eJournals körper tanz bewegung 6/2

körper tanz bewegung
9
2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2018
62

Anwendungs- und Interventionsforschung in der Körperorientierten Psychotherapie

41
2018
Frank Röhricht
In diesem Artikel wird der aktuelle Diskurs zur Frage der Relevanz und der geeigneten Methodik einer Psychotherapieforschung für den Bereich der Körperorientierten Psychotherapie (KOPT) dargestellt. Unter Bezugnahme auf zwei zentrale Leitthemen – Embodiment und Enaktivismus – wird argumentiert, dass die Anwendungs- und Interventionsforschung der KOPT sinnvollerweise als „Mixed-Method-Design“ konzipiert wird. Dabei werden die spezifischen verkörperten therapeutischen Prozesse und die diese bestimmenden therapeutischen Beziehungen mittelbar auf die therapeutischen Effekte und die zu beobachtenden sonstigen Veränderungen („Outcomes“) bezogen. Dieses Vorgehen wird anhand eines konkreten Beispiels klinischer Forschung bei chronischer Depression illustriert.
9_006_2018_002_0050
Fachbeitrag 50 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 50-58 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art08d © Ernst Reinhardt Verlag Anwendungs- und Interventionsforschung in der Körperorientierten Psychotherapie Frank Röhricht In diesem Artikel wird der aktuelle Diskurs zur Frage der Relevanz und der geeigneten Methodik einer Psychotherapieforschung für den Bereich der Körperorientierten Psychotherapie (KOPT) dargestellt. Unter Bezugnahme auf zwei zentrale Leitthemen-- Embodiment und Enaktivismus-- wird argumentiert, dass die Anwendungs- und Interventionsforschung der KOPT sinnvollerweise als „Mixed-Method-Design“ konzipiert wird. Dabei werden die spezifischen verkörperten therapeutischen Prozesse und die diese bestimmenden therapeutischen Beziehungen mittelbar auf die therapeutischen Effekte und die zu beobachtenden sonstigen Veränderungen („Outcomes“) bezogen. Dieses Vorgehen wird anhand eines konkreten Beispiels klinischer Forschung bei chronischer Depression illustriert. Schlüsselbegriffe Forschungsdesign, Evaluation, Körperpsychotherapie Intervention Research in Body-Oriented Psychological Therapies In this article the current discourse regarding the relevance and the most suitable method of psychotherapy research is critically assessed for the field of body oriented psychological therapies (BOPT). In respect of two relavant paradigms-- embodiment and enactivism-- the author argues that intervention research in BOPT is most suitably conducted as a mixed-method-design, considering findings from embodied therapeutic processes and corresponding therapeutic relationships as mediators for therapeutic effects and other observable change processes. This design is illustrated using a concrete example of clinical research in chronic depression. Key words research design, evaluation, body psychotherapy D ie Fragen „Was ist der Nutzen einer empirischen Anwendungs- und Interventionsforschung? “ und „Welche ist die ‚richtige‘ Methode der Psychotherapieforschung? “ werden seitens der Praktiker / Therapeuten immer wieder gestellt, häufig unter Bezugnahme auf die zentrale Bedeutung eines klinischen Erfahrungswissens. Dies geschieht insbesondere mit dem Hinweis darauf, dass sich das Paradigma der „evidenzbasierten“ Psychotherapie zu eng auf ein positivistisches Wissenschaftsmodell beziehe, welches Erkenntnisse Anwendungs- und Interventionsforschung 2 | 2018 51 auf die Interpretation von messbaren Befunden eingrenzt. In der Psychotherapieforschung wird diesbezüglich insbesondere die Methodik des sogenannten Gold-Standards der randomisiert-kontrollierten Studien (RCT) kontrovers diskutiert, d. h. ein Vorgehen, bei dem Studien unter vorab definierten Bedingungen einen erwarteten Nachweis zur Wirksamkeit einer Methode erbringen sollen. Es wird seitens der Kritiker