eJournals körper tanz bewegung 5/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Aus der Praxis: Vom Verdruss zum Genuss

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2017
Annette Bertschi
Mareen Scholl
Sexuelle Probleme und Funktionsstörungen sind für die Betroffenen meist mit großem Mangelerleben und viel Scham verbunden. Dies kann zu schwerem und jahrelang verschwiegenem Leiden führen und hat mitunter schwerwiegende Auswirkungen auf das körperliche und seelische Befinden. In diesem Aufsatz wird ein sexual- und körperpsychotherapeutischer Behandlungsansatz für Frauen in der Gruppe beschrieben. Dabei werden spezifische Aspekte der Gruppenarbeit benannt und einzelne methodische Elemente wie Achtsamkeit, Atem und Berührung näher beschrieben.
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173 körper-- tanz-- bewegung 5. Jg., S. 173-183 (2017) DOI 10.2378 / ktb2017.art23d © Ernst Reinhardt Verlag „Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“ (Seneca) D as reale körperliche und psychische sexuelle Erleben vieler Menschen steht im Kontrast zu den in den Medien verfügbaren Bildern von (vermeintlich) sinnlich durchströmten Körpern, erotischer Ekstase und sexueller Befriedigung. In den individuellen sexuellen Lerngeschichten unserer KlientInnen finden sich meist konkrete Bedingungen und Erfahrungen, die ihre sexuelle Entwicklung und/ oder ihren Bezug zum eigenen Körper ungünstig beeinflussten. Gleichzeitig spielen der sozialhistorische Hintergrund und die soziokulturelle Prägung in den jeweiligen Kulturen über Generationen hinweg eine maßgebende Rolle in diesem Zusammenhang. So muss gesehen werden, dass Frauen (auch) in unserem Kulturkreis jahrhundertelang kein eigenes Begehren und keine sexuelle Lust erlaubt waren. Vom Verdruss zum Genuss Körperorientierte Sexualtherapie für Frauen in der Gruppe Annette Bertschi und Mareen Scholl Sexuelle Probleme und Funktionsstörungen sind für die Betroffenen meist mit großem Mangelerleben und viel Scham verbunden. Dies kann zu schwerem und jahrelang verschwiegenem Leiden führen und hat mitunter schwerwiegende Auswirkungen auf das körperliche und seelische Befinden. In diesem Aufsatz wird ein sexual- und körperpsychotherapeutischer Behandlungsansatz für Frauen in der Gruppe beschrieben. Dabei werden spezifische Aspekte der Gruppenarbeit benannt und einzelne methodische Elemente wie Achtsamkeit, Atem und Berührung näher beschrieben. Schlüsselbegriffe funktionelle Sexualstörungen, Frauengruppe, Sexualtherapie, Körperpsychotherapie, Atem, Achtsamkeit, Berührung From Displeasure to Pleasure. Body-Centred Group Sex Therapy for Women Sexual problems and dysfunction are usually a cause of great shame and a feeling of inadequacy for those affected. This can lead to acute suffering that is often kept secret for many years. It can sometimes have serious effects on a person’s physical and emotional wellbeing. This essay describes a sexualand bodywork therapy approach for women in a group context. Specific aspects of group work will be mentioned and individual methodological elements such as mindfulness, breath and touch will be described in more depth. Key words Functional sexual disorders, women’s group, sex therapy, body psychotherapy, breath, mindfulness, touch Forum: Aus der Praxis 174 4 | 2017 Bertschi, Scholl Das Bild der sexuell ständig verfügbaren und das Symptom der lustlosen, sexualfeindlichen oder ängstlichen und missbrauchten Frau steht in engem Zusammenhang mit der gesellschaftlich unterdrückten, verleugneten und instrumentalisierten weiblichen Sexualität (Sanyal 2009). Nach wie vor erscheint besonders die kulturell geprägte Haltung zur weiblichen Sexualität sowohl bei Frauen als auch bei Männern ambivalent. In vielen Köpfen scheint es immer noch eine Spaltung in „Heilige“ und „Huren“ zu geben, die zu Verwirrung und Orientierungslosigkeit im Umgang mit Lust und Begehren bei beiden Geschlechtern führt. Ohne in diesem Zusammenhang näher darauf eingehen zu können, sehen wir vor diesem Hintergrund auch die Problematik sexueller Übergriffe gegenüber Frauen und sexuellen Missbrauchs generell. Es uns ein Anliegen, gerade Frauen einen Rahmen zu bieten, in dem sie ihre individuellen sexuellen Schwierigkeiten auch auf einer kollektiven Ebene verstehen und bewältigen können. Die Klientinnen, die uns wegen ihrer sexuellen Probleme und Funktionsstörungen aufsuchen, erleben im Zusammenhang mit Sexualität Mangel, Anspannung, Angst sowie Scham- und Versagensgefühle. Sie stehen unter starkem Druck, ihre „Defizite“ überwinden zu wollen bzw. zu müssen, um in einer Partnerschaft „funktionstüchtig“ zu sein und mit anderen Frauen „mithalten“ zu können. Vermeidung des Kontaktes zum eigenen Körper und sexueller Aktivitäten, Resignation, Selbstanklage und wachsender innerer Druck verstärken in einem Circulus vitiosus die Problematik. Zur Unterstützung der oft sehr stark belasteten Frauen bieten wir eine sexual- und körperpsychotherapeutische Behandlung in Kombination aus Einzel- und Gruppensetting an. Nach unserer Erfahrung fördert besonders die Arbeit in der gleichgeschlechtlichen Gruppe sowie wirkliches Gewahrwerden und „Bewohnen“ des eigenen Körpers eine Entdramatisierung und Enttabuisierung des defizitären Erlebens. Statt des zielorientierten Strebens nach Symptombeseitigung bzw. körperlicher und sexueller Optimierung kann lebendiges, mitunter spielerisches (Neu-)Lernen beginnen. Uns ist der Erwerb sexualkundlichen Wissens ebenso bedeutsam wie die Praxis diverser Körper- und Kommunikationsübungen. Damit intendieren wir bewusstes und selbstbestimmtes Einlassen auf der körperlichen und emotionalen Ebene, durch das erst Entspannung, Genießen und allmählich wachsende Erregung als umfassendes Körpergefühl möglich werden. Besonders bei der langfristigen Arbeit mit unseren Klientinnen beobachten wir, dass mit dem „Überschreiben“ problematischer Erfahrungen durch neues aktuelles Erleben im eigenen Körper und im Kontakt mit anderen Frauen dysfunktionale, selbstabwertende, Angst gefärbte und blockierende kognitive Muster abgebaut werden können und sich die Möglichkeiten des erotisch-sexuellen Empfindens und Verhaltens erweitern. In Folgenden stellen wir unsere körper- und sexualtherapeutische Gruppenarbeit mit Frauen vor und arbeiten dabei das besondere Potential der Gruppe heraus. Dazu nutzen wir unterschiedliche methodische Elemente aus der Verhaltenstherapie, Sexualtherapie (Sexocorporel), Körperpsychotherapie (Core energetics) und Sexological Bodywork. Gleichzeitig beschreiben wir beispielhaft einzelne methodische Zugänge. Die Gruppe als Heilraum Viele der Klientinnen, mit denen wir arbeiten, leiden unter sexuellen Funktionsstörungen wie Libidoverlust, sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle Befriedigung, Orgasmusstörung, Vaginismus und Dyspareunie. Im ICD 10 sind diese Störungsbilder als krankheitswertig klassifiziert (F 52.0-F 52.6). Damit wird unserer Meinung nach der Realität des leidvollen Erle- Vom Verdruss zum Genuss 4 | 2017 175 bens der Betroffenen Rechnung getragen. Zugleich sehen wir kritisch, dass eine solche Festlegung auf „Krankheit“ die defizitorientierte Selbstperspektive nicht zuletzt auch durch gesellschaftliche Stigmatisierung fördert. Mitunter beeinträchtigen auch Körperbildstörungen, nicht selten im Zusammenhang mit (früheren) Essstörungen, die Sexualität. Das Spektrum der Hintergründe der Problematik reicht von sexualfeindlicher Erziehung bzw. begrenztem sexuellem Lernen, Selbstwertdefiziten bis zu sexuellen Grenzüberschreitungen und Traumatisierungen. Oft sind die Ängste und die Scham der Frauen so groß, dass sie jahrelang mit niemandem über ihr Leiden reden. Sie fühlen sich als Frau wertlos und entwickeln ein starkes Unwohlsein in ihrem Körper und in Bezug auf Sexualität. In diesem Zusammenhang können psychische und psychosomatische Erkrankungen auftreten. Außerdem berichten viele unserer Teilnehmerinnen aufgrund ihrer sexuellen Schwierigkeiten von massiven Partnerschaftskonflikten bzw. Ängsten, eine Partnerschaft einzugehen. Mit der Arbeit in der Frauengruppe stellen wir einen geschützten Raum her, in dem Körperlichkeit und Sexualität mit all ihren Ausdrucksformen, aber auch ihrer Störbarkeit erlebbar werden dürfen. Der wiederholte Wechsel von Selbstwahrnehmung, Selbstberührung bzw. Selbstausdruck und dem Fokussieren auf das Gegenüber im Bezeugen, Betrachten, Zuhören oder Berühren stellt ein effizientes Übungsfeld für selbstbestimmte und „selbstbestätigte“ (Schnarch 2006) Sexualität allein oder im Kontakt mit einem anderen Menschen dar. Durch den ständigen Fokuswechsel von der Wahrnehmung körperlicher und emotionaler Empfindungen hin zur bewussten Sprache und Kommunikation geschieht eine tiefere Integration der Erfahrung ins eigene Selbst. Wie die Bottom-up- und Top-down-verbindenden Ansätze beschreiben, wird einerseits durch das Üben des somatischen Gewahrseins die Fähigkeit zur Eigenregulierung im emotionalen und kognitiven Bereich gefördert. Andererseits vertieft sich das Spürbewusstsein (Felt Sense) durch Verbalisierung und Reflektion der Erfahrungen und Körpersensationen, und die veränderten mentalen Einstellungen finden wieder ihre Entsprechung im Körpererleben (Heller / Lapierre 2013). Unser therapeutisches Angebot besteht aus einer Kombination aus Einzel- und