körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2017.art26d
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Aktuelles aus der Forschung: Tanztherapie und Psychomotoriktherapie bei Essstörung sowie nicht-zielgerichtete Bewegungen als aktive Faktoren in der Tanz-, Bewegungstherapie
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Iris Bräuninger
I n diesem Beitrag werden zwei RCTs zum Thema Essstörung vorgestellt. Die Studie von Allet und KollegInnen (2017) untersuchte die Wirkung der Tanztherapie kombiniert mit Patientenedukation auf die Lebensqualität von übergewichtigen Menschen. Der zweite RCT überprüfte die Auswirkung von Psychomotoriktherapie auf Aggressionen bei Patientinnen mit Essstörungen. Ein weiteres Thema widmet sich aktiven Faktoren in der Tanz-, Bewegungstherapie, nämlich den nicht-zielgerichteten Bewegungen (Wiedenhofer et al. 2016; Wiedenhofer / Koch 2017).
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191 körper-- tanz-- bewegung 5. Jg., S. 191-193 (2017) DOI 10.2378 / ktb2017.art26d © Ernst Reinhardt Verlag Aktuelles aus der Forschung I n diesem Beitrag werden zwei RCTs zum Thema Essstörung vorgestellt. Die Studie von Allet und KollegInnen (2017) untersuchte die Wirkung der Tanztherapie kombiniert mit Patientenedukation auf die Lebensqualität von übergewichtigen Menschen. Der zweite RCT überprüfte die Auswirkung von Psychomotoriktherapie auf Aggressionen bei Patientinnen mit Essstörungen. Ein weiteres Thema widmet sich aktiven Faktoren in der Tanz-, Bewegungstherapie, nämlich den nicht-zielgerichteten Bewegungen (Wiedenhofer et al. 2016; Wiedenhofer / Koch 2017). Tanztherapie und Psychomotoriktherapie bei Essstörung Die Machbarkeitsstudie von Allet und KollegInnen (2017), eine einfach verblindete, quasi randomisierte kontrollierte Studie, untersuchte die Wirkung einer 16-stündigen Gruppen-Tanztherapie kombiniert mit Patientenedukation auf die Lebensqualität, die Funktionsfähigkeit (untere Gliedmaßenleistung und Ausdauer) und die körperliche Aktivität bei übergewichtigen Menschen. Die notwendige Effektstärken-Kalkulation vor Beginn der Behandlung ergab 30 PatientInnen pro Gruppe. Die 77 größtenteils weiblichen PatientInnen wurden über Computer-Randomisierung zugeordnet, die Gruppen waren vor Beginn der Behandlung vergleichbar. Alle PatientInnen, die an der Studie teilnahmen, wurden aufgeführt und dokumentiert. Die Teilnehmenden wurden vor und nach der Studie mit standardisierten Fragebogentests bzw. mit objektiven Funktions- und Aktivitätentests untersucht, die Daten wurden vom Untersucher blindiert ausgewertet (der Untersucher wusste die Behandlungszuordnung nicht). In die Analyse gingen vor der Behandlung die Daten von 33 ProbandInnen aus der Interventionsgruppe und 34 aus der Kontrollgruppe und nach der Behandlung 26 aus der Interventionsgruppe und 28 aus der Kontrollgruppe ein. Die Lebensqualität verbesserte sich im Post- Test in der Tanztherapie-Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant (p = 0.023), insbesondere der Selbstwert (p = 0.014). Weder in der Tanztherapiegruppe noch in der Kontrollgruppe zeigte sich im Post-Test nach 16 Wochen eine Verbesserung des Funktions- und Aktivitätsniveaus. Die RCT von Boerhout und Kolleginnen (2017) evaluierte den Effekt einer sechswöchigen körper-, bewegungsorientierten Intervention mit Psychomotoriktherapie (eine Stunde pro Woche) und TAU (Treatment as usual) auf die Aggressionsregulierung bei PatientInnen mit Essstörung. Die notwendige Effektstärken-Kalkulation vor Beginn der Behandlung ergab 34 PatientInnen pro Gruppe. Auch in dieser Studie waren die Teilnehmenden größtenteils weiblich. Einbezogen wurden DMS-5-diagnostizierte PatientInnen mit Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa oder nicht anders klassifizierter Essstörung. Die Randomisierung wurde von einer unabhängigen Person durchgeführt. Die Interventionsgruppen und die Kontrollgruppe (nur TAU) waren vor Beginn der Behandlung vergleichbar. Alle PatientInnen, die an der Studie teilnahmen, wurden