-- bewegung 4. Jg., S. 144-151 (2016) DOI 10.2378 / ktb2016.art18d © Ernst Reinhardt Verlag Tango Argentino in der Verhaltenstherapie Eine mögliche Integration am Beispiel eines Workshops Hans Gunia, Cynthia Quiroga Murcia Nach einer kurzen Einführung in den Tango Argentino und einem Überblick über Studien zur gesundheitlichen Wirkung von Tango Argentino stellen die Autoren ihren Workshop im Rahmen des Darmstädter Bündnisses gegen Depression vor. Der Inhalt des Workshops wird genauso wie die didaktische Vorgehensweise detailliert beschrieben. Die Autoren zeigen, wie sie Tango Argentino, Psychoedukation und Kommunikationsstrategien miteinander verbinden. Schlüsselbegriffe Tango Argentino, Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Psychoedukation, Kommunikationsstrategien, Depression The Integration of Tango Argentino in Behavioral Therapy After a short introduction to Tango Argentino and a brief overview of studies investigating the health effects of Tango Argentino the authors will present their workshop within the framework of the Darmstadt alliance against depression. The content of the workshop and the didactical procedure will be described in detail. The authors will elaborate on how they connect Tango Argentino, psychoeducation and communication strategies. Key words Tango Argentino, psychotherapy, behavioral therapy, psychoeducation, communications strategies, depression I n letzter Zeit werden körperbezogene Ansätze auch in der Verhaltenstherapie intensiver diskutiert und nachgefragt (Tschacher et al. 2014). Das Angebot an verhaltenstherapeutisch fundierter Körper- und Tanztherapie ist demgegenüber klein. Tango Argentino lässt sich aber aus vielerlei Hinsicht hervorragend mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen und Techniken kombinieren und ist körperbezogen. Tango Argentino ist Ende des 19. Jahrhunderts in Buenos Aires und Montevideo aus einer Mischung afrikanischer, europäischer und lateinamerikanischer Wurzeln entstanden. Zunächst nur von der Unterschicht in Buenos Aires getanzt, kam er im Wesentlichen in zwei Wellen nach Europa und über Europa wieder zurück nach Buenos Aires. So wurde er kurz vor dem ersten Weltkrieg in Paris modern, breitete sich in Europa aus und wurde über diesen Umweg auch in der Oberschicht in Buenos Aires salonfähig. In den 1990er Jahren erlebte er, angestoßen durch Tangoshows und Auftritte argentinischer Tangoorchester, eine zweite weltweite Renaissance (Birkenstock/ Ruegg 2000; Plisson 2001). Mittlerweile kann Tango Argentino in der Verhaltenstherapie 3 | 2016 145 man in fast jeder größeren Stadt der Erde Tango tanzen (Fleischmann 2011; Plisson 2001). Vom Standardtango unterscheidet sich der argentinische Tango dadurch, dass er weniger in festen starren Abfolgen, sondern weicher, körperbezogener und improvisiert getanzt wird. So wird der argentinische Tango manchmal auch als „Laufen in Umarmung“ bezeichnet (u. a. Sedó / Engel 2016). Im Folgenden beziehen wir uns ausschließlich auf den argentinischen Tango. Was den argentinischen Tango für die Integration in die Verhaltenstherapie unseres Erachtens so interessant macht, ist, dass er an sich schon für viele Paare eine positive Aktivität darstellt (was für sich genommen schon antidepressiv wirkt), für Paare häufig neu und unbekannt ist, kranken Partnern ermöglicht, gesunde Anteile, das heißt von der Krankheit unbeeinflusste persönliche Stärken, Vorlieben und Verhaltensweisen, entdecken zu können (und so aus der Krankenrolle herauskommen), Elemente von Achtsamkeit enthält, insofern die Teilnehmer achtsam Musik, Raum und Körper wahrnehmen und sich auf den Augenblick konzentrieren, neue körperliche Erfahrungen, mehr