eJournals körper tanz bewegung 6/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2018
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Aus der Praxis: Geburtsarbeit in der Körperpsychotherapie

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2018
Renate Abel
Ilona Göttges
In diesem Beitrag wird zunächst die Bedeutung der Geburtsarbeit für die Traumaheilung in der psychotherapeutischen Prozessarbeit erläutert. Es folgt ein geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der therapeutischen Geburtsarbeit. Mögliche Auswirkungen einzelner Phasen der Schwangerschaft und Geburt auf menschliche Verhaltensweisen werden an Beispielen aufgezeigt. Abschließend weisen wir auf die Notwendigkeit der Sensibilisierung von Therapeuten für die Problematik dieser Lebensphase hin.
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27 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 27-35 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Warum Geburtsarbeit? G eburtsarbeit-- dabei denken die meisten Menschen an Mütter und Kinder, an Ärzte und Hebammen, an den Akt des Gebärens. Unter Geburtsarbeit verstehen wir eine intensive körperpsychotherapeutische Prozess- und Traumaarbeit. Ludwig Janus betont, dass effektive tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie ohne Berücksichtigung der pränatalen und Geburtserfahrungen nicht möglich ist. Die Einstellung zur lebensgeschichtlichen Bedeutung des Lebensanfangs beeinflusst entscheidend die Vorstellung vom therapeutischen Prozess in den verschiedenen psychotherapeutischen Konzepten ( Janus Geburtsarbeit in der Körperpsychotherapie Bedeutung für die psychotherapeutische Prozessarbeit und historische Entwicklung Renate Abel, Ilona Göttges In diesem Beitrag wird zunächst die Bedeutung der Geburtsarbeit für die Traumaheilung in der psychotherapeutischen Prozessarbeit erläutert. Es folgt ein geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der therapeutischen Geburtsarbeit. Mögliche Auswirkungen einzelner Phasen der Schwangerschaft und Geburt auf menschliche Verhaltensweisen werden an Beispielen aufgezeigt. Abschließend weisen wir auf die Notwendigkeit der Sensibilisierung von Therapeuten für die Problematik dieser Lebensphase hin. Schlüsselbegriffe Körperpsychotherapie, Biodynamische Körper- und Psychotherapie, Geburtstraumatherapie, prä- und perinatale Schocks und Traumata, Birth-Release- Prozess Birth Work in Body Psychotherapy. Its Importance for the Psychotherapeutic Process Work and a Historical Overview The article begins with an explanation of the importance of birth work for trauma healing in psychotherapeutic process work. Subsequently, a historical overview of the development of therapeutic birth work is given. Possible impacts of specific phases of pregnancy and birth on human behavior are illustrated with examples. Finally, the necessity to sensitize therapists for the difficulties of this life phase is emphasized. Key words body psychotherapy, biodynamic body psychotherapy, birth-trauma-therapy, preand perinatal shock and trauma, birthrelease-process Forum: Aus der Praxis 28 1 | 2018 Abel, Göttges 2013a, 189). Dem steht gegenüber, dass wir diese Lebensphase vergessen haben. Unsere bewussten Erinnerungen beginnen etwa im dritten Lebensjahr, und eine gesellschaftlich verbreitete Meinung ist auch heute noch, dass es davor keine Erinnerung gibt. Auch in den meisten psychotherapeutischen Konzepten und Ausbildungen ist die prä- und perinatale Zeit eine vergessene Lebensphase. In der Körperpsychotherapie, z. B. der Biodynamik, wird diese Zeit seit den 1980er Jahren mit einbezogen, da in der körperorientierten Arbeit vorsprachliches Erleben besser zugänglich gemacht werden kann. Der Körper erinnert sich: Es gibt Körpererinnerungen bis hin zu Erinnerungen der Zellen, z. B. der Empfängnis (zelluläres Gedächtnis). In psychologischen Prozessen