Gruppensetting. Die Einzeltherapie fokussiert hauptsächlich auf die individuelle sexuelle Geschichte, die erworbenen dysfunktionalen Denk- und Verhaltensweisen und die aktuellen Einschränkungen. Unserer Erfahrung nach werden erst in der Gruppen- oder Dyadenkonstellation innerhalb der Gruppe bestimmte Aspekte des Körpererlebens aktiviert. Nur im Kontakt mit anderen Menschen kann verbale und nonverbale Kommunikation und Interaktion erprobt und somatische Resonanz erfahren werden. Durch das Üben innerhalb klarer Grenzen und in definierten Rollen gelingt es den Frauen oft besser, mutig ihren Aktionsrahmen zu erweitern bzw. die erlernten Schutz- und Kontrollmechanismen zu überwinden, ohne in die etablierten Muster der Paardynamik zu geraten. Und gleichzeitig werden in den Kontakten dennoch bekannte Verhaltens- und Denkmuster ausgelöst und dem Bewusstsein zugänglich. Das Analysieren und Teilen der eigenen sexuellen Lerngeschichte fördert Verständnis und Mitgefühl mit sich selbst, aber auch Solidarität und Verbundenheit mit den anderen Frauen. Der Austausch in der Dyade oder in der Gruppe normalisiert die problematisch erlebten Aspekte und regt zugleich zu erweiterter Wahrnehmung und zum Experimentieren an. Wachsende wirkliche Präsenz im eigenen Körper lässt Vergleiche und Bewertungen schwinden. So berichten die Teilnehmerinnen, dass sie mit sich selbst und den anderen nachsichtiger und mitfühlender sein können und sich vom Anders-Sein des Gegenüber eher inspirieren lassen als in Konkurrenz zu gehen und so entspannter im Kontakt sind. 176 4 | 2017 Bertschi, Scholl In unserer Arbeit sind das Verlassen der „Komfortzone“ und das Herantasten an oder gar Überschreiten der Tabugrenze bei einzelnen Übungen grundlegend, um den Zustand spielerischer Unbefangenheit im puren Körper- Sein und selbstverständlichen Kontakt mit anderen zu erlangen. Dabei stellen unsere Übungsanleitungen ein Angebot dar, das die Teilnehmerinnen ihren Bedürfnissen und Grenzen entsprechend modifizieren können. Hier liegt die Chance zu lernen, Eigenes immer differenzierter wahr- und ernst zu nehmen und auszudrücken. Während Schutz und Halt durch die ganze Gruppe und die Leiterinnen bestehen, kann sich zwischen den Teilnehmerinnen eine erstaunliche Intimität und Nähe entfalten. Gleichzeitig ist jederzeit Abgrenzung und Rückzug vom Gegenüber möglich. Nach unserer Erfahrung bietet die Gruppe die nötige Geborgenheit und zugleich Freiheit, um umfassende neue körperlich-sexuelle Lernerfahrungen und Einstellungsänderungen zu erzielen, die die Möglichkeiten des Einzel- oder Paar-Settings und des sexualtherapeutischen Übens allein zu Hause sehr effizient ergänzen. Somatisches Üben in der Gruppe Im Rahmen der somatischen Arbeit geht es vor allem um das Erforschen und Erweitern körpereigener Ressourcen zur Förderung der Vertiefung des Erlebens im eigenen Körper, der Freiheit des Ausdrucks und zur Selbstregulierung. Die Übungen basieren hierbei auf den Grundelementen Achtsamkeit, Atem, Stimme, Bewegung, (Selbst-)Berührung und Kommunikation. Dabei hilft das Üben in der Gruppe, Immobilität und Scham wegen der bisher unvertrauten Aktionen leichter zu überwinden, als es in der Einzelarbeit möglich ist. Unsere Beobachtung ist, dass sich, nachdem die Gruppe anfangs von einigen Teilnehmerinnen als herausfordernd oder verunsichernd wahrgenommen wird, mit der gemeinsamen Arbeit ein Wandel vollzieht. Von der Gegenwart und des Sich-Zeigens „Gleichgesinnter“ geht zunehmend mehr Ermutigung und Bestärkung aus. Wir nutzen folgende Varianten gemeinsamer körperlicher Aktivität: ● Tanzen, z. B. Bewegungen, die von bestimmten Körperteilen wie dem Becken oder den Brüsten ausgehen oder dem Bewusstwerden des vaginalen Innenraumes dienen ● Grounding-Übungen für mehr Sicherheit und Präsenz ● bioenergetische Übungen zum Experimentieren mit Ladung und Entladung (Rosenberg 2001) ● Beckenbodenübungen zum Gewahrwerden des Schoßraumes und für mehr muskuläre Flexibilität zwischen Spannung und Entspannung ● gemeinsames Tönen zur Verbesserung des Selbstausdruckes über die Stimme und um mittels der Vibrationen Mundbereich, Zwerchfell und Beckenboden zu aktivieren ● Atemübungen ● Bewegungsmeditationen (z. B. wird bei der Herzchakra-Meditation nach Karunesh, siehe Powels 2017, eine bestimmte vorgegebene Bewegungsabfolge verbunden mit dem Atem ca. 45 Minuten lang mit Musik unterlegt synchron von den Teilnehmerinnen ausgeführt) Näher eingegangen sei im Folgenden auf die kraftvollen Elemente Achtsamkeit und Atem. Die Basis der somatischen Übungen ist Achtsamkeit. Die Bedeutung von Achtsamkeitspraxis wird vielfach von Neurowissenschaftlern wie Daniel Siegel (2010) erforscht. Seine Studien zeigen, dass eine solche Praxis systematisch die Funktionen des medialen präfrontalen Cortex entwickelt, welche die Fähigkeiten einschließen, unseren Körper zu regulieren, uns auf andere einzustimmen, emotionale Balance aufrechtzuerhalten, Ängste zu beruhigen, vor dem Handeln innezuhalten, Einsicht und Mitgefühl zu entwickeln, moralisch Vom Verdruss zum Genuss 4 | 2017 177 zu denken und zu handeln und Zugang zu unserer Intuition zu finden. Nach Siegel verhilft uns Achtsamkeitspraxis dazu, weniger bewertend und gelassener zu werden, bewusster das momentane Geschehen wahrzunehmen, die Fähigkeit zu entwickeln, unsere innere Welt mit Worten zu beschreiben sowie uns selbst zu beobachten (Siegel 2010). Mit sexueller oder erotischer Praxis, geübt und gelebt als Achtsamkeitspraxis, können wir mit der Zeit sowohl unsere sexuellen und erotischen Fähigkeiten erweitern oder zurückgewinnen als auch unser energetisches, emotionales, mentales und soziales Potential stärken. Bei den Übungen mit dem eigenen Körper wie beispielsweise den Atemübungen, bei Selbstberührung oder in der Berührung durch eine weitere Person bzw. das aktive Berühren einer anderen Person werden die Teilnehmerinnen dazu angehalten, ihre Aufmerksamkeit sowohl auf diese Praxis zu legen als auch auf eine selbstbestimmte Intention. Dabei könnte der Fokus beispielsweise gerichtet sein auf das Üben unterschiedlicher Berührungsqualitäten, das Beobachten und Aussprechen aufkommender Gedanken oder körperlicher Spannungsmuster oder einen konstant bewussten Atem. Intentionsgeleitetes Handeln unterstützt uns darin, bewusster im Moment und bei dem Geschehen zu sein. Dort, wo sexuelle oder auch einfach körperliche Handlungen oft gewohnheitsmäßig, schambehaftet oder im dissoziierten Zustand ablaufen, werden sie hier zu verkörperter Meditation, bei der die Teilnehmerinnen lernen, bewusst wahrzunehmen, was in ihnen vorgeht. Durch entsprechende Anleitungen üben sie, diese Erfahrungen verbal oder nonverbal zu kommunizieren, sie zu integrieren oder aber selbstbestimmt zu verändern. Atemübungen lassen sich sowohl zur Entspannung als auch zur Aktivierung des Nervensystems nutzen. Atmung ist ein einfaches wie herausforderndes Mittel zugleich, um die Klientinnen in Kontakt mit ihrem Körper und in eine wache Präsenz zu bringen. Die Teilnehmerinnen werden hier oftmals mit ihren eigenen Atemmustern und deren Begrenzungen konfrontiert. Die Einladung besteht darin, diese Muster und ihre Erweiterungsmöglichkeiten spielerisch zu erforschen, darin enthaltene neue körperliche Zustände und Empfindungen zu entdecken sowie die dadurch aktivierten emotionalen Prozesse zuzulassen. Durch die erhöhte Aufnahme von Sauerstoff wird auch die Blutzufuhr des Körpergewebes erhöht und somit das Spüren aktiviert und intensiviert. Durch das Herstellen und Erleben unterschiedlicher Intensitäten und Arten von Erregung wie sinnlicher Anregung / Aktivierung des Nervensystems oder sexueller Erregung wird der Fokus, der sich im Zusammenhang mit Sexualität oft auf die Genitalien beschränkt und zugleich auch vermieden wird, auf den gesamten Körper gelenkt. Mit dem aktiven und bewussten Atmen werden sich die Teilnehmerinnen ihrer Fähigkeit zur emotionalen und sexuellen Eigenregulierung gewahr. Für viele Menschen ist eine bereits geringfügig veränderte Aktivierung oder auch Entspannung im Körper unbekannt und so bestenfalls interessant und Neugierde weckend, potenziell aber auch verunsichernd, beängstigend oder schambesetzt. Oft werden körperliche Reaktionen und Sensationen aufgrund von ungeübter Spürfähigkeit, begrenzte Vorstellungen davon, wie sich Erregung anfühlen kann, und blockierender Glaubenssätze bezüglich des Erlebens sexueller Lust gar nicht erst wahrgenommen oder zugelassen. Sinnliches Spüren und sexuelle Erregung sind aber untrennbar mit einem tiefen und entspannenden oder auch anregenden und sich steigernden Atem verbunden, so dass ein Schwerpunkt des Lernens darin besteht, mittels Variation des Atems veränderte Aktivierungen im eigenen Körper zu erzeugen oder tatsächlich wahrzunehmen, zu halten, zu integrieren und zu genießen. 