körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2017.art24d
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2017
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Rezension: Thomas Harms / Manfred Thielen (Hrsg.): Körperpsychotherapie und Sexualität. Grundlagen, Perspektiven und Praxis
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2017
Marion Reuter
Thomas Harms / Manfred Thielen (Hrsg.): Körperpsychotherapie und Sexualität. Grundlagen, Perspektiven und Praxis Psychosozial-Verlag, 2017, Gießen, 325 Seiten, 34,90 € (D)
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186 4 | 2017 Medien & Materialien Thomas Harms / Manfred Thielen (Hrsg.): Körperpsychotherapie und Sexualität. Grundlagen, Perspektiven und Praxis Psychosozial-Verlag, 2017, Gießen, 325 Seiten, 34,90 € (D) D ie zentrale Frage des Buches ist: Welche Rolle spielt die Sexualität in der Körperpsychotherapie? Antworten darauf suchen und finden die 17 AutorInnen in der vorgelegten Aufsatzsammlung an Orten so vielfältig wie das Thema selbst, und jeder ist es wert, weiter erforscht zu werden. Dabei steht jeder Artikel für sich und kann unabhängig studiert werden. Die Herausgeber raten dazu, beim Lesen einzig seinem Herzen und seiner Lust zu folgen. Diese stellt sich schnell ein und lässt sich mühelos über die 325 Seiten aufrechterhalten. Auch bei der Auswahl der Artikel für die Rezension war folgerichtig das ganz persönliche Lust-Prinzip maßgeblich. Aber, das sei gleich vorab gesagt: ALLE Artikel in diesem Buch sind es wert, gelesen zu werden! Es geht los mit „so dick? “, dies soll aber nur die enttäuschende Reaktion Freuds gewesen sein, als Reich ihm sein Manuskript „Die Funktion des Orgasmus“ übergab. Denselben Titel trägt der Artikel von Thomas Harms, der sich wissenschaftshistorisch mit der sexualtheoretischen Debatte zwischen Freud und Reich auseinandersetzt und das Potential der Reich’schen Sexualtheorie für die heutige Körperpsychotherapie an einem Fallbeispiel skizziert. Sein Ziel ist der Aufbau einer umfassenden Hingabe-, Liebes-, und Erlebnisfähigkeit in möglichst vielen Bereichen des menschlichen Seins. Anschließend setzt sich Manfred Thielen historisch mit wichtigen Weiterentwicklungen im neoreichianischen Spektrum der Körperpsychotherapie auseinander und macht anhand einer Fallvignette seinen eigenen integrativen Ansatz deutlich. Unter Bezugnahme auf Lowen erwähnt der Autor hier erstmals die Beckenschaukel als eine der wirksamsten Übungen überhaupt. Für die Tanztherapeutin Marianne Eberhard- Kaechele und die Fachärztin Ruth Gnirss-Bormet beginnt Sexualität im Tanz zwischen Eltern und Kind, und so lautet auch die Überschrift zu ihrem Artikel, in dem entwicklungspsychologische Perspektiven in die Sexualtherapie integriert werden. Mit einer Fülle konkreter Übungsbeschreibungen (z. B. zur Zentrierung im eigenen Körper, zur Abgrenzung, zur Beziehungsregulation u. v. a.) inspirieren sie dazu, Wahrnehmungs- und Bewegungsexperimente in die Behandlung sexueller Störungen einzubeziehen. Karoline Bischof, Fachärztin für Frauenheilkunde und klinische Sexologin, stellt den in den 1980er Jahren entwickelten Ansatz Sexocorporel vor. Dabei handelt es sich um ein therapeutisches Konzept, das emotionales Erleben und Denkweisen als körperlich basierte Phänomene auffasst, die sich entsprechend durch körperliche Modifikationen beeinflussen lassen. Der Ansatz bietet sehr konkrete Hilfestellung in Bezug auf die Erregungsfähigkeit, das Lusterleben und den Bezug zum Partner. Der Körperpsychotherapeut und Paartherapeut Marc Rackelmann verbindet das Modell Wilhelm Reichs mit dem