zeigen KlientInnen häufig Themen, die auf Geburtserfahrungen hinweisen. Traumatische Erlebnisse aus dieser Zeit werden körperlich und durch Verhaltensweisen ausgedrückt, ohne vom Therapeuten entsprechend eingeordnet werden zu können. „Gerade frühe vorsprachliche Gefühlsspannungen können scharfe Gegenübertragungsgefühle mit einem Eindruck zwingender Evidenz und der Gefahr des Gegenagierens auslösen“ (Janus 2013a, 186), letztlich mit retraumatisierenden Effekten, die nicht als solche erkannt werden. Basierend auf Selbsterfahrungen und Ausbildungen in der Geburtsarbeit bei Ebba Boyesen (Biodynamik) sowie bei Karlton und Kathryn Terry konnte ich (R. A.) viele Thematiken und Reaktionen von KlientInnen mit pränatalen und Geburtsschocks in Verbindung bringen. Nach Karlton Terry sind diese frühen Schocks häufig Wurzeln für später erlebte Traumata, da sie in den Erinnerungen unserer Zellen sowie den grundlegenden Synapsenverbindungen gespeichert sind. Viele Lebensprobleme können nur gelöst werden, wenn die darunterliegende traumatische Ladung aus der prä- und perinatalen Zeit inklusive der Geburt erkannt und berücksichtigt wird. Das Explorieren in dieser Richtung bestätigte in der Regel die Vermutung, und die körperorientierte therapeutische Geburtsarbeit, vor allem im von Renate Abel entwickelten Zyklus „Mein Weg ins Leben“, konnte tiefe, heilende Prozesse initiieren. Die Entwicklung der Geburtsarbeit in der Psychotherapie In vielen Kulturen und Religionen haben Empfängnis / Zeugung, Schwangerschaft und Geburt einen wichtigen Stellenwert (z. B. Hubbel Maiden / Farwell 1999) und sind eigebettet in das gesellschaftliche und religiöse Leben. In den westlichen Industrienationen haben u. a. patriarchalische Erziehung, medizinischer Fortschritt und technische Möglichkeiten sowie eine Entfremdung von Ritualen zu einer Veränderung in der Geburtshilfe geführt. Auch lebensrettende medizinische Maßnahmen, z. B. Kaiserschnitt, Bluttransfusionen, haben andererseits leider oft traumatische Folgen für Mütter und Kinder. Den meisten Erwachsenen sind Erinnerungen an die eigene Geburt und die Zeit davor und danach nicht bewusst. Das dürfte mit ein Grund sein, warum den Säuglingen viele Jahre lang Erinnerungen, Emotionen und Schmerzempfinden abgesprochen wurden. Sogar Operationen wurden ohne Narkose durchgeführt. Nicht verwunderlich ist daher, dass diese erste Lebensphase auch in der Psychologie des letzten Jahrhunderts wenig Beachtung fand (Evertz et al. 2014). Dennoch gab es einige Therapeuten, die erkannten, dass PatientInnen eigenes Geburtserleben bewusst war. Otto Rank (1884-1939), Psychoanalytiker und Schüler von Freud, war ein früher Vertreter der Meinung, dass es unerlässlich sei, Geburtserfahrungen in den psychotherapeutischen Prozess einzubeziehen. In den 1960er und 1970er Jahren des vorigen Jahrhunderts rückten diese frühen Erinnerungen durch Experimente mit LSD und die Entwicklung von körperorientierten Therapien mehr ins Geburtsarbeit in der Körperpsychotherapie 1 | 2018 29 Blickfeld der Psychologie. Das Feld des frühen Erlebens wurde unter anderem von Stanislav Grof und Donald Winnicott erforscht. 1975 plädierte der französische Arzt Frederic Leboyer für die „Sanfte Geburt“. In den darauffolgenden Jahrzehnten bewirkte er eine wesentliche Veränderung in der Geburtshilfe. William Emerson war einer der ersten, der Behandlungsmethoden für prä-, peri- und postnatale Traumata bei Babys, Kindern und Erwachsenen entwickelte. Karlton Terry, langjähriger Schüler von Emerson, ist spezialisiert auf die Überwindung von prä- und perinatalen Schocks und Traumata. David Chamberlain arbeitete seit 1974 mit Hypnotherapie, um während der Schwangerschaft und Geburt entstandene Traumata zu lösen. Rebirthing wurde von Leonard Orr in den 1970er Jahren eingesetzt, um mit Hilfe von Atemtechniken Gefühle aus präverbaler und pränataler Zeit