178 4 | 2017 Bertschi, Scholl Gemeinsam sexualkundliches Wissen erwerben und die eigene Funktionsweise verstehen lernen Die problembelasteten Frauen suchen oft zunächst Hilfe und Lösungsansätze im Internet. Mit der Fülle der dort verfügbaren Informationen fühlen sie sich oft alleingelassen und überfordert. Der Erwerb von Wissen in der Gruppe und damit die Möglichkeit des intensiven Austausches gibt den Frauen Orientierung und Sicherheit. In psychoedukativen Sequenzen nutzen wir neue anatomische Abbildungen (Méritt 2015), Fotos (Scholz 2007), Videos sowie Theorien und Erfahrungswissen über sexuelle Vorgänge auch aus anderen Kulturen, z. B. tantrische Ansätze („Slow Sex“: Entschleunigung, genitale Vereinigung losgelöst von Orgasmusfixierung und darauf ausgerichtete Stimulation, stattdessen Fokus auf die emotionale Verbindung zu sich selbst und den Partner; Richardson 2001, 2006) und taoistische Denkweisen (Selbstheilung, Zentrierung im eigenen Körper, Meditation und sexuelle Praxis als Eigenpraxis zur Stärkung des Systems auf körperlicher, mentaler und emotionaler Ebene; Piontek 2002). Mitteilen und Zuhören dürfen In Dyaden besprechen die Frauen konzentriert spezifische intime Fragen, z. B. zu ihrer sexuellen Geschichte, Wünsche, Ängste, Phantasien, Masturbationstechniken etc. Beim Yonitalk versenkt sich eine Frau mental ganz in ihren Schoßbereich und lässt bezeugt (siehe unten im folgenden Abschnitt) von anderen aktiv zuhörenden Teilnehmerinnen ihre Vulva bzw. Vagina sprechen („Wie geht es ihr? “, „Was wünscht sie sich von mir? “ …). Die Klientinnen können mittels dieser Art der Personifizierung auch mit anderen Körperteilen „ins Gespräch“ kommen (z. B. mit ihren Brüsten) und sich dabei zuhören lassen, um dem Gesagten und Gehörten mehr Bedeutung zu geben. In der sogenannten Teilearbeit (Peichel 2010, 2012) werden Persönlichkeitsanteile in Dialog gebracht, z. B. diejenigen, die das sexuelle Erleben behindern, mit deren Gegenspielerinnen, die sich nach etwas sehnen. Auch hier dient die Verbalisierung der stärkeren Bewusstwerdung, Akzeptanz oder als Ausgangspunkt für gezielte Veränderung. Der Austausch in der gesamten Gruppe hilft, Erkenntnisse und Erfahrungen zu klären und zu integrieren. Sehen und Gesehenwerden, Zeigen und Schauen-Dürfen Nach der sensorischen Wahrnehmung des eigenen Körpers durch Erspüren von innen mittels Bewegung und Aufmerksamkeitsfokussierung oder durch Selbstberührung und Erkundung der Brüste und des Genitals kann die gezielt angeleitete Selbstbetrachtung z. B. auch der Vagina mit einem Spekulum ein weiterer Schritt zur Aneignung und hin zum Bewohnen des sexuellen Körpers sein. Sich (nackt) den anderen Frauen zu zeigen, aber auch andere (unverhüllte) Frauenkörper ausdrücklich sehen zu dürfen, stellt in der Gruppe eine nächste Herausforderung, aber auch eine große Chance dar, die eigene Einzigartigkeit jenseits von Normen (oder in der Auseinandersetzung mit Normen) innerhalb der Vielfalt der Formen zu erleben und anzunehmen sowie Bewertungen und Scham abzubauen. Im Atemwitnessing eröffnen sich weitere Möglichkeiten des Zeigens und Sehens: Es findet mit einer Partnerin statt, die die Übung bezeugt. Die Zeugin wird von der Atmenden selbst an einem ihr genehmen Platz positioniert und hat die Aufgabe, mit möglichst wohlwollender und ungeteilter Aufmerksamkeit das Gegenüber zu begleiten, ohne auf das Gesehene zu reagieren oder es zu kommentieren. Zugleich ist sie aufgefordert, auch ihr eigenes inneres Erleben wertfrei zu beobach- Vom Verdruss zum Genuss 4 | 2017 179 ten, aber nichts auszuagieren. Die Übung ist entweder darauf angelegt, ein spezifisches Atemmuster zu erproben, oder aber ganz frei eigenen Impulsen unter Zuhilfenahme von Stimme, Bewegung und Selbstberührung zu folgen. So lässt sich spielerisch erkunden, wie im Körper mehr Raum für die Atemenergie geschaffen werden kann, wie sich Lebendigkeit, Erregung und aufkommende Emotionen ausdrücken und verkörpern lassen und wie über das Wechselspiel des Zulassens von Körperimpulsen einerseits und des interessegeleiteten Forschens andererseits eine spannende Kommunikation zwischen Körper und Geist entstehen kann, ohne dass es ein Richtig oder Falsch gäbe. Weiteres Lernen geschieht dadurch, dass die Praktizierende übt, unter den Augen der Zeugin ganz bei sich zu bleiben und den Fokus auf der inneren Wahrnehmung zu halten. Die Zeugin fungiert wie ein „doppeltes Bewusstsein“, das die Atmende noch stärker gewahr werden lässt, was sie tut und wie sie sich fühlt. Mit Reaktionen wie Scham, Unsicherheit oder Beklemmung konfrontiert, hilft das Fokussieren auf die Atmung und das körperliche Sein, aufkommende Gedanken und Emotionen zwar wahrzunehmen, aber zunehmend in den eigenen Ausdruck zu integrieren, zu entkräften und fortwährend bei sich zu bleiben. Das Bezeugen alleine des Atemimpulses kann eine äußerst intensive Intimität erzeugen, die herausfordernd, aber auch unterstützend im Sinne von Bestärkung, Erlaubnis oder Schutz zugleich wirkt. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zeugin für das eigene Sein in dem entstehenden Raum nicht-kommentierender Verbundenheit ermöglicht eine so intensive Erfahrung, wie sie sonst im Alltag und in der Partnerschaft kaum erlebbar ist. Die Fähigkeit bei dieser Übung, bei sich zu bleiben und wirklich den eigenen Impulsen zu folgen, ohne in eine Darstellung oder Performance zu gehen, weil man gefallen bzw. nicht langweilen will, entspricht den Herausforderungen beim täglichen Streben nach Authentizität im Beziehungswie Gesellschaftsgefüge. Dabei die eigenen vermeintlichen Unzulänglichkeiten wie Performance-Druck, Unsicherheit oder eigene Langeweile mit sich selbst auszuhalten und diese als eigene Affekte zu erkennen, die mit dem Gegenüber erst einmal nichts zu tun haben, ist erkenntnisreich wie versöhnend. Mit zunehmender Fähigkeit, sich den eigenen Widerständen aktiv zu stellen, Emotionen zuzulassen und sich darin zu zeigen und in den kreativen und selbstbestimmten Ausdruck zu gehen, wie auch immer dieser gerade aussehen mag, wird die Übung zum vertiefenden „Gespräch“ mit sich selbst und zu einer verkörperten Meditation. Im gemeinsamen Nachgespräch über das jeweilige Erleben reflektieren die Frauen, dass meist auf beiden Seiten alte Glaubenssätze und emotionale Reaktionen aktiviert wurden. Im Teilen der aktuellen Erfahrungen und der bekannten Muster werden die eigenen Reaktionen und Unzulänglichkeiten relativiert. Die Zeuginnen ihrerseits berichten oftmals von einer berührenden Nähe und Demut darüber, solch eine intime Offenbarung begleiten zu dürfen. Die Schönheit liegt nun nicht mehr in der Perfektion, sondern in der Authentizität und Verbundenheit. Achtsames Berühren und Berührt-Werden-- Grenzen wahren und erweitern Die Erkundung zunächst der eigenen Genitalien ist ein wichtiger Schritt, sich mit der eigenen Körperlichkeit und Anatomie vertraut zu machen und die Hemmungen vor dem eigenen Geschlecht zu überwinden. Sogar sexuell aktive Frauen haben mitunter ihre Genitalien noch nie selbst berührt. Selbstberührung und Berührt-Werden fördern jedoch entscheidend die Repräsentation der entsprechenden Körperstellen im Bewusstsein sowie die liebe- oder gar lustvolle Selbstannahme. 180 4 | 2017 Bertschi, Scholl Die Frauengruppe bietet wertvolle Möglichkeiten für neue-- auch genitale-- Berührungserfahrungen. Dabei erweist sich die achtsame gegenseitige Berührung der Teilnehmerinnen „auf gleicher Augenhöhe“ als besonders tiefgreifend und lehrreich, wobei sowohl die Spürals auch Kommunikationsebene gefördert werden. Gerade bei den Übungen mit Selbst- und Fremdberührung ist es unerlässlich, die Selbstbestimmtheit im Erleben der Teilnehmerinnen zu betonen und entsprechende Fähigkeiten zu üben. Wie kreiere ich mir einen Raum, in dem ich mich mit mir, meiner Partnerin oder auch der Gruppe sicher fühle? Wie kann ich mich hier eventuell selbst regulieren, welche Form der Kommunikation braucht es, wie möchte ich in welchen Kontakt, in welche Berührung gehen? Dieses sowohl fördernde, als auch fordernde Setting unterstützt die Teilnehmerinnen darin, sich im sicheren und teils vorgegebenen Rahmen einen Raum zu erschaffen, der ihre Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Schutz berücksichtigt- - was eine ganz individuelle und situativ variierende Frage ist. Auf dieser Basis können sich die Frauen Herausforderungen stellen, potenziell ihre Grenzen erweitern und alte schmerzhafte Erfahrungen positiv und selbstbestimmt überschreiben. Dazu ist gleichzeitig notwendig, Vertrauen zuzulassen und aufzubauen, aber auch sich der eigenen Abgrenzungs- und Kontrollfähigkeit bewusst zu werden und diese zu nutzen. Die Teilnehmerinnen lernen, zunehmend weniger aus gelernten Glaubenssätzen, Verhaltensmustern und Überlebensstrategien die Befriedigung ihrer (vermeintlichen) Wünsche einzufordern. Stattdessen üben sie, aus dem aktuellen Spürsinn heraus für ihre Bedürfnisse einzustehen und darüber in Dialog zu treten, um einen gemeinsamen Konsens zu finden (Martin 2017). So ist die Basis für das gemeinsame Forschen ein Rahmen, der die eigenen Wünsche würdigt, ohne sich zielorientiert darauf zu fixieren. Stattdessen sind die Teilnehmerinnen dazu eingeladen, Impulse immer wieder neu wahrzunehmen und diesen zu folgen. Zugleich können sie Unsicherheiten, Ängste oder andere Schwierigkeiten spüren, damit in vorsichtigen Kontakt gehen oder mit neuen Fähigkeiten und Empfindungen darüber hinauswachsen. Das körperliche und emotionale Erleben von Sexualität basiert auf der Ebene des vegetativen Nervensystems auf dem flexiblen Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus. Die Aktivierung des Sympathikus ermöglicht die Steigerung sexueller Erregung in Richtung Orgasmus. Zugleich kann ein (chronisch) hohes Spannungsniveau im Körper einen Stress- und Angstzustand bedingen, der