aufgeführt und dokumentiert. In der Vor- und Nachuntersuchung wurden mit standardisierten Testinstrumenten die Ärger-Bewältigung (Selbst- Expression und Kontrollskala: zwei der vier Subskalen wurden verwendet, nämlich Anger In / anger internalization, Anger Out/ anger externalization) und die Ess-Pathologie (Fragebogen Eating Disorder Examination-Self-Report) erhoben. Die Unterschiede zwischen den Scores der Vor- und Nachuntersuchung wurden mit Messwiederholung Tanztherapie und Psychomotoriktherapie bei Essstörung sowie nicht-zielgerichtete Bewegungen als aktive Faktoren in der Tanz-, Bewegungstherapie Iris Bräuninger 192 4 | 2017 Iris Bräuninger (ANOVA) getestet. In die Analyse gingen vor der Behandlung die Daten von 38 ProbandInnen aus der Bewegungsintervention und 32 aus der Kontrollgruppe und nach der Behandlung 35 aus der Bewegungsintervention und 30 aus der Kontrollgruppe ein. In Bezug auf die Ärger-Bewältigung zeigte der Prä- / Post-Test-Vergleich beim Subtest „Anger In“ bezüglich dem „Zeit x Gruppen“-Effekt eine signifikante Verbesserung (F (1, 63) = 12.27, p = 0.001) mit großer Effektstärke (η2 = 0.16) in der Psychomotorik-Therapieintervention im Vergleich zur Kontrollgruppe. Beim Subtest „Anger Out“ konnte keine signifikante Verbesserung zwischen der Intervention und der Kontrollgruppe nachgewiesen werden. Die signifikante Reduktion der Pathologie zeigte sich in beiden Gruppen im Prä- / Post-Test- Vergleich (within groups), jedoch war der Unterschied zwischen den Gruppen nicht signifikant (between groups). Nicht-zielgerichtete Bewegungen als aktive Faktoren in der Tanz-, Bewegungstherapie Zwei kontrollierte Interventionsstudien untersuchten aktive Faktoren in der Tanz-, Bewegungstherapie, nämlich nicht-zielorientierte Bewegungen (Wiedenhofer et al. 2016; Wiedenhofer / Koch 2017) auf der Basis, dass die Nicht-Zielorientierung in Bewegung als therapeutischer Faktor für die Tanz-, Bewegungstherapie angenommen wird (Wiedenhofer / Koch 2017). Die Hypothese in beiden Studien war, dass eine nicht-zielorientierte Tanzimprovisation einer zielorientierten Bewegung bzw. zielorientierten Tanzimprovisation bei der Verbesserung des wahrgenommenen Stresses, des Wohlbefindens, der Selbstwirksamkeit des Körpers und der allgemeinen Selbstwirksamkeit überlegen sei (Wiedenhofer et al. 2016; Wiedenhofer / Koch 2017). Die Studien unterschieden sich in den Kontrollgruppenbedingungen: zielorientierte Bewegungen (Studie 1) gegenüber zielorientierter Tanzimprovisation (Studie 2). Die Teilnehmenden beider Studien füllten vor und nach der ca. 45-minütigen Intervention standardisierte Selbstrating-Fragebögen aus (Perceived stress questionnaire, Wellbeing Generelle Selbstwirksamkeit, Body Self-Efficacy-Scale, Manipulation Check nur im Post-Test; detaillierte Angaben dazu siehe Wiedenhofer et al. 2017). In beiden Studien wurde ein zweifaktorielles Design mit Gruppenbedingung (zielorientiert vs. nichtzielorientiert) und Zeit (Vorvs. Nach-Test) angewandt und für den Between-Group-Effekt MANOVA mit Messwiederholung durchgeführt. Die 1. Studie (Wiedenhofer et al. 2016) untersuchte differenzielle Effekte von nicht-zielorientierten improvisatorischen Bewegungen und zielorientierten Bewegungen auf gesundheitsbezogene Outcomes: An der Studie nahmen 46 StudentInnen teil (Durchschnittsalter 22.57 Jahre, SD = 3.6; Range: 19-40), davon 35 Frauen. An der experimentellen Gruppe mit nicht-zielorientierten Tanzimprovisationsaufgaben nahmen 20 Personen teil, an der Kontrollgruppe mit zielorientierten Tanzimprovisationsaufgaben nahmen 26 teil. In die Analyse gingen die Daten von 36 Teilnehmenden ein (15 von der Experimentalgruppe, 21 von der Kontrollgruppe). Im Prä- / Post-Test-Vergleich zwischen den Gruppen zeigte sich, dass sich der wahrgenommene Stress (F (36,1) = 5.22, p = .029, eta² = 0.13) und das Wohlbefinden (F (36,1) = 7.40, p = .010, eta² = 0.18) in der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe verbesserte. Kein Unterschied zwischen den Gruppen ergab sich bei der