wiederzuerleben. Die Hoffnung war, dass durch kathartisches Ausdrücken der Gefühle Traumata und alter Schmerz gelöst würden. Neuere Erkenntnisse aus der Traumaforschung belegen, dass das Wiedererleben von traumatischen Situationen in der karthartischen Arbeit retraumatisierend wirken kann (Ogden et al. 2006). Das Wiedererleben traumatischer Situationen braucht einen geschützten Rahmen, abrufbare, körperlich verankerte Ressourcen, Empathie für sich selbst und zuverlässige therapeutische Beziehungen. Dann können diese schmerzvollen Erfahrungen heilsam integriert werden. Ohne diese Integration wirken Traumata unbewusst weiter und werden auch an nachfolgende Generationen „weitervererbt“. Es ist ein Leiden, ohne zu wissen, warum (Baer / Frick-Baer 2013; Bode 2009, 2011; Alberti 2013). Im deutschsprachigen Raum wurde 1971 von Hans Gustav Graber die Internationale Studiengemeinschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM) gegründet. Ludwig Janus und Franz Renggli sind bekannte Vorreiter der prä- und perinatalen Therapie in Deutschland und der Schweiz. In diesem sich entwickelnden Feld hat Ebba Boyesen zeitgleich in den frühen 1970er Jahren im Rahmen der Biodynamischen Körperpsychotherapie das Konzept des Birth-Release-Prozesses erstellt. Sie erkannte durch das Erinnern eigener traumatischer prä-, peri- und postnataler Erlebnisse den gravierenden Einfluss dieser frühen, vorsprachlichen Erfahrung auf die Persönlichkeitsentwicklung. Das Biodynamische Birth-Release ist ressourcenbildend und darauf ausgerichtet, frühen Stress zu lösen sowie eine Erfahrung von Wärme, Sicherheit und Geborgenheit zu ermöglichen. In der Biodynamischen Geburtsarbeit werden verschiedene Elemente zu einem körperpsychotherapeutischen Konzept verflochten: Bewusstseinsarbeit mit der eigenen Biografie, Imagination, szenische Aufstellung, körperpsychotherapeutische Interventionen und bindungsfördernde Interventionen wie Halten, Augenkontakt und verbale Bestätigungen. Bedeutung einzelner Phasen der Schwangerschaft und Geburt für die Persönlichkeitsentwicklung Durch die oben genannte Forschungs- und Prozessarbeit mit Erwachsenen und mit Kindern sind Erkenntnisse von prä- und perinatalem Erleben für menschliche Verhaltensweisen immer deutlicher und genauer geworden, und damit zeigte sich, wie bedeutsam das Erleben in dieser frühen Zeit für das spätere Leben ist. Die folgenden Beispiele zeigen, welche Verhaltensweisen durch Probleme während Schwangerschaft und Geburt geprägt werden können. Je früher erschwerende Umstände die embryonale Entwicklung beeinflussen, desto umfassender und unbewusster ist die Prägung für unser Leben. Früheste Erinnerungen sind in jeder Zelle gespeichert. Die entsprechenden molekularbiologischen Mechanismen und ihre Auswirkungen auf Verhalten und Gesundheit sind in der Medizin 30 1 | 2018 Abel, Göttges als „Pränatale Epigenetische Prägungen“ bekannt (Schrey / Stepan 2016). Mit fortschreitender Differenzierung des menschlichen Organismus können Organe oder Körperpartien von Schockerfahrungen betroffen sein. Kurz nach der Geburt sind unsere grundlegenden Synapsenverbindungen im Gehirn schon geschaltet. Bereits die Vereinigung von Ei- und Samenzelle kann als positives Erleben oder als Schock das spätere Verhalten beeinflussen: „Gefühle zu biologischen Vorgängen mit Spermien und / oder Eiern werden“ [in vielen Fällen] „mit intensiver Aggression, Erstickung, Tod, Macht und / oder Zurückweisung verbunden.