Lebensqualität und Lebensfreude ermöglicht. Darüber hinaus stellt das Tangotanzen eine Gelegenheit zur Kontaktaufnahme und eine Möglichkeit zur Schaffung neuer sozialer Beziehungen dar. Dadurch entsteht die Chance, selbstsichere Verhaltensweisen und Kommunikationsfertigkeiten zu erarbeiten und einzuüben, um mit verschiedenen Tanzpartnern in Kontakt zu treten. Und so ganz nebenbei ermöglicht der Tango, dass man auf nette Art sensible Themen wie z. B. Körperhygiene ansprechen kann. Durch eine Kombination mit Psychoedukation wird es möglich, den Spaßanteil und damit die Akzeptanz für Psychoedukation zu erhöhen (Gunia / Berger 2016). Empirische Studien unterstützen evidenzbasiert die positive Wirkung des Tanzens auf verschiedene emotionale und körperliche Beschwerden: zum Beispiel bei Menschen mit Depression (Koch et al. 2007; Pinniger et al. 2012), bei Patienten mit Parkinson (Hackney et al. 2007), bei Krebspatienten (Mannheim / Weis 2005), bei Patienten mit Diabetes (Murrock et al. 2009) sowie bei Patienten mit Herzerkrankungen (Belardinelli et al. 2008) und bei traumatisierten Patienten (Koch / Weidinger-von der Recke 2009). Tango wird derzeit häufiger als tanztherapeutische Intervention in der Forschung einbezogen. Pinniger et al. (2013) konnten beispielsweise zeigen, dass Tangotanzen die Symptome einer selbstberichteten Depression sowohl unmittelbar nach der Intervention als auch in einem Follow-up reduzieren konnte und dabei einer Meditationsgruppe und einer Zirkeltrainingsgruppe überlegen war. Quiroga Murcia et al. (2009) untersuchten die emotionalen und hormonellen Reaktionen beim Tangotanzen und welchen differentiellen Einfluss Partner und Musikstimulation auf diese Reaktionen hatten. 22 Tangotänzer wurden vier Bedingungen ausgesetzt, wobei die An- und Abwesenheit von Partner und Musik in einem 2x2-Design variiert wurde. Zu Beginn und Ende einer jeden Sitzung gaben die Probanden eine Speichelprobe zur Analyse von Cortisol- und Testosteronkonzentrationen ab und füllten einen Fragebogen zur Erfassung des emotionalen Zustandes aus. Quiroga Murcia et al. fanden heraus, dass die Kombination von Körperbewegung mit einem Partner zu Tangomusik im Vergleich zum Bewegen ohne Partner und ohne Musik zu den positivsten Affektveränderungen führte (Anstieg des positiven als auch Absinken des negativen Affektes). Darüber hinaus konnte eine Reduktion der Cortisolkonzentration nach dem Tangotanzen nachgewiesen werden, welche von der Musikstimulation abhängig war. Ein Anstieg der Testosteronkonzentration war dagegen von der Präsenz des Partners abhängig. Wir selbst veranstalteten bisher Workshops für PatientInnen mit einer Borderline-Persön- 146 3 | 2016 Gunia, Quiroga Murcia lichkeitsstörung, für Familien mit einem Familienmitglied, das an einer Psychose erkrankt ist (siehe hierzu auch Gunia / Berger 2016), und für depressive PatientInnen und deren Angehörige im Rahmen des Darmstädter Bündnisses gegen Depression. Tango-Workshops bei Depression Wir verwenden Tango Argentino in unseren Workshops nicht als Basis für Interpretationen über die Beziehungsdynamik im Paar. Wir arbeiten verhaltenstherapeutisch, bringen den TeilnehmerInnen eine Kulturtechnik-- nämlich das Tanzen-- bei, und streuen in diesen Workshop verhaltenstherapeutische Interventionstechniken wie Kommunikationsstrategien und Psychoedukation ein, die sich in der Verhaltenstherapie von Depression als erfolgreich erwiesen haben. Durch diese Kombination aus Tanz und verhaltenstherapeutischen Techniken lernen die Teilnehmer mit mehr Freude, die vermittelten Inhalte können sich besser verfestigen. Darüber hinaus tragen wir den Ergebnissen von Pinniger et al. (2013) Rechnung, dass das