eJournals körper tanz bewegung 5/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Rezension: Kerstin Löwenstein: Atem und Bewegung als formgebende Kräfte in der Psychotherapie bei Krebs

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2017
Angelika Marx
Kerstin Löwenstein: Atem und Bewegung als formgebende Kräfte in der Psychotherapie bei Krebs AV Akademikerverlag, 2015, Saarbrücken, 164 Seiten, 41,90 € (D) Löwenstein stellt in ihrem Buch das Konzept einer atemgeleiteten Tanztherapie vor, das auf ihrer Erfahrung in der Arbeit mit KrebspatientInnen beruht. Der Ausdruck „Psychotherapie“ im Titel ist ein wenig irreführend, da Löwenstein in ihrem Buch die tanztherapeutische Arbeit, die eine besondere Art der psychotherapeutischen Arbeit ist, beschreibt.
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Medien & Materialien 3 | 2017 141 Kerstin Löwenstein: Atem und Bewegung als formgebende Kräfte in der Psychotherapie bei Krebs AV Akademikerverlag, 2015, Saarbrücken, 164 Seiten, 41,90 € (D) L öwenstein stellt in ihrem Buch das Konzept einer atemgeleiteten Tanztherapie vor, das auf ihrer Erfahrung in der Arbeit mit KrebspatientInnen beruht. Der Ausdruck „Psychotherapie“ im Titel ist ein wenig irreführend, da Löwenstein in ihrem Buch die tanztherapeutische Arbeit, die eine besondere Art der psychotherapeutischen Arbeit ist, beschreibt. Löwenstein geht von der These aus, dass die Förderung des freien Atemflusses zentral ist, um den PatientInnen einen Ausdruck ihrer Emotionen zu ermöglichen und Halt in der therapeutischen Beziehung zu finden. Der gestockte, angehaltene Atem weist auf gestaute unbewusste oder halbbewusste Emotionen hin- - eine Förderung des Atemflusses ermöglicht den PatientInnen, diesen Gefühlen im tänzerischen Ausdruck eine Form zu geben, um sie sich selbst und dem Therapeuten zugänglich zu machen. Löwenstein untermauert ihr Konzept mit einem ausführlichen Theorieteil: Im ersten Kapitel erläutert sie das Krankheitsbild Krebs. Dabei hebt sie besonders die These des Körperpsychoanalytikers Reich hervor, der die Atmung ins Zentrum seiner Betrachtungen stellt und dessen Terminologie den bewegungsanalytischen Fachbegriffen ähnelt. Hier wie auch in den folgenden theoretischen Erläuterungen gibt Löwenstein eine sehr umfassende Darstellung sämtlicher Theorien wieder und kommt abschließend auf den für ihre These wichtigsten theoretischen Ansatz zu sprechen. Die theoretischen Ansätze beziehen sich alle auf Literatur der 1990er Jahre, da, wie Löwenstein selbst in ihrem Vorwort zur Neuauflage schreibt, das Buch als Abschlussarbeit zu ihrer Ausbildung entstanden ist und für diese Neuauflage nicht überarbeitet wurde, was, wie ich finde, sehr schade ist. So ist das Buch nicht auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand, da gerade in den letzten zehn Jahren viel zu Körperpsychotherapie und Tanztherapie für KrebspatientInnen geforscht und veröffentlicht wurde (z. B. Elana Mannheims groß angelegte Studie). Leider wurde die Neuauflage des Buches auch formell nicht überarbeitet, was zu zahlreichen Rechtschreib- und Formatierungsfehlern führt, die das Lesevergnügen ein wenig einschränken und, wie ich finde, keine angemessene Form für den sehr guten Inhalt darstellt. Im nächsten Kapitel erläutert Löwenstein die Rolle der Tanztherapie in der Krebsnachsorge. Diese ist gerade für Krebspatienten wichtig, da sie gleichzeitig soziale Begleitung und Bewegung umfasst. Löwenstein geht auf die einzelnen Wirkfaktoren der Tanztherapie ein und spricht der Atemarbeit einen Motivationsim Sinne von Animations- und Belebungscharakter zu. Im letzten Theoriekapitel behandelt Löwenstein die Atmung als ganzheitliches Phänomen. Sie geht auf die biologischen Gegebenheiten und die Psychologie der Atmung ein und beschreibt ausführlich die verschiedenen Ansätze, die sich mit dem psychologischen Aspekt der Atmung beschäftigen-- der Zusammenhang von Atmung und Emotionen, Atmungsmuster und Charaktertypen, Atemschulen, Atmung in der Körperpsychotherapie. Sodann führt sie die Tanztherapie und Atmung zusammen und geht darauf ein, welche