“ (Emerson 2000, 47) In seinem Buch „The Sperm Journey / The Egg Journey“ (2005) erläutert Karlton Terry Zusammenhänge biologischer Stadien und psychischer Auswirkungen. An anderer Stelle beschreibt er den beeindruckenden Prozess einer Klientin, deren epileptische Anfälle als Folge eines Schocks während der Zeugung erkannt wurden und durch die therapeutische Arbeit verschwanden (Rödel 2009). Die Implantation (Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut) findet vom achten bis zwölften Tag nach der Empfängnis statt und kann prägender sein als die Geburt selbst (Terry 2010). Mehr als die Hälfte der befruchteten Eizellen stirbt vor der Implantation. Die Einnistung wirkt prägend für folgende Aspekte unserer Persönlichkeit: Habe ich ein Heim mit allem, was ich brauche? Esse ich, was wirklich gut für mich ist? Habe ich alles Notwendige (z. B. Geld) zur Verfügung? Wie lebe ich meine Beziehungen? Bin ich einverstanden mit meinem Körper, mit meinem Mensch-Sein? Die Entdeckung der Schwangerschaft geht einher mit hormonellen Veränderungen, die die Mutter in ihrem Körper wahrnimmt. Bejahen die Eltern die Schwangerschaft und freuen sich? Erfüllt sich ihr Wunsch nach einem gemeinsamen Kind? Dann transportieren Botenstoffe und Körperflüssigkeiten diese Glücksgefühle über die ab der dritten Woche existierende Nabelschnur zum Fötus (Sadler 2003). Leider geschieht dies auch, wenn die Entdeckung mit Schreck, Ablehnung und mit dem Versuch eines Schwangerschaftsabbruchs verknüpft ist. Die Mutter kann belastet sein, ambivalent, vielleicht selbst in einer Notlage. Welche Prägung daraus entstanden ist, beschreibt das Gedicht einer KlientIn: „ … damals diese Entscheidung, aufgrund der Umgebung niemals zur Last zu fallen (…) mich ganz nach innen, ganz nach hinten, bis in meine Knochen hinein zurückzuziehen …“. Die Nabelschnur-Effekte sind relevant für die gesamte Schwangerschaft und die Geburt. Vom Ende der dritten Schwangerschaftswoche bis zum Durchtrennen der Nabelschnur nach der Geburt transportiert sie Nahrung und Sauerstoff und ermöglicht das rasante Wachsen des Fötus. Sie ist verbunden mit der Plazenta, die den Austausch von Stoffwechselprodukten und Gasen zwischen mütterlichem und fetalem Blut reguliert (Sadler 2003, 112 ff ). Die Plazentaschranke, eine Art Filter gegen schädliche Stoffe, ist nur eingeschränkt wirksam. Allem, was über die Nabelschnur in den kindlichen Körper gelangt, kann der Fötus nicht entgehen; er ist an den positiven und schädlichen Folgen beteiligt und wächst damit auf. Alberti beschreibt den beeindruckenden therapeutischen Prozessverlauf ihres anfangs siebenjährigen Klienten Thomas (Alberti 2005, 189 ff ). Gewalterfahrungen in der Familie, Drogensucht, Ängste und Überforderung erlebte die Mutter von Thomas vor und während der Schwangerschaft. Dies hatte auch auf den wachsenden Fötus einen Einfluss. In Thomas’ Therapie geht es „in vielen Spielsituationen (…) um Gifte, denen [die Therapeutin]- - stellvertretend für [Thomas] ausgesetzt [ist] und denen [sie] nicht entkommen kann. Im weiteren Verlauf wird die pränatale Symbolik in Höhlenbauspielen deutlich; auch die Höhlen, in denen [die Therapeutin] im Spiel schlafen muss, sind immer wieder gefährli- Geburtsarbeit in der Körperpsychotherapie 1 | 2018 31 chem Gift ausgesetzt.“ (Alberti 2005, 191, 193) Die tiefgreifenden seelischen Verstörungen, die auf den siebenjährigen Thomas einwirkten, und sein lebensrettender Anpassungsprozess führten zu einer Panzerung, die seine Gefühle nicht nach außen dringen und auch nichts an sich herankommen ließ. Jede Bindung war gekoppelt mit schmerzlichen oder sogar vernichtenden Gefühlen, und eine tragfähige Beziehung herzustellen, war immens schwierig. „Das Gift“ konnte im Therapieprozess von Thomas verarbeitet werden, und Kontakte wurden möglich. Die emotionale Verfassung der Mutter teilt sich dem Fötus auch über die Psychoperistaltik der Mutter mit (zur Psychoperistaltik: Boyesen / Boyesen 1987). Die Darmbewegungen verdauen nicht nur die materielle Nahrung, sondern ebenso Gefühle und Befindlichkeiten. Unterschiedliche Arten von Geräuschen begleiten diesen Verdauungsprozess. Das Kind im Uterus nimmt die Darmbewegungen und Geräusche wahr. Die Anlage des Ohres beginnt nach etwa 22 Tagen und ist in der 20. Woche vollständig abgeschlossen (Sadler 