Tanzen von Tango selbst schon eine antidepressive Wirkung hat. Außerdem versuchen wir Achtsamkeitsaspekte, die sich ebenso in der Behandlung von Depression als wirksam erwiesen haben, mit einzubeziehen. Rekrutierung der TeilnehmerInnen Die Workshops ‚Tango gegen Depression‘ für depressive PatientInnen und deren Angehörige finden seit 2013 in der Regel zweimal im Jahr ganztägig samstags im Rahmen des Darmstädter Bündnisses gegen Depression statt. Zu den Workshops kommen zwischen 13 und 20 TeilnehmerInnen, die entweder über die Berichterstattung in der regionalen Presse, über Flyer des Bündnisses gegen Depression, über Aushänge in unserer Gemeinschaftspraxis oder über direkte Ansprache eigener PatientInnen vor und nach Therapiesitzungen rekrutiert werden. In der Regel sind weibliche Teilnehmer in der Mehrzahl. Vorerfahrung in Tango Argentino wird nicht vorausgesetzt und ist in der Regel nicht vorhanden. Die TeilnehmerInnen leiden / litten entweder selbst unter einer Depression oder sind Angehörige. Zu Beginn und zum Ende der Workshops teilen wir einen Fragebogen aus (Beck-Depressions-Inventar (BDI) und Fragebogen zur Belastungseinschätzung), stellen aber selbst keine Diagnose. Ablauf Im Folgenden zeigen wir beispielhaft den Ablauf eines typischen Workshops nach einem Konzept, wie wir es für die Seminare im Rahmen des Darmstädter Bündnisses gegen Depression entwickelt haben. Der Workshop beginnt damit, dass sich die TeilnehmerInnen gegenseitig in Zweiergruppen kennenlernen, indem sie z. B. in freier Form nach Hobbies, Vorlieben, Beruf usw. fragen und die jeweils anderen TeilnehmerInnen hinterher kurz in der Gruppe vorstellen. Dadurch soll das Eis gebrochen und eine anfängliche Befangenheit abgemildert werden. Erste Kontakte können geknüpft werden. Danach legen wir Tangomusik auf (wir beginnen gerne mit Musik des Orchesters Carlos Di Sarli, da gerade Tangoanfänger die „romantische“ Musik von Di Sarli mögen und so einen guten musikalischen Einstieg finden), und die TeilnehmerInnen bewegen sich nach der Musik im Raum, zunächst jeder für sich allein. Dadurch wollen wir die TeilnehmerInnen an die Tangomusik und ein spielerisches Synchronisieren von Musik und Bewegung heranführen. Von Anfang an achten wir darauf, dass sich alle achtsam entgegen des Uhrzeigersinns in einer Runde bewegen, so dass niemand überholt, keiner angerempelt wird usw. Die TeilnehmerInnen sollen von der ersten Sekunde an die Tangoregeln und an achtsames Tanzen im Raum herangeführt werden. Wir korrigieren hier und da schon mal die Haltung (wir weisen Tango Argentino in der Verhaltenstherapie 3 | 2016 147 hier insbesondere darauf hin, dass die TeilnehmerInnen von Beginn an lernen, in der eigenen Körperachse zu stehen und sich in der Achse zu drehen). Da einige schon Tanzbewegungen andeuten, die sie aus anderen Tänzen kennen, achten wir darauf, dass sich die TeilnehmerInnen wie sonst auch bewegen: „wie auf der Straße“ und nicht „tänzelnd“. Zu Beginn laufen die TeilnehmerInnen im Takt der Musik, es werden noch keine Schrittfolgen gezeigt. Nach einigen Runden, in denen wir Tangomusik auflegen, und wenn wir das Gefühl haben, alle Gruppenmitglieder sind in der Musik und im Rhythmus und können sich achtsam bewegen, dürfen die TeilnehmerInnen in Zweiergruppen und in Tanzhaltung gehen. Auch hier achten wir darauf, dass die Tanzrichtung eingehalten wird, niemand überholt usw. Dadurch sollen die TeilnehmerInnen schon auf das spätere Tanzen auf öffentlichen Tango- Tanzveranstaltungen vorbereitet werden. Wir zeigen auf humorvolle Art und Weise, wie man die Frau (bzw. die zu Führende) auf den richtigen Fuß stellt, zunächst die Umarmung genießt und sich erst dann achtsam gemeinsam