Körperselbstwirksamkeit (F (36,1) = 0.67, p = .420, eta² = 0.02) und der allgemeinen Selbstwirksamkeit (F (36,1) = 1.43, p = .240, eta² = 0.04). Die 2. Studie (Wiedenhofer / Koch 2017) verglich den Effekt von nicht-zielorientierten und zielorientierten Tanzimprovisationsaufgaben: An der Studie nahmen 56 StudentInnen teil (Durchschnittsalter 23.21 Jahre, SD = 4,54; Range: 19-49), davon 44 Frauen. An der experimentellen Gruppe mit nicht-zielorientierten Tanzimprovisationsaufgaben nahmen 30 Personen teil, an der Kontrollgruppe mit zielorientierten Tanzimprovisationsaufgaben nahmen 26 Personen teil. Beide Gruppen waren beim Prä-Test miteinander vergleichbar. Im Prä- / Post-Test-Vergleich zwischen den Gruppen Aktuelles aus der Forschung 4 | 2017 193 zeigte sich, dass sich der wahrgenommen Stress (F (56,1) = 4.71, p = 0.034, eta² = 0.08) und die Körperselbstwirksamkeit (F (56,1) = 7.00, p = 0.011, eta² = 0.12) in der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe verbesserten. Kein Unterschied zwischen den Gruppen ergab sich beim Wohlbefinden (F (56,1) = 2.02, p = 0.161, eta² = 0.04) und der allgemeinen Selbstwirksamkeit (F (56,1) = 1.13, p = 0.294, eta² = 0.02). Schlussfolgerung Tanztherapie scheint bei stark übergewichtigen PatientInnen die Lebensqualität und insbesondere den Selbstwert verbessern zu können (Allet et al. 2017). Außerdem scheint ein körper- und bewegungstherapeutischer Ansatz bei Menschen mit Essstörung einen positiven Einfluss auf deren Ärger-Internalisierung zu haben. Beide Studien (Allet et al. 2017; Boerhout et al. 2016) zeichnen sich durch hohe methodische Qualität aus. Da Tanz-, Bewegungstherapie und Psychomotoriktherapie vor allem von Frauen gewählt wurden, können die Ergebnisse nur in Bezug auf Frauen interpretiert werden. Aktive Faktoren wie nicht-zielgerichtete Tanzimprovisation können bewusst zur Stressreduktion und zur Verbesserung der Körperselbstwirksamkeit (Wiedenhofer / Koch 2017) bzw. zur Steigerung des Wohlbefindens (Wiedenhofer et al. 2016) eingesetzt werden. Die Studien bieten einen wichtigen Beitrag zur Identifizierung spezifischer tanz-, bewegungstherapeutischer Wirkfaktoren. Literatur Allet, L., Müller-Pinget, S., Punt, I., Edelsten, C., Ballif, A., Golay, A., Pataky, Z. (2017): Dance therapy combined with patient education improves quality of life of persons with obesity: A pilot feasibility study for a randomised controlled trial. Obesity Research & Clinical Practice 11 (1), 79-87, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.orcp.2016.03.005 Boerhout, C., Swart, M., Voskamp, M., Troquete, N. A., Busschbach, J. T., Hoek, H. W. (2017): Aggression regulation in day treatment of eating disorders: Two ‐ centre RCT of a brief body and movement ‐ oriented intervention. European Eating Disorders Review 25 (1), 52-59, https: / / doi.org/ 10.1002/ erv.2491 Wiedenhofer, S., Koch, S. C. (2017): Active factors in dance / movement therapy: Specifying health effects of non-goal-orientation in movement. The Arts in Psychotherapy 52, 10-23, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.aip.2016.09.004 Wiedenhofer, S., Hofinger, S., Wagner, K., Koch, S. C. (2016): Active factors in dance / movement therapy: health effects of non-goal-orientation in movement. American Journal of Dance Therapy 1-13, https: / / doi.org/ 10.1007/ s10465-016-9240-2 Die Autorin Dr. Iris Bräuninger Dozentin und Forscherin am Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich; ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Forschung & Entwicklung und stellvertretende Leiterin Physio-, Tanz-, Bewegungstherapie & Musiktherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Dozentin im Masterstudiengang Tanztherapie an der Autonomen Universität Barcelona (UAB), Supervisorin, Ausbilderin und Lehrtherapeutin der deutschen und spanischen Berufsverbände (BTD, ADMTE), Kestenberg Bewegungsnotatorin, Psychotherapie (ECP), Private Praxis für Supervision und Therapie Bodensee. ✉ Dr. Iris Bräuninger dancetherapy@mac.com oder iris.braeuninger@hfh.ch