2003). Stress oder Entspannung, Aufregung oder Ruhe, Not oder Freude teilen sich dem Kind mit und auch, ob diese Gefühle von der Mutter verarbeitet werden und eine emotionale Ausgeglichenheit hergestellt wird. Fehlende Psychoperistaltik kann auf eine unzureichende Selbstregulation, eine Depression oder auf Schock und Trauma hindeuten. Der Fötus ist empathisch eingebunden in die emotionale Welt der Mutter. Hören frühgeborene Babys Darmgeräusche, z. B. über einen Tonträger, sind sie ruhiger (Van Heel 2015). In einem Birth-Release-Prozess während einem Seminar von Renate Abel wünschte sich das „Kind im Uterus“ (der Erwachsene, der in dieser Regression die Wünsche des Babys spürt und mitteilt) plätschernde Wassergeräusche, die den Darmgeräuschen bei Entspannung entsprechen. Das Kind in seiner Uterus-Welt konnte sich bei diesen Geräuschen entspannen und eine Atmosphäre von Sicherheit und Geborgenheit erleben. Notsituationen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren hatten Folgen für die in dieser Zeit geborenen Kinder. Ihre Mütter waren oft traumatisiert durch Gewalt, Angst, Verlust, Hunger. Die Kinder waren dem Geschehen hilflos ausgeliefert. Sie trugen das Trauma der Mutter weiter in sich. Bei einer Klientin im Geburtszyklus von Renate Abel konnte erst durch die Geburtstherapie erkannt werden, warum die erwachsene Frau trotz guter Bedingungen in ihrem Umfeld oft nicht wirklich froh werden konnte und warum ein Schrecken im Körper steckte. Das Mitgefühl für sich selbst und die Empathie der begleitenden Gruppe halfen, diesen Schmerz zu integrieren, Trauer zu spüren, und in der Folgezeit konnte u. a. in verschiedenen Ritualen ein Heilungsweg beschritten werden. Die extremen existentiellen Nöte, die Angst, Verlust und Trauer, die die Mütter im Krieg und in der Nachkriegszeit zum Teil verdrängen mussten, um mit ihren Kindern weiterzuleben, übertrugen sich auf das Kind im Mutterleib. Sabine Bode stellt in ihren Büchern die unverarbeitete Problematik der Kriegskinder und Nachkriegskinder dar. Bode und andere Autoren zeigen, wie sich traumatisches Erleben auch auf nächste Generationen übertragen kann (Bode 2004; Baer / Frick-Baer 2013; Alberti 2013). Alberti beschreibt den therapeutischen Prozess von Anne, einer jungen Frau mit „Lebensunwillen als Ausdruck unverarbeiteter pränataler Traumatisierung“ (Alberti 2005, 196 ff ): Annes Eltern überstanden als Kinder während des Zweiten Weltkriegs eine schwierige, gefährliche und traumatische Flucht aus Ostpreußen. Anschließend wuchsen sie in der ehemaligen DDR auf. Sie heirateten, als sie die Schwangerschaft bemerkten, und flohen nach West-Berlin. Dies 32 1 | 2018 Abel, Göttges war um die Zeit des Mauerbaus. Statt ein Nest zu bauen, wurden das Bekannte und die Sicherheit in der Großfamilie aufgegeben. Die Mutter litt in der Schwangerschaft unter chronischen Bauchschmerzen. Anne kam im siebenten Monat zur Welt und blieb als Frühgeburt vier Wochen in der Kinderklinik. Auch diese Zeit wirkt prägend in Hinblick auf eine unsichere Bindung. Bereits als Sechsjährige bis zu Beginn der Therapie malte Anne sich fast täglich „Situationen aus, in denen ihr Leben zu Ende geht: Mal verhungert sie, mal erfriert sie, mal kommt ein Erdbeben und lässt ihre Hütte einstürzen oder sie ertrinkt in einer Sturmflut- - niemals aber führt sie eine aggressive Handlung gegen sich selbst aus.