die genitale Erregungsreaktion behindert (hohe Muskelspannung, Mangeldurchblutung, mangelnde Lubrikation, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr). Die Aktivierung des Parasympathikus führt zu körperlicher Entspannung, die z. B. das Auffüllen der genitalen Blutgefäße und die Bildung des Gleitfilms in der Vagina unterstützt und genussvolle Empfindungen jenseits von Orgasmusorientiertheit ermöglicht. Ein Übergewicht der parasympathischen Erregung kann zu Erschlaffung und fehlendem Lustempfinden führen. Deshalb zielen viele unserer Übungen auf die Schulung der Fähigkeit ab, zwischen den Polen Aktivierung und Entspannung selbstbestimmt pendeln und eine lustvolle Erregung ohne Stress erleben zu können. Wesentlich ist bei allen Berührungserfahrungen, präsent zu bleiben statt in Dissoziationsmuster zu verfallen. Die achtsame Kommunikation mit dem Gegenüber, begleitet und konkret angeleitet durch die Workshopleitung, kann helfen, dissoziatives Verhalten wahrzunehmen und in angemessenen, oft kleinen Schritten konkretes Spüren(-wollen) zu erlernen. Die von Tomas Hanna beschriebene „sensomotorische Amnesie“ (Hanna 2004) wird mit ihren Auswirkungen speziell im Becken und Genitalbereich auch von David Wise und Rodney Anderson in ihrem Buch „Kopfschmer- Vom Verdruss zum Genuss 4 | 2017 181 zen im Becken“ (Wise / Anderson 2015) ausgeführt. Um die „genitale Taubheit“ aufzulösen und wieder Spürbewusstsein zu erlangen oder Hypersensibilität zu mindern, nutzen wir achtsame und explorative Berührungen durch eine Partnerin. Bei Vermeidungsverhalten in Bezug auf den eigenen oder fremden Körper wird so überhaupt wieder Kontakt oder auch die Möglichkeit von Begegnung hergestellt. Angst, Scham, Ekel oder Lustlosigkeit bezüglich des eigenen Körpers spiegeln sich oftmals im Umgang mit anderen Körpern. Die gemeinsame Arbeit in der gegenseitigen Berührung fördert die Bewusstwerdung körperfeindlicher Überzeugungen und Gefühle, aber auch die Versöhnung mit dem eigenen und dem fremden Körper. Die Partnerin kann das Erleben der aktiv Empfangenden spiegeln und sie immer wieder auffordern, dieses ins Bewusstsein zu bringen und mit Worten zu beschreiben. Bei diesen emotionalen Prozessen unterstützt die Gebende ihr Gegenüber darin, im Spüren und im Kontakt zu bleiben. Bei den Berührungsübungen wird die Gruppe immer von zwei Leiterinnen und oft weiteren Assistentinnen begleitet. Die Therapeutin nimmt dabei eine eher mütterliche Position ein, in der sie aus einer gewissen räumlichen Distanz zu den Teilnehmerinnen heraus den Rahmen hält sowie grundsätzlich Erlaubnis und Ermutigung signalisiert. Die Sexological Bodyworkerin steht für Fragen und konkrete Hilfestellungen für die Übenden bereit. Deren spezialisierte Ausbildung und umfassende praktische Erfahrung ist Voraussetzung für diese sensible Arbeit am Körper zum Thema Sexualität. Folgende genitale Berührungsübungen schlagen wir den Teilnehmerinnen vor: Genitalmeditation: Hier werden in großer Langsamkeit und Achtsamkeit die Genitalien berührt. Zum Ankommen und Entspannen sowohl der Gebenden als auch der Empfangenden werden nach Wunsch der empfangenden Person zum Beispiel langsam die Brüste oder der Bauch mit Massageöl kreisend massiert. Anschließend wird mit einer sacht aufgelegten Handinnenfläche das Schambein oder die gesamte Vulva umschlossen. Alleine diese Berührung kann über die gesamte Dauer beibehalten oder zu ihr zurückgekehrt werden, wenn die Empfangende dies wünscht; geht es doch bei dieser Übung in erster Linie um Präsenz auf beiden Seiten. Diese Berührung vermittelt in der Regel ein Gefühl von Gehalten-Sein, Schutz und Geborgenheit. Während einer Dauer von jeweils 5 bis 15 Minuten wird schließlich eine Auswahl von 1 bis 3 präzisen Berührungsabfolgen an der Vulva ausgeführt, die das gesamte äußere Schwellgewebe aktivieren und sensibilisieren. Die Aufgabe der Gebenden liegt darin, während der gesamten Dauer ohne Beurteilung und Absicht, in gleichbleibender Langsamkeit, ganz präsent und zugleich in sich ruhend zu sein. Die Empfangende lernt, sich voll auf die Berührung und die aufkommenden Gefühle zu konzentrieren, diese aber auch wieder passieren zu lassen. Erregung kann entstehen und abebben, Freude, Langeweile, Frustration, Angst, Traurigkeit entstehen und vergehen. Dabei bleiben die Partnerinnen immer im Kontakt, falls sich die Berührung nicht stimmig anfühlt oder darüber, wie diese verbessert werden kann. Die außerordentliche Langsamkeit der Berührung ermöglicht ein sehr detailliertes Spüren des Gewebes, so dass selbst feinste Unterschiede in den Empfindungen wahrgenommen und sich unangenehme Symptome wie Übersensibilisierung, Taubheit, Schmerzen oder emotionale Blockaden verändern können. Auch sonstige Spannungsmuster im Körper, die in der Berührung oder bei aufkommender Erregung entstehen, können bewusst und losgelassen werden. Die empfangende Person übt, absichtslos körperliche und energetische Sensationen und die damit verbundenen Gefühle zu beobachten. Sie lernt, Aktivierung bzw. Erregung im Körper durch gelenkte Aufmerksamkeit und Atmung wahrzunehmen und durch den Körper zu lenken und somit auch zu regulieren und zu integrieren. 