deklariert, dass sich diese RCT-Studien nur bedingt im Bereich einer komplexen körperbezogenen und subjektiven therapeutischen Beziehung anwenden lassen (siehe z. B. Tschuschke 2010). Anwendungs- und Interventionsforschung sollte zunächst von einer Grundlagenforschung unterschieden werden. Letztere beschäftigt sich mit den Grundannahmen, die in der psychotherapeutischen Arbeit zur Geltung kommen und die Handlungsparadigmen des therapeutischen Vorgehens entscheidend beeinflussen. Zwei zentrale Leitthemen / Paradigmen sind in das Blickfeld der körperorientierten Psychotherapie-Verfahren (KOPT) gerückt, die hier eingangs kurz erwähnt werden sollen: Embodiment und Enaktivismus (siehe Röhricht et al. 2014 und Geuter 2015 für eine detaillierte Darstellung). Embodiment- - im Deutschen häufig unscharf als „Verkörperung“ übersetzt- - beschreibt, wie Kognitionen und Affekte auf sensomotorischen Prozessen gründen, und Enaktivismus skizziert den Menschen als (inter)-agierendes System („coupling“), d. h. hier liegt die Betonung auf der Zwischenleiblichkeit und der gemeinsamen Konstruktion eines Verständnisses von Bedeutung. Desweiteren wird in der psychotherapeutischen Arbeit mit und durch den Körper im Hintergrund unablässig das in der Phänomenologie als Ambiguität beschriebene existentielle Dilemma des Körper-Seins und -Habens mit angesprochen. Der Körper ist der Ort (Objektcharakter), an dem sich die Interventionen auf die konkrete Gegebenheit („fass-barer“ Körper) und zugleich auch auf das Erleben des Körpers (Subjektcharakter) mittels der Psychomotorik, der Wahrnehmung, des Selbsterlebens und den nonverbalen Interaktionen beziehen. Diese grundsätzlichen Aspekte sind auch hinsichtlich des methodischen Zuganges in der Anwendungsforschung, d. h. im Hinblick auf die Studiendesigns zur Erfassung der „Effekte“ der Therapie und somit für die eingangs skizzierte methodenkritische Diskussion relevant. Die Interventionsforschung beschäftigt sich mit den therapeutischen Prozessen und den diese bestimmenden therapeutischen Beziehungen. Beides wird mittelbar auf die therapeutischen Effekte sowie die zu beobachtenden Veränderungen („Outcomes“) in einer Anwendungsforschung bezogen. Dabei ist körperliche Interaktion und die subjektive leibliche Selbsterfahrung im Zentrum der Körperorientierten Psychotherapie aufgrund der besonderen Ambiguität ein komplexes und zugleich spezifisches und immanentes Zielkriterium. Es stellt sich daher die Frage nach den adäquaten „Outcome-Parametern“ bzw. den hierzu passenden Forschungsinstrumenten in der Anwendungs- und Interventionsforschung der KOPT. Dies soll in den folgenden methodenkritischen Überlegungen erörtert werden. Methodenkritische Überlegungen Die beiden sich überlappenden Aspekte der Anwendungsforschung beziehen sich auf die Erforschung der direkten und mittelbaren „Effekte“ der Interventionen und der durch die Interventionen in Gang gesetzten therapeutischen Prozesse sowie der Frage nach der klinischen Nutzbarkeit der Interventionen (z. B. Verringerung von Symptomen, Vebesserung der sozialen Kompetenz, Steigerung der subjektiven Lebensqualität). Ich möchte diesbezüglich einen störungsspezifisch-phänomenologischen Ansatz vor- 52 2 | 2018 Frank Röhricht schlagen und im Sinne der oben dargestellten Leitthemen das Vorgehen in der Anwendungsforschung auf sogenannte Leibregulationsstörungen (Fuchs / Schlimme 2009; Röhricht 2011a) fokussieren-- dazu im Weiteren ein klinisches Beispiel. Zielgrößen dieser Forschung sind Bewegung, Interkorporealität, Körperwahrnehmung, emotionales Ausdrucksverhalten, Körperbild etc. und die Erfassung des Selbsterlebens. Dabei werden (siehe Stichwort Enaktivismus) die Interaktionen mit den Körpern der Anderen und die Umgebungsfaktoren als Kontext mit in die Analyse einbezogen. Hierzu ein Zitat von Koch und Fischman aus der Sicht der Tanztherapie (2014, 9): „Das hat weitreichende Implikationen, wie z. B. die Sichtweise, dass es keine ‚objektive Wirklichkeit‘ gibt. Die Wissenschaft kann folglich nur kontextgebundene gemeinschaftliche Übereinkünfte darüber treffen, was als Realität aufgefasst wird (…) Kunst und Wissenschaft müssen verhandeln und definieren, wie Erleben als kontinuierlicher Prozess konzeptualisiert und repräsentiert werden kann.