“ (Alberti 2005, 200) Nach einigen Jahren kontinuierlicher therapeutischer Arbeit dachte Anne nicht mehr wie vorher ans Sterben (Alberti 2005, 203) und wurde später selbst Mutter einer Tochter. Nur durch das Wissen um die pränatale Lebenszeit und das frühe Bindungsgeschehen konnte Bettina Alberti Zugang zur Problematik ihrer Klientin bekommen, und Anne konnte „langsam ihre verborgene Lebensliebe und Lebenskraft finden“(Alberti 2005, 203). Vor der Geburt, in der Endphase der Schwangerschaft, ist es extrem eng für das Baby, es „will raus“. Die Mutter spürt ihrerseits eine Bereitschaft zu gebären, und die Plazenta ist „verbraucht“. Das sind die drei Impulse für die Geburt. Kommen sie zusammen, kann dies als Einverstandensein von allen Seiten für die Entbindung gedeutet werden- - für die Geburt als wichtigen Übergang in eine neue Lebensphase. Eine KlientIn, deren Geburt aus medizinischen Gründen einige Wochen vor dem Geburtstermin eingeleitet worden war, konnte diese Einleitung als Schock in der Therapie wiedererleben. Unerwartet und hilflos war sie einem Geschehen ausgeliefert, auf das sie noch nicht vorbereitet war. Ein stimmiges Gefühl für Veränderungen und Übergänge im Leben zu entwickeln, fiel ihr schwer. Die Geburt beginnt mit der Positionierung des kindlichen Kopfes im mütterlichen Beckeneingang und dem Durchtritt durch den Muttermund. Dauert diese Aufbruchsphase zu lange, kann dies eine Wurzel für spätere Klaustrophobie sein, oder das Nicht-Weiterkommen kann z. B. zu Überreaktionen beim Stehen im Verkehrstau führen (Terry 2010). Die nächste Phase der Geburt ist die Rotationsphase. Der Kopf des Kindes muss sich dabei vom Queroval des Beckeneingangs auf das Längsoval des Beckenausgangs einstellen. Orientierungsschwierigkeiten bei Erwachsenen haben oft im Rotationserleben ihren Ursprung. Das Problem der Rotation zu meistern, kann als Erfolgserlebnis gesehen werden, das das Verhalten des Kindes in positiver Weise prägt. Gibt es in dieser Phase ein Steckenbleiben, oder muss das Kind in seiner Not versuchen, erst rechts herum, dann links herum weiterzukommen, kann das zu Ambivalenz oder einem Hin- und Hergerissensein führen, bis zu der Unfähigkeit, klare und sichere Entscheidungen zu fällen. Das Gefühl, nicht mehr weiterzukommen und steckenzubleiben, kann den Erwachsenen einholen. Als mögliche Kompensation hat er dann vielleicht Widerstände gegen Neues und eine engstirnige Haltung (Terry 2010). In der letzten Geburtsphase gibt es oft nur noch wenig Sauerstoff über die Nabelschnur und extremen Druck. Der Kopf schiebt sich durch das enge Becken. Der Geburtsreflex bewirkt, dass sich das Kind streckt und mit den Füßen abstößt. Es tritt ins Leben. Welch ein Gefühl ist es, diesen Durchtritt zu schaffen! Welch ein Gefühl, wenn der Kopf aus der Enge des Geburtskanals kommt und sich die Schultern und der übrige Körper rotierend mit Hilfe der Presswehen nach außen bewegen! Haben Mut und Kraft, vielleicht auch ein wütendes „Trotzdem! “ geholfen durchzukommen? Gab es ein Zusammenwirken mit der Mutter? War spürbar- - da will ich hin, dorthin geht mein Weg, das ist meine Bestimmung? Ist das ein Mensch, der als Erwachsener mit einem offe- Geburtsarbeit in der Körperpsychotherapie 1 | 2018 33 nen „Hallo, hier bin ich“ oder „Ich schaff das schon“ anderen gegenübertritt? Wenn diese Phase zu lange dauert, fällt es dem Erwachsenen später vielleicht schwer, Projekte zu beenden, sich zu präsentieren. Es kann ein inneres Erleben von „Trotzdem“ geben, was sich wie ein Kriegszustand anfühlt, inmitten von Einsamkeit, Dunkel und Not. Widerstandsfähigkeit, aber auch Gefühle von Bitterkeit, Resignation und Verrat können hier ihre Wurzeln haben (Terry 2010). Wenn die Mutter betäubt wurde, wie das früher oft als Durchtrittsnarkose mit Lachgas geschah, wurde der Kontakt zur Mutter unterbrochen, und die Betäubung ging über die Nabelschnur oft auf das Kind über. Hatte es den Weg fast geschafft, angeregt durch den hohen Adrenalinspiegel unter der Geburt, wurde es in seinen Bewegungen, seiner Reaktionsfähigkeit und geistiger Wachheit lahmgelegt. Gefühle von Verrat oder auch dissoziative Reaktionen sind die Folgen (Terry 2010). Bei einem Kaiserschnitt erlebt das Baby einen Geburtsablauf, der genetisch nicht vorgesehen ist. Es hat den eigenen Weg nicht gefunden, keinen Geburtsreflex gespürt, vielleicht war es noch nicht bereit. In der Geburtstherapie