182 4 | 2017 Bertschi, Scholl Genitalmapping: Der gesamte Körper oder die Genitalien (innerlich / äußerlich) werden punktuell durch eine Partnerin ertastet. Bewusstes Spüren verbunden mit bewusster Atmung wechseln sich ab mit einem verbalen Austausch mit der Begleiterin über das emotionale Erleben und die Wahrnehmung von Körpersensationen. Das Körperforschen wird von der empfangenden Person selbstbestimmt angeleitet. Durch Berührung und Erforschung insbesondere ihres inneren Raums außerhalb gewohnter Penetration ermöglicht das Genitalmapping Frauen, eine „Landkarte“ ihrer Vulva und Vagina zu erstellen. Dies fördert das „Bewohnen“ des Genitals, speziell des Innenraums und die Verbindung mit dem weiblichen Körper und der eigenen Sexualität. Das bewusste Hineinspüren in bisher nicht oder als unangenehm wahrgenommene Körperbereiche, mitunter in Narbengewebe oder in stark angespannte Zonen, aktiviert diese Stellen, macht sie lebendig und deutlicher spürbar. Dadurch können emotionale Prozesse angestoßen und bisher abgewehrte Emotionen integriert werden. Es entsteht eine immer breitere Basis für ein gutes Körpergefühl und selbstverständliches sexuelles Erleben. Neben der Gruppenarbeit haben die Frauen grundsätzlich die Möglichkeit, in Einzelsitzungen individuelle Fragen und ihre Erfahrungen in der Gruppe zu besprechen bzw. gezielt Anleitungen für das Üben allein oder mit der / m PartnerIn zu erhalten. Daneben nutzen einige Frauen das Angebot zu Einzelsitzungen bei Sexological Bodyworkerinnen für die körperorientierte Arbeit an der Erweiterung ihrer sexuellen Erlebnisfähigkeit. Mit der hier dargestellten herausfordernden Arbeit an der Scham- und Tabugrenze bieten wir den Teilnehmerinnen einen Lern- und Heilraum, der neue körperbasierte Erfahrungen ermöglicht, die positiv und bewusst gelebte Sexualität fördern sowie Genuss und Freude am puren körperlichen Dasein bestärken. Mit dem Angebot zum gemeinsamen Forschen und Neulernen wirken wir dem einseitig leistungsorientierten Fokus auf Symptombeseitigung und Selbstoptimierung entgegen. Gleichzeitig sehen wir unsere Arbeit als gesellschaftspolitischen Beitrag zum Abbau von einengenden Scham und Schuld erzeugenden familiären wie gesellschaftlichen Normen und Werten sowie veralteter und diskriminierender Rollenmuster und Geschlechtsbilder. Literatur Hanna, T. (2004): Somatics: reawakening the mind’s control of movement, flexibility, and health. 2. Aufl. Da Capo Press, Cambridge Heller, L., Lapierre, A. (2013): NARM. Entwicklungstrauma heilen. 2. Aufl. Kösel, München Martin, B. (2017): Website. In: www.bettymartin.org, 27.4.2017 Méritt, L. (2015): Freudenfluss. Die weibliche Ejakulation. IPSA, Berlin Peichel, J. (2012): Hypno-analytische Teilearbeit. Klett- Cotta, Stuttgart Peichel, J. (2010): Jedes Ich ist viele Teile. Kösel, München Piontek, M. D. (2002): Das TAO der weiblichen Sexualität. 2. Aufl. Heyne, München Powels, S. P. (Hrsg.) (2017): Deutsche Anleitung für 2 Herz Chakra Meditationen von Karunesh. 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National Centre for Pelvic Pain Research, Occidental Die AutorInnen Annette Bertschi Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin. Langjährige Tätigkeit als Körper- und Sexualtherapeutin (Core energetic, Sexocorporel) sowie Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis, Dozentin und Supervisorin an der Berliner Fortbildungsakademie für Psychotherapie. Sie bietet seit 13 Jahren sexualtherapeutische Gruppenarbeit mit Frauen an. ✉ Annette Bertschi Brunnenstr. 181, 3. Hof | 10119 Berlin Tel. 030-2804 99933 annette.bertschi@gmail.com, www.kpt-mitte.de Mareen Scholl Körperorientierte Sexualberaterin, Sexological Bodyworkerin. Gründerin von Genital Meditation Berlin und Ausbilderin im Leitungsteam des Berliner Sexological Bodywork Professional Training International. Schwerpunkte sind die Arbeit mit Frauengruppen, die Verbindung von Sexological Bodywork und Lehren bewusster Sexualität aus dem TAO und Tantra und die Vermittlung körperbasierter Sexualedukation an ein breites Publikum. ✉ Mareen Scholl Tel. 0176-10 320 742 post@enter-space.net www.enter-space.net