körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Rezension: Angela Nicotra: Im Kontakt mit der Realität. Tango und Tanztherapie DMT. Gespräche mit Rodolfo Dinzel
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2017
Eberhard Windaus
Angela Nicotra: Im Kontakt mit der Realität. Tango und Tanztherapie DMT. Gespräche mit Rodolfo Dinzel Logos Verlag, 2015, Berlin, 228 Seiten, 35,00 € (D)
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188 4 | 2017 Medien & Materialien Angela Nicotra: Im Kontakt mit der Realität. Tango und Tanztherapie DMT. Gespräche mit Rodolfo Dinzel Logos Verlag, 2015, Berlin, 228 Seiten, 35,00 € (D) I n dieser umfangreichen Monographie wird Tanz- und Bewegungstherapie (Dance Movement Therapy, abgekürzt: DMT) als „eine Methode der Psychotherapie auf psychodynamischer Basis“ vorgestellt, die die psychophysische Entwicklung der frühsten Kindheit mit einbezieht. Dies vor allem deshalb, weil die Autorin viele Kommunikationsstörungen, Körperblockaden und Selbstwahrnehmungsdefizite in Fehlentwicklungen oder Traumatisierungen der frühen Kindheit verankert sieht. Dabei stützt sich die Autorin besonders auf ihre mehrjährigen Gespräche und Tanzerfahrungen, die sie in dessen „Estudio“ mit Rodolfo Dinzel in Buenos Aires machen konnte. Das Buch spannt einen großen Bogen, der über die psychodynamische Intention doch weit hinausgeht. In einer kurzen Einleitung wird als besonderes Spezifikum des Tango darauf hingewiesen, dass Verbindung, Umarmung und Halten ihn auszeichnen. Darin sieht der Psychoanalytiker einen eher ungewollten Hinweis auf den englischen Kinderanalytiker D. W. Winnicott, der „holding behavior“, „holding function“ und „containment“ als Basis einer jeden Mutter-Kind-Beziehung bezeichnete. Umarmung, Halten und körperliche Nähe als Elemente des Tangos haben insofern in der Tat unweigerlich eine psychophysische Nähe zu Affekten der frühen Kindheit. Im zweiten Kapitel werden Entwicklungsmodelle der Bewegungsanalyse der psychophysischen Entwicklung von Neugeborenen von Irmgard Bartenieff, einer Schülerin von Rudolf von Laban, herangezogen, um daran orientiert Bewegungsmuster zu verdeutlichen, die ihr zufolge einem evolutionären Schema entsprechen. Diese Bewegungsmuster werden mit sechs verschiedenen, immer komplexer werdenden Organismen (von der Amöbe über Delphin, Eidechse, Seestern, Frosch bis zur Katze) metaphorisch umschrieben. So wird am Beispiel des Organismus einer Amöbe ein erstes Entwicklungsstadium beschrieben, zu dem große Empfangsbereitschaft, Flexibilität und Wahrnehmungsfähigkeit gehören. Auch wird das Stadium der Amöbe als Zustand des Einssein mit einem anderen, als symbiotischer Moment des Verschmelzens z. B. mit dem Tanzpartner verstanden, den „nur erreichen kann, wer eine lange Praxis und große Erfahrung im Tanz hat“ (S. 29). Anders ausgedrückt: Gelungene Symbiose steht beim Tanzen nicht am Anfang wie in der frühen Mutter-Kind-Beziehung. Sie ist das Resultat von Übung, Reifung und Erfahrung. Insofern passt der Zustand des Einsseins im Tango weniger zur frühen Mutter-Kind-Beziehung, sondern eher zum späten Glück einer gereiften Liebeserfahrung. Weil diese sechs evolutionär vorgegebenen Bewegungsmuster beim Tango zum Einsatz kommen, erkläre dies „die extrem große Befriedigung, die sein Ausüben hervorruft. Der Tango lässt uns innerhalb von drei Minuten den Bogen schlagen zwischen dem Spiel des Kindes und dem Erwachsenwerden“ (S. 47). Aber leider kommt die Emotionalität bei diesem eher physiologisch orientierten Modell doch weitgehend zu kurz. So hofft man im nächsten Kapitel mehr darüber zu erfahren, zumal nun psychoanalytische Entwicklungsmodelle zur Beschreibung von Spannungsflussrhythmen herangezogen werden. Die Autorin bezieht sich dabei auf von der Kinderanalytikerin Judith Kestenberg beschriebene „Movement Profiles“, die sich im Wesentlichen an der psychoanalytischen Triebtheorie orientieren. Die Triebtheorie beschreibt aber vorwiegend Lustaspekte und weniger Emotionen. Medien & Materialien 4 | 2017 189 Laut Rodolfo Dinzel ist der Tango ein gutes Beispiel dafür, wie durch Tangotanzen der aggressive Messerkampf zwischen den Männern in Buenos Aires in seiner Entstehungszeit überwunden werden konnte. In sublimierter Form lebt Aggressivität in der tänzerischen Konkurrenz um die Frauen aber weiterhin fort. Aggressivität ist aber kein Merkmal des Tango. Im vierten Kapitel werden Bewegungsanalysen nach den Kategorien von Rudolf von Laban vorgenommen, die sich in die Kategorien Raum, Kinesphäre, Dimensionen, Antriebe und Fläche unterteilen. Nach diesen Gesichtspunkten gliederte der Begründer des modernen Ausdruckstanzes sein Notationssystem für eine Bewegungseinheit. Die Autorin macht bei der Vorstellung des Konzepts aber gleich auf einen fundamentalen Unterschied aufmerksam. Bei von Laban ist das Objekt der Bewegungsanalyse das Individuum, im Tango ist es das Paar. Kann ein grundsätzlich anders fokussiertes