in Bewegung setzt. Wir möchten erreichen, dass die TeilnehmerInnen den Tango spielerisch erlernen und langsam und achtsam mit dem Tango beginnen. Es folgen einige Tangos, bei denen wir herumgehen, auf die Haltung und Präsenz aufmerksam machen, Fragen beantworten, das Führen und Geführtwerden zeigen, indem wir einzeln mit den Teilnehmern tanzen. Nach der ersten Pause erzählen wir von Buenos Aires, berichten von den Ursprüngen des Tangos und von verschiedenen Tangostilen. Die TeilnehmerInnen sitzen in dieser Zeit in einem Stuhlkreis. Anschließend demonstrieren wir, wie man die drei Tangostile Tango, Milonga und Vals tanzt. Wir beginnen mit einfachen Schritten: Traspies zur Seite: Mann und Frau stehen sich frontal gegenüber, die Füße sind geschlossen. Der Mann stellt seinen linken Fuß in doppelter Geschwindigkeit zur Seite, belastet den linken Fuß kurz und stellt ihn dann wieder in doppelter Geschwindigkeit auf die Ausgangsposition zurück. Dann wechselt er das Gewicht auf den linken Fuß und setzt den rechten Fuß links neben den linken Fuß der Frau. Die Frau macht die gleichen Bewegungen spiegelbildlich und in gleicher Geschwindigkeit mit. Von dieser Position sind dann weitere Schrittkombinationen möglich. Danach zeigen wir eine kleine Schrittkombination (Traspies nach vorne und zur Seite), welche die TeilnehmerInnen dann im weite- Abb. 1: Die Autoren in Übungshaltung 148 3 | 2016 Gunia, Quiroga Murcia ren Verlauf des Vormittags üben dürfen. Wir achten sehr genau darauf, dass diese Schritte nicht im Sinne einer Choreografie gesetzt werden, sondern tatsächlich geführt werden. Vor dem Mittagessen gibt es noch eine Einheit mit Informationen über Depression (Psychoedukation). Wir informieren, wie Depression entstehen kann, wie der Verlauf und die Prognose sein können. Die Teilnehmer bilden dazu wieder einen Stuhlkreis. Um die Atmosphäre etwas aufzulockern, achten wir im diesem Teil darauf, dass wir mit Humor arbeiten. Wir zeigen z. B. auf nette und amüsante Art und Weise, was man im Umgang mit depressiven Angehörigen alles falsch machen kann (z. B. Vorwürfe machen, die depressive Antriebslosigkeit als „Faulheit“ darstellen, positive Ansätze nicht wertschätzen usw.). Analog zum Führen beim Tango zeigen wir, jetzt richtig, wie man kranke Angehörige auf nette Art zu Aktivitäten motivieren kann. An dieser Stelle ist es uns sehr wichtig, die Angehörigen darauf hinzuweisen, dass Vorwürfe wie z. B. „Warum muss ich dir denn immer sagen, dass du den Müll rausbringen sollst? “ oder „Kannst du denn da nicht mal alleine draufkommen? “ häufig auf der Betroffenenseite zu Reaktanz und Ärger-Reaktionen führen, während klare Ansagen wie „Bringe doch bitte den Müll raus“ bei den Betroffenen besser angekommen und von ihnen befolgt werden können. Durch gemeinsame Reflexion werden die Lernerfahrungen beim Führen und Geführtwerden im Tanzen mit dem Alltag verbunden. Es folgen weitere Tanzschritte: Traspies nach vorne. Mann und Frau stehen sich frontal gegenüber, die Füße sind geschlossen. Der Mann stellt seinen linken Fuß in doppelter Geschwindigkeit nach vorne neben den rechten Fuß der Frau, belastet den linken Fuß kurz und stellt ihn dann wieder in doppelter Geschwindigkeit in die Ausgangsposition zurück. Dann wechselt er das Gewicht auf den linken Fuß und setzt den rechten Fuß nach vorne links neben den linken Fuß der Frau. Die Frau macht die gleichen Bewegungen spiegelbildlich und in gleicher Geschwindigkeit mit. Von dieser Position sind dann weitere Schrittkombinationen möglich. Da nach unserer Erfahrung die positive Dynamik im Workshop „Tango gegen Depression“ auch die Besprechung schwieriger Themen ermöglicht, streuen wir das Thema „Libidoverlust“ in einer anschließenden psychoedukativ ausgerichteten Einheit in den Workshop ein. Das Thema wird von uns angesprochen, um niemanden zu beschämen. Unter diesem Symptom leiden depressive PatientInnen oder deren Partner ganz besonders. Wir betonen, dass Libidoverlust ein Symptom einer depressiven Störung und auf keinen Fall zu verwechseln ist mit Desinteresse am Partner. Nach unserer Erfahrung führt alleine diese Information zu einer deutlichen Verringerung des Leidensdrucks. Eine weitere inhaltliche Erarbeitung erfolgt deshalb nicht. Nach dem Mittagessen geht es mit Üben, jetzt mit Musik von Juan D’Arienzo, weiter. Juan D’Arienzo gilt als „König des Taktes“, TeilnehmerInnen können sich bei der Musik von D’Arienzo besser als bei anderen Tangoorchestern am Takt orientieren. Aber zunächst demonstrieren wir, wie man mit Laufen und Traspies schon einen schönen abwechslungsreichen Tango kreieren kann. Anschließend berichten wir von den Milongaregeln in Buenos Aires, wie man in Buenos Aires zum Tanzen auffordert und wie nicht. Wir berichten, dass die Tänzer in Buenos Aires stets gut gekleidet sind, auf Körperpflege und auf guten Mundgeruch achten usw. Dieser Teil ist uns insbesondere deshalb wichtig, da man dadurch auf konstruktive Art und Weise auch auf für Depressive sensible Themen wie Körperhygiene zu sprechen kommen kann. Nach der Pause geht es darum, wie man nur mit Blickkontakt (mirada und cabeceo) auffordert. Hier machen wir die Übung zunächst Tango Argentino in der Verhaltenstherapie 3 | 2016 149 falsch vor (von hinten auffordern, überreden usw.) und zeigen dann, wie man das in Buenos Aires macht. Die Gruppe übt danach selbst, mit Blickkontakt aufzufordern. Die TeilnehmerInnen setzen sich dazu an entgegengesetzte Wände. So ganz nebenbei lernen die Teilnehmer, Blickkontakt aufzunehmen und zu halten, Kontakt zu anderen Personen herstellen, mit Körperkontakt zu experimentieren: Strategien, die auch in der psychotherapeutischen Behandlung von Depressionen nützlich sind. Da sich ein Training sozialer Kompetenz auch in der Behandlung von Depression als effizient erwiesen hat, vermitteln wir Strategien aus diesen Programmen: aktives Zuhören, direktes Äußern von Gefühlen, Nein sagen wird nicht nur abwechselnd mit Tangoschritten vermittelt, sondern Tangoschritte und Kommunikationsstrategien werden auch aufeinander bezogen. Den Bezug stellen wir verbal her, indem wir z. B. immer wieder im Verlauf des Workshops das „Äußern von Gefühlen und Wünschen“ und „Nein sagen“ verbal mit dem „Führen“ im Tango und das „aktive Zuhören“ mit dem „Folgen“ im Tango vergleichen. Wir denken, dass sich die vermittelten Strategien so besser erinnern und festigen lassen und der Transfer in den Alltag so leichter gelingt. Danach zeigen wir eine letzte Schrittkombination (die Frau ins Kreuz bringen) und üben diese mit den TeilnehmerInnen ein. Schrittweise machen die TeilnehmerInnen die Erfahrung, dass sie sich immer mehr zutrauen können. Sie entwickeln zunehmend Selbstvertrauen und die Überzeugung, auch komplexe Bewegungen mit dem Partner bewältigen zu können. Hier achten wir wieder sehr genau darauf, dass dieser Schritt nicht im Sinne einer Choreografie angewendet wird, sondern von den Führenden geführt wird. Wir tanzen erneut mit den einzelnen Teilnehmern, um das „Genau-wie“ am Modell zu zeigen. Die Frau ins Kreuz bringen: Mann und Frau stehen sich frontal gegenüber, die Füße sind geschlossen. Der Mann geht mit seinem linken Fuß einen Schritt zur Seite und nimmt die Frau mit. Der Mann wechselt hernach mit seinem Gewicht auf den rechten Fuß. Die Frau behält das Gewicht auf dem rechten Fuß. Der Mann setzt dann seinen linken Fuß nach vorne, die Frau ihren rechten nach hinten. Danach geht er mit rechts weiter nach vorne und dreht seinen Oberkörper leicht nach rechts. Die Frau geht mit ihrem linken Fuß nach hinten. Der Mann geht dann mit seinem linken Fuß nach vorne und wartet, bis die Frau ihren rechten Fuß nach hinten zieht. Die Drehung des Oberkörpers des Mannes dieses Mal nach links bewirkt, dass die Frau ihren linken Fuß vor den rechten kreuzt. Von dieser Position sind dann weitere Schrittkombinationen möglich. Abb. 2: Die Autoren zeigen einen Schritt. 