Rolle der Atem in verschiedenen tanztherapeutischen Ansätzen spielt. Löwenstein kommt am Ende des Kapitels auf die für die vorliegende Arbeit maßgebliche theoretische Grundlage-- der Atem- und Formfluss nach Kestenberg- - zu sprechen. Sie 142 3 | 2017 stellt die Theorie von Kestenberg auf zwölf Seiten dar und geht auch auf deren Bezug zu den entwicklungstheoretischen Konzepten ein. Im folgenden Kapitel beginnt Löwenstein mit der Beschreibung der Praxis: die Atemarbeit bei Tumor-Nachsorge-PatientInnen. In diesem, wie ich finde, hervorragenden praktischen Teil analysiert Löwenstein detailliert Atem- und Bewegungsmuster ihrer PatientInnen und nimmt dabei immer wieder auf die im Vorangegangenen beschriebenen Theorien Bezug. Löwenstein erläutert zunächst, welche Atemtechniken bei Krebspatienten kontraindiziert sind. Danach beschreibt sie elf mögliche Therapieziele der tanztherapeutischen Atemarbeit und belegt jedes sofort mit einem oder mehreren Fallbeispielen-- für den Leser sehr gut nachvollziehbar und einleuchtend. Die Verknüpfung von Atem, Form und Polarität, die erste ihrer beiden Hauptthesen, erläutert Löwenstein als eine Wirkweise unter anderen. Sie macht anhand ihres Beispiels deutlich, dass der Atem die tanztherapeutischen Wirkfaktoren Form und Polarität verknüpft. Zentral dabei ist, sich die Polaritäten bewusst zu machen und die Polaritäten als Wechselspiel erleben zu dürfen. Bewusstes Ein- und Ausatmen bzw. Zulassen des Atem- und Formflusses ermöglicht das Freiwerden von tieferen Themen. Löwenstein bezieht sich auf das Shape-Flow-Modell von Kestenberg und merkt hier auch an, dass sich der Titel ihres Buches darauf bezieht. Ebenso definiert sie die Begriffe „Form“ und „Polarität“ in einer Fußnote. Ich hätte mir gewünscht, diese für die Untersuchung zentralen Definitionen bereits am Anfang zu erfahren (evtl. mit Verweis auf die später ausführlich dargelegte Theorie des KMP II). Unter den Wirkweisen und Therapiezielen der tanztherapeutischen Atemarbeit wird auch der zweite für sie zentrale Aspekt erläutert: der bestätigende und haltgebende Aspekt. Diesen Aspekt hebt Löwenstein im letzten Kapital noch einmal anhand eines umfangreichen Prozessbeispiels besonders hervor. Mir gefällt, wie Löwenstein bei ihren Fallbeispielen und deren Analyse immer auch auf die therapeutische Beziehung eingeht- - Interventionen, Gegenübertragung und Containment. Als ebenfalls wichtig bezeichnet sie die indirekte Atemarbeit durch Bewegung, Körperwahrnehmung, Musik- - keine zu starke Überbetonung und Fixierung auf den Atem. Löwenstein stellt umfassend ihre atemzentrierte tanztherapeutische Arbeit mit KrebspatientInnen dar. Dabei fällt die detaillierte informative Art auf, wie sie alle möglichen Ateminterventionen beschreibt und anhand von Beispielen veranschaulicht. Sie verknüpft die Erläuterung ihrer Vorgehensweise und die anschließende Analyse und Interpretation immer wieder mit dem vorangestellten Therorieteil. Der Leser erhält einen sehr genauen und lebendigen Eindruck von der Arbeit mit KrebspatientInnen und deren Wirkweise. Anhand der Fallbeispiele wird sehr schön deutlich, dass die Arbeit mit dem Atem sowohl die eigene Bewegung als auch damit verbundene psychische Prozesse fördert. Löwenstein zeigt auf, dass die Arbeit mit dem Atem gerade für KrebspatientInnen ein wunderbarer Zugang zu psychischen Themen ist. Die tanztherapeutische Arbeit mit Fokus auf den Atem ermöglicht eine sanfte wertschätzende Annäherung an unbewusste oder halbbewusste Inhalte der Psyche, die durch das Zusammenspiel von Atem und Bewegung sichtbar werden können. Da bei KrebspatientInnen zunächst oft die körperliche Erkrankung und ihre Behandlung im Vordergrund stehen, führt der Atem, der sich ja auch vorrangig auf der körperlichen Ebene abspielt, hin zu der psychischen Reichweite der Krankheit. Insgesamt wird in Löwensteins Buch die Theorie umfassend und ausführlich behandelt, ist aber nicht auf den allerneuesten Stand gebracht. Der Praxisteil ist wunderbar anschaulich, sehr detailliert und hilfreich. Angelika Marx DOI 10.2378 / ktb2017.art18d Medien & Materialien