haben wir erlebt, dass sich jemand in der Welt nie ganz angekommen fühlte. Erst die nachgestellte Geburt im Birth-Release- Prozess mit dem beschwerlichen Weg durch den Geburtskanal ließ ein Gefühl von „jetzt bin ich da“ aufkommen. Die postnatale Phase ist das Ankommen in der neuen Welt. Der Geburtsstress braucht seine Zeit, sich nach und nach zu lösen. Ein biologisch angelegter Zyklus kann sich vollenden. Es ist eine langsame Entfaltung: Im kindlichen Körper sortieren sich nach extremem Druck Knochen und Organe. Das vegetative Nervensystem wird aktiviert. Halt und Geborgenheit braucht das Neugeborene und seine eigene Zeit. Erstes Fokussieren und Saugreflex wollen beantwortet werden, um das nachgeburtliche Bonding zu ermöglichen. Erst in der Entspannung und mit der Erfahrung von Sicherheit wird das Nervensystem offen für Bindungsgeschehen und soziales Verhalten. Irrwege in der Geburtshilfe auch in dieser Phase haben bei vielen Menschen frühe Traumata und Bindungsstörungen verursacht (Terry 2010). Bedeutung für Therapeuten Vergegenwärtigt man sich die grundlegende Bedeutung unseres Eintritts ins Leben, wird klar, wie wichtig Geburtstherapie in der Ausbildung von Körper- und Psychotherapeuten ist. Unbewusste und unbearbeitete eigene Traumen von Therapeuten sind ein blinder Fleck im Erkennen grundlegender Dynamiken der Klienten. Die traumatische Ladung im Gegenüber (KlientIn) nicht wahrzunehmen, bringt den therapeutischen Prozess vielleicht in eine Schieflage, eine retraumatisierende Richtung oder zum Stocken. Inzwischen gibt es immer mehr Literatur, die verschiedenste Aspekte der Geburtsthematik aufgreift, immer mehr Menschen, die sich damit beschäftigen und Kenntnis haben, und auch therapeutische Ansätze und Konzepte. Der Amerikaner Karlton Terry entwickelte eine mehrjährige systematische Struktur zur Ausbildung von Therapeuten und Babytherapeuten. Inzwischen wird dieses Konzept, zum Teil mit ihm zusammen, auch von einigen seiner SchülerInnen in Deutschland, Österreich, Niederlande und England weitergeführt. Sein Lehrer William Emerson bietet zu einzelnen Schwerpunkten Seminare in Deutschland an. Franz Renggli arbeitet seit vielen Jahren mit dieser Thematik in der Schweiz. Der von Renate Abel kreierte Geburtszyklus „Mein Weg ins Leben“ ist ein Konzept über neun Monate in einer kontinuierlichen Gruppe. Er ermöglicht das Aufarbeiten eigener Traumata und bietet Therapeuten die Möglichkeit, Zusammenhänge zu erkennen und Kompetenzen für den Kontakt im Feld von prä- und perinatalen Traumata zu erlangen. Systemische und 34 1 | 2018 Abel, Göttges seelische Aspekte stehen am Anfang des Zyklus, gefolgt von einer intensiven Ressourcenbildung durch den biodynamischen Birth-Release-Prozess. Die Installation der eigenen Ressourcen und Selbstheilungskräfte sowie der Container der Gruppe mit Leitung und AssistentInnen sind die Grundlagen für die Aufarbeitung der frühesten Traumata. Der Ansatz orientiert sich am Konzept von Karlton Terry. Diese körpertherapeutischen Wege zur Lösung frühester Traumata oder zum Begleiten von Menschen in diesen Prozessen möchten wir Therapeuten und Pädagogen sowie Menschen aus weiteren Berufsfeldern aus den Bereichen Gesundheit und Medizin ans Herz legen. Unser Bewusstsein und Mitgefühl für eigenes Erleben und für die Menschen, mit denen wir in Kontakt sind, erfährt eine Erweiterung und Stärkung. Literatur Alberti, B. (2013): Seelische Trümmer. Geboren in den 50er und 60er Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. 6. Aufl. Kösel-Verlag, München Alberti, B. (2005): Die Seele fühlt von Anfang an. Wie pränatale Erfahrungen unsere Beziehungsfähigkeit prägen. 8. Aufl. Kösel-Verlag, München Baer, U., Frick-Baer, G. (2013): Wie Traumata in die nächste Generation wirken. Untersuchungen, Erfahrungen, therapeutische Hilfen. 