150 3 | 2016 Gunia, Quiroga Murcia Zum Schluss des Workshops erhalten die TeilnehmerInnen noch Tipps für die erste eigene Tango-CD und Hinweise, an welche Tangoschule sie sich in der Region wenden können, wenn sie das Gelernte ergänzen und vertiefen möchten. Ausblick Warum ausgerechnet Tango gegen Depression? Zum einen konnten Pinniger et al. (2012, 2013) zeigen, dass Tango Argentino in der Behandlung von Depression effektiver sei als etwa Achtsamkeitsübungen oder Zirkeltraining. Zum anderen kann man durch Berichte über die Regeln in Buenos Aires auf nette Art auf sensible Themen wie Körperpflege zu sprechen kommen. In Workshops für PatientInnen und deren Angehörige ist Tango Argentino häufig für beide Partner neu, und Tanzhaltung und Schrittkombinationen fallen auch den „gesunden“ Partnern manchmal schwer. Und falls es Partner mit Vorerfahrung gibt, achten wir darauf, dass diese neue Aspekte des Tango erlernen und/ oder vertiefen können. Depressive Menschen trauen sich oft nichts zu, ziehen sich zurück, Angehörige fühlen sich dadurch nicht selten veranlasst, Aufgaben für die kranken Familienmitglieder zu erledigen, sie zu schützen und zu versorgen. Wir nennen das die „Krankenrolle“ der Betroffenen. Durch den Einbezug von Tango löst sich nach unserer Beobachtung diese „Krankenrolle“ oft auf, die „Kranken“ können den „Gesunden“ etwas zeigen. Eine Anekdote am Rande, die keinesfalls abwertend gedacht oder als typisch zu sehen ist, die aber verdeutlicht, was wir an einem zugegebenermaßen extremen Beispiel unter „Krankenrolle“ verstehen: In einem der letzten Workshops berichtete eine Teilnehmerin in der Schlussrunde, dass sie ja nur mit ihrem depressiven Freund mitgekommen sei. Ihr sei es langweilig gewesen, da sie ja besser und auch schon länger tanze als er. Wir fanden allerdings, dass er der talentierte von beiden war. So kann es gehen. Unser Workshop-Format von einem Tag à acht Therapieeinheiten ist zu kurz und unsere bisherige Stichprobe zu klein, um die Ergebnisse von Pinniger et al. (2013) replizieren und statistisch absichern zu können bzw. um die Ergebnisse der ausgeteilten Fragebögen statistisch auswerten können. Wir konnten aber zeigen, dass sich Tango gut mit Psychoedukation und mit dem Vermitteln von Kommunikationsstrategien (nonverbale Kommunikation, direktes Äußern von Gefühlen, Nein sagen, aktives Zuhören) verbinden lässt. Depressive und deren Angehörige haben Spaß und berichten, dass sie von den Übungen profitiert haben. Einzelne Patienten, die in unserer weiteren ambulanten Behandlung waren, berichteten, dass sie die erworbenen Strategien auch nach dem Workshop weiter angewendet haben und im Umgang mit ihren Angehörigen sicherer geworden seien. Unser Workshop lässt sich gut zur Ergänzung und / oder Vertiefung einer ambulanten Therapie nutzen und ist in diesem Setting gut umsetzbar. Im optimalen Fall entstehen neben den therapeutischen Fortschritten auch ein neues Hobby und ein neues soziales Netzwerk. Literatur Belardinelli, R., Lacalaprice, F., Ventrella, C., Volpe, L., Faccenda, E. (2008): Waltz dancing in patients with chronic heart failure: New form of exercise training. Circulation: Heart Failure 1, 