Ansatz des Paartherapeuten David Schnarch. Er macht sich dafür stark, in der Therapie das goldene Kalb der Verliebtheit zu schlachten zu Gunsten der Einsicht, dass Krisen sich nicht vermeiden, sondern nur bewältigen lassen-- Lektüre, die sich dafür eignet, die Toleranz in Liebesbeziehungen zu fördern. Der Beitrag beinhaltet gute Übungen für Paare, z. B. Umarmen bis zur Entspannung oder Augenkontakt im Liegen (beide von David Schnarch). Die Professorin Anke Abraham macht in ihrem Artikel deutlich, dass wir bei dem Begriff Sexualität noch immer ein heterosexuelles Modell vor Medien & Materialien 4 | 2017 187 Augen haben, das in der Penetration den „eigentlichen“ Höhepunkt sieht. Sie wünscht sich die Kultivierung der Vielfalt möglicher sexueller Erregungsformen und Praktiken und die Verflüssigung der starren geschlechterbezogenen Grenzen. Die beiden Trauma- und Körperpsychotherapeutinnen Anna Willach-Holzapfel und Monika Dressler-Bellmund machen in ihrem Artikel „Der Körper- - Feind und Ressource“ anhand von Falldarstellungen die Bedeutung der Körperwahrnehmung für die Bearbeitung von Traumata nach sexueller Gewalt deutlich. Sie zeigen praxisnah auf, wie es gelingen kann, die inneren Empfindungen zu ertragen, sich mit dem eigenen Körper wieder anzufreunden und allmählich neue Handlungsmuster zu entwickeln. Julia Sparmann, Sexualwissenschaftlerin und Sexualberaterin nach Sexocorporel, schließt mit ihrem Beitrag über körperorientierte sexuelle Bildung für Frauen nicht nur die thematische Lücke zwischen Pädagogik und Psychotherapie, sondern erklärt auch nachvollziehbar die Bewegung „doppelte Schaukel“, eine Übung aus dem Sexocorporel, die wegen ihrer hohen Wirksamkeit in mehreren Artikeln erwähnt wird. In dem Artikel der Erziehungswissenschaftlerin und Körperpsychotherapeutin Sophia Schmilinsky verarbeitet sie die Erkenntnisse aus ihrer Masterarbeit zum Thema Nacktheit und Körperpsychotherapie. Mit leichter Hand greift sie hier ein sonst randständiges Tabuthema auf und verschafft ihm damit einen Platz im Diskurs. Sie zählt Gewinne und Risiken auf, die die Nacktheit in der Therapiesituation bringt. Im Fazit schlägt sie vor, die Körpertherapie zu nutzen, um einen anderen Umgang mit dem nackten Körper zu inspirieren, anstatt die Nacktheit der medialen Wertung zu überlassen. Dabei sieht sie klar, dass die Voraussetzung für dieses Unterfangen wohl wäre, sich bereits in körperpsychotherapeutischen Ausbildungssettings dem Nacktsein zu stellen. Den abschließenden Beitrag liefert die Diplom- Psychologin Gabriele Martin zum Thema Sexualität im Alter und Funktionelle Entspannung (FE). Wieder begegnen dem Leser die Übungen „Umarmung bis zur Entspannung“ und „doppelte Schaukel“. Letztere nutzt Frau Martin allerdings, um deutlich zu machen, dass der Unterschied zwischen FE und Sexocorporel im Finden des Eigenen und der normierten Bewegung besteht. Ihr Artikel macht klar, dass sich nur, wer sich in seiner Haut wohl fühlt, auf lebendige Sexualität einlassen kann. Ihr leidenschaftliches Plädoyer für die Selbstbefriedigung (mit und ohne Partner), die den Alterssex entspannt und das Selbstwertgefühl der Einzelnen verbessert, ist dazu geeignet, jede / n dazu anzufeuern, den lebenslangen lustvollen Umgang mit sich selbst zu kultivieren. Mein Fazit: Das Buch ist für Körpertherapeuten unverzichtbar und für jene, die einen Leib haben oder einer sind, von großem Gewinn. Und selbst wenn man noch andere finden könnte, wären sie spätestens dann dafür zu begeistern, wenn sie mal die Sache mit der doppelten Schaukel ausprobiert hätten … Marion Reuter DOI 10.2378/ ktb2017.art24d