System für die Analyse des Tangos hilfreich sein? So fungieren die von Laban’schen Kategorien auch eher als Stichwortgeber für die Assoziationen der Autorin oder Dinzels Ausführungen zu diesen Kategorien. Dabei bleiben Emotionalität und der innere Raum des Tänzers aber auf der Strecke, was die Autorin selber kritisch anmerkt: „ … wir wollen nicht vergessen, dass der Tango (…) ein Raum der Sehnsucht ist“ (S. 88). Es verwundert, dass Musikalität und Emotionalität in einem Buch über Tango und Tanztherapie insgesamt doch recht wenig Raum gegeben wird. Das Buch hat zwei Adressaten: den Tanztherapeuten, der Tango und Tanztherapie als ein Hilfsmittel verwenden möchte, um Blockaden zu lösen, psychische Rehabilitation zu ermöglichen oder chronifizierte postpartale Depressionen zu behandeln. Dazu finden sich in den Kapiteln „Der therapeutische Effekt des Tango“ und „DMT und Tango“ auch zahlreiche Überlegungen und therapeutische Fallbeispiele. Eine überzeugende kulturhistorische Antwort ist, dass der Tango bereits in seiner Entstehungsphase eine heilende Wirkung hatte. Denn er war ein Heilmittel gegenüber dem Heimat- und Identitätsverlust, den die Auswanderer aus Europa erlitten hatten, und individuell war er ein Weg, den erlittenen Schmerz in der Umarmung mit einem anderen bei Tanz und Musik lindern zu können. Der zweite Adressat ist der reflektierende und an vertieftem Verstehen interessierte Tangotänzer. Für ihn hält das Buch eine ganze Menge an „Einsichten“ bereit. Die Hauptbotschaft- - vor allem immer wieder mit Dinzels Statements unterlegt-- ist, dass Tango ein kreativer Tanz zu zweit ist, ausgeübt in einem Gruppenkontext. Die Umarmung hält Dinzel für das den Tango konstituierende Element: „Der Raum der Umarmung ist ein komplett geteilter Raum, der normalerweise seine Funktion einbüßt, wenn einer der beiden Tänzer ihn verlässt. (…) es ist dann kein Tango mehr“ (S. 87). Das Halten der Verbindung ist Dinzel dabei das Wichtigste. Tango kann insofern ein modernes Orakel sein, bei dem man weder nach Delphi noch nach Buenos Aires pilgern muss, um sich selbst zu erkennen. Im Tango könne man sich nicht verstecken, und es offenbaren sich private Seiten, die davor unbewusst gewesen seien, lautet eine Quintessenz der Autorin. Kaum nimmt der Text Bezug auf das für den Tango wie für jeden anderen Tanz so wichtige Spiel der Geschlechter. Auf lediglich einer Seite wird die Erotik des Tangos verhandelt: „Vereinfacht ausgedrückt ist die erotische Komponente des Tangos keine andere als die, die es uns ermöglicht hat, uns als Neugeborene mit unseren Eltern zu verbinden.“ (S. 197) In der Tat ist das sehr vereinfacht und löst das Spezifische der Erotik Erwachsener in primären Bindungsaffekten auf, denen normalerweise keine erwachsene Erotik beigemischt ist. Es verbinden sich mit dem weichen Körper der Mutter und dem härteren des Vaters wohl eher primäre Erfahrungen von Körperlichkeit als von Erotik, die bei der tänzerischen Umarmung aktiviert werden dürften. Zum Tango hat auch immer die Markierung der Geschlechterdifferenz mittels Kleidung gehört. Die Erotik der Kleidung richtet sich mit ihren verführerischen oder beeindrucken wollenden 190 4 | 2017 Aspekten vornehmlich an das Auge des Anderen. Aber dafür hat das Neugeborene noch keinen Blick. Eine allzu starke Erotisierung blockiert auch eher das kreativ-tänzerische Potenzial, weil ihr Ziel weniger der Tanz, sondern vielmehr die Verführung ist. Wenn Triebwünsche zu stark werden, dann beenden sie Tanz oder Spiel. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist anzumerken, dass ganz heterogene Kontexte (z. B. Platon, Hesiod, Nietzsche) angetippt werden, die zu wenig ausgearbeitet sind und somit plakativ wirken. Ein anderer Mangel ist die Zitierung der Autoren nach Sekundärliteratur. Auch weiß man bei den vielen eingeflochtenen Bemerkungen von Dinzel nicht, ob es sich um der Autorin gegenüber gemachte Mitteilungen handelt oder ob sie der aufgeführten Literatur zu Dinzel entstammen. Ärgerlich ist, dass keine Primärliteratur von Bartenieff, Kestenberg oder von Laban angegeben ist und diese nur über Sekundärliteratur zugänglich werden. Der Verdienst des Buches ist es, Tango und Tanztherapie mit unterschiedlichen Bezugssystemen in Verbindung gebracht zu haben. Auch wird gut nachvollziehbar, bei welchen Blockaden und Störungen die tanztherapeutische Verwendung von Tango hilfreich sein kann. Es bleibt am Ende die Spannung, dass Vieles unter Zuhilfenahme erklärender Begriffe verdeutlicht werden kann und zugleich die Worte nicht ausreichen. Individuum est inefabile lautete eine Erkenntnis der scholastischen Philosophie: Was ein Mensch ist, ist unsagbar, weil die Summe seiner Empfindungen, Gedanken und Erlebnisse größer ist, als mit Worten ausgedrückt werden kann. Dieser Rest des Unsagbaren haftet als emotionale Erfahrung auch dem Tango an. Dr. phil. Dipl.-Päd. Eberhard Windaus DOI 10.2378/ ktb2017.art25d Medien & Materialien