107-114, http: / / dx.doi. org/ 10.1161/ circheartfailure.108.765727 Birkenstock, A., Ruegg, H. (2000): Tango. DTV, München Fleischmann, G. (2011): Cyber-Tango. Argentinischer Tango im Internet. In: www.cyber-tango.com, 21.2.2016 Gunia, H., Berger, H. (2016): Psychoedukative Familienintervention (PEFI) bei schizophrenen Psychosen-- als Beispiele einer Mehrfamilienintervention. In: Bäuml, S., Behrend, B., Henningsen, P., Pitschel- Walz, G. (Hrsg.): Handbuch der Psychoedukation für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin. Schattauer, Stuttgart Tango Argentino in der Verhaltenstherapie 3 | 2016 151 Hackney, M. E., Kantorovich, S., Earhart, G. (2007): A study on the effects of argentine tango as a form of partnered dance for those with Parkinson disease and the healthy elderly. American Journal of Dance Therapy 29, 109-127, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s10465-007-9039-2 Koch, S. C., Morlinghaus, K., Fuchs, T. (2007): The joy dance: Specific effects of a single dance intervention on psychiatric patients with depression. The Arts in Psychotherapy 34, 340-349, http: / / dx.doi. org/ 10.1016/ j.aip.2007.07.001 Koch, S. C., Weidinger-von der Recke, B. (2009): Traumatised refugees: An integrated dance and verbal therapy approach. The Arts in Psychotherapy 36, 289-296, http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ j.aip.2009. 07.002 Mannheim, E. G., Weis, J. (2005): Tanztherapie mit Krebspatienten. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie 16, 121-128, http: / / dx.doi.org/ 10.1026/ 0933- 6885.16.3.121 Murrock, C. J., Higgins, P. A., Killion, C. (2009): Dance and peer support to improve diabetes outcomes in African American women. The Diabetes Educator 35, 995-1003, http: / / dx.doi.org/ 10.1177/ 0145721709343322 Pinniger, R., Brown, R. F., Thorsteinsson, E. B., McKinley, P. (2012): Argentine tango dance compared to mindfulness meditation and a waiting list control: a randomized trial for treating depression. Complementary Therapies in Medicine 35, 60-77, http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ j.ctim.2012.07.003 Pinniger, R., Thorsteinsson, E. B., Brown, R. F., McKinley, P. (2013): Tango dance can reduce distress and insomnia in people with self-refered affective symptoms. American Journal of Dance Therapy 20, 377-384 Plisson, M. (2001): Tango. Palmyra, Heidelberg Quiroga Murcia, C., Bongard, S., Kreutz, G. (2009): Emotional and neurohumoral responses to dancing tango argentino: the effects of music and partner. Music and Medicine 1, 14-21, http: / / dx.doi.org/ 10.1177/ 1943862109335064 Sedó, M., Engel, D. (2016): Tango de Salon. In: www. tangodesalon.de, 21.2.2016 Tschacher, W., Munt, M., Storch, M. (2014): Die Integration von Tanz, Bewegung und Psychotherapie durch den Embodimentansatz. körper---tanz---bewegung 2 (2), 54-63, http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ ktb2014.art10d Die Autoren Hans Gunia Diplom-Psychologe, Lehrtherapeut und Supervisor VT und DBT, tätig in eigener verhaltenstherapeutischer Praxis. Fortbildungen und Veröffentlichungen zu den Themen Verhaltenstherapie bei Psychosen, Psychoedukation, dialektisch-behaviorale Therapie bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Tango Argentino in der Verhaltenstherapie. ✉ Hans Gunia Psychologische Praxis Heidelberger Landstraße 171 | 64297 Darmstadt gunia@vt-forsthaus.de www.vt-forsthaus.de Dr. Cynthia Quiroga Murcia Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, tätig in eigener verhaltenstherapeutischer Praxis in Darmstadt. ✉ Dr. Cynthia Quiroga Murcia Psychologische Praxis Heidelberger Landstraße 171 | 64297 Darmstadt quiroga@vt-forsthaus.de www.vt-forsthaus.de