3. Aufl. Semnos Verlag, Neukirchen-Vluyn Bode, S. (2011): Nachkriegkinder, Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. Klett Cotta, Stuttgart Bode, S. (2009): Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Klett Cotta, Stuttgart Bode, S. (2004): Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. 3. Aufl. Klett Cotta, Stuttgart Boyesen, G., Boyesen M.-L. (1987): Biodynamik des Lebens. Die Gerda-Boyesen-Methode. Synthesis, Essen Emerson, W. (2000): Das verletzliche Ungeborene. Behandlungstechniken und Forschungsergebnisse. In: Harms, T.(Hrsg.): Auf die Welt gekommen. Leutner Verlag, Berlin, 39-52 Evertz, K., Janus, L., Linder, R. (Hrsg.) (2014): Lehrbuch der Pränatalen Psychologie. Mattes- Verlag, Heidelberg Geuter, U. (2015): Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. Springer, Berlin Harms, T. (Hrsg.) (2000): Auf die Welt gekommen. Die neuen Baby-Therapien. Leutner Verlag, Berlin Heintges, M. (2006): Pränatale Bindungsstörungen-- Ursachen, Auswirkungen und Ausdruck. Diplomarbeit Hochschule Darmstadt, Fachbereich Sozialpädagogik Hubbell Maiden, A., Farwell, E. (1999): Willkommen in dieser Welt. Die tibetische Kunst, Kinder ins Leben zu begleiten. Kösel-Verlag, München Janus, L. (2013a): Der Seelenraum des Ungeborenen. Pränatale Psychologie und Therapie. 4. Aufl. Patmos, Ostfildern Janus, L. (Hrsg.) (2013b): Die pränatale Dimension in der Psychotherapie. 2. Aufl. Mattes-Verlag, Heidelberg Leboyer, F. (1979): Sanfte Hände. Die traditionelle Kunst der indischen Baby-Massage. Kösel-Verlag, München Lorenz, S. (1999): Wie das Seelenleben des Kindes schon im Mutterleib geformt wird. Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin Maurer, W. (2009): Der erste Augenblick des Lebens. Der Einfluss der Geburt auf die Heilung von Mensch und Erde. Drachen-Verlag, Klein Jasedow Nilsson, L. (2006): Leben. Bildband. Knesebeck, München Ogden, P., Minton, K., Pain, C. (2006): Trauma and the body. A sensorimotor approach to psychotherapy. W. W. Norton & Company, New York/ London Renggli, F. (2001): Der Ursprung der Angst. Antike Mythen und das Trauma der Geburt. Patmos Verlag, Düsseldorf Rödel, H. (2009): Als meine Seele Mensch wurde. Pränatale Psychologie und Kunst. Mattes-Verlag, Heidelberg Sadler, T. W. (2003): Medizinische Embryologie. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart Schrey, S., Stepan, H. (2016): Pränatale Epigenetische Prägung. Stand des Wissens. Deutsches Ärzteblatt 113 (45), 2040-2044 St. John, R. (1984): Metamorphose. Die pränatale Therapie. Synthesis, Essen Geburtsarbeit in der Körperpsychotherapie 1 | 2018 35 Terry, K. (2014): Vom Schreien zum Schmusen, vom Weinen zur Wonne. Babys verstehen und heilen. Axel Jentzsch, Wien Terry, K. (2010): Intermediate class: Umbilical affect (Booklet). Institute for Preand Perinatal Education, Denver Terry, K. (2005): The sperm journey. The egg journey. Biological stages and some psychological correlates. Editorial Colibri, Santa Maria la Ribera Thielen, M. (2009): Säuglingsforschung-- Selbstregulation-- Körperpsychotherapie. In: Thielen, M. (Hrsg.): Körper-- Gefühl-- Denken. Körperpsychotherapie und Selbstregulation. Psychosozial-Verlag. Gießen, 195-216 Van Heel, C. (2015): Revisiting Gerda Boyesen’s theory of Psychoperistalsis. Biodynamic Institute, London Renate Abel, Biodynamische Körperpsychotherapeutin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Pädagogin. Realschul- und Beratungslehrerin, seit 1994 Körperpsychotherapeutin in eigener Praxis. Ausbildung in prä- und perinataler Therapie bei Karlton und Kathryn Terry. Ilona Göttges, Biodynamische Körperpsychotherapeutin, Therapeutin Naturheilkunde (Niederlande). Seit 1994 eigene Praxis für Naturheilkunde mit den Schwerpunkten Schwangerschaft, therapeutische Geburtsarbeit und die natürliche Behandlung von Depressionen. ✉ Renate Abel Praxis für Körperpsychotherapie Falkenstr. 40 | D-91056 Erlangen renateabel@netcologne.de www.renateabel.de