“ Das hat unmittelbare Konsequenzen bzgl. der Forschungsdesigns in der Interventionsforschung der KOPT: Unterschiedliche (qualitative, quantitative) Methoden werden zu unterschiedlichen Fragestellungen herangezogen. Eine Ko-Produktion in sogenannten „Mixed- Method-Research-Designs“ strebt eine Integration von klinischer Beobachtung, individuellen Narrativen und situativer Informationsinhalte an. Dabei kommen sowohl wahrnehmungspsychologische Testverfahren, Fragebögen zum Körpererleben als auch durchaus projektive Verfahren wie z. B. der Körperbild-Skulptur-Test (Joraschky / von Arnim 2009; von Arnim / Joraschky 2009) zum Einsatz. Dieses Instrument möchte ich an dieser Stelle besonders herausstellen als ein projektives, erlebnisorientiertes, veränderungssensitives und körperbezogenes Verfahren, bei dem PatientInnen ein Bild ihres Körper-Selbst aus Ton formen. Kriterien in der Auswertung sind vielfältig und integrieren quantitative und qualitative Aspekte: z. B. das Strukturniveau der Körper-Skulptur, die Gebundenheit, die Proportionalität, aber auch individuelle Merkmale, die sich narrativ oder in der körperorientierten Beziehungsarbeit erst im therapeutischen Prozess weiter erschließen lassen. Die „Verarbeitung“ dieser Befunde erfolgt im Anschluss im Kontext hermeneutischer Diskussions- / Verstehensansätze. Dieses aus Sicht der KOPT als Idealfall zu bezeichnende komplexe methodische Vorgehen erfodert allerdings ein hohes Maß an logistischem und personellen Aufwand, der sich nur im Rahmen großer Forschungsprojekte und mit den entsprechenden finanziellen Mitteln umsetzen lässt. Insofern stellt sich die Frage, wie ein für die KOPT relevanter Erkenntnisgewinn für eingegrenzte Fragestellungen zu realisieren sei: Zu welchen Fragen kann z. B. eine konkrete Interventionsforschung zusätzlich zur Anwendungsforschung Antworten beitragen? Hier sind aus der Sicht der KOPT einige zentral wichtige Themen herauszustellen: ● Auf welche Weise entfalten die körperbezogen Interventionen ihre Wirkung? Welche Wirkmechanismen (z. B. spezifisch ausgestaltete interaktive therapeutische Beziehung, psychomotorische Interaktionsprozesse, nonverbale Kommunikation) lassen sich identifizieren und beschreiben? ● Was wirkt in der Intervention? Z. B. spezifische (körperorientierte Interventionen) versus allgemeine (therapeutische Beziehung, Passung zwischen Therapeuten- und Patienten-Charakteristika etc.) Wirkfaktoren ● Wie viel bewirkt eine spefische Intervention? Ausmaß spezifischer Effekte (z. B. Symptom-Reduktion, Veränderungen im Körperbild) ● Wann wirkt die Intervention? Z. B. unter welchen Bedingungen, welche Therapeutenvariablen oder Umgebungsfaktoren sind ausschlaggebend? Anwendungs- und Interventionsforschung 2 | 2018 53 Manche dieser Fragen lassen sich mittels Fragebögen oder kategorialen Beobachtungen sowie qualitativen Inhaltsanalysen beantworten; andere jedoch erfordern ein methodisches Vorgehen, bei dem Einflussfaktoren möglichst weitgehend eingegrenzt werden und die Charakteristika der Probanden sehr gut vergleichbar sein müssen, dies wird als randomisiert-kontrolliertes Studiendesign beschrieben. Schon vor mehr als 15 Jahren stellten Slade und Priebe (2001) in einem Editorial des British Journal of Psychiatry hierzu eine entscheidende Frage: „Are randomised controlled trials the only gold that glitters? “ Die klare Antwort der Autoren war: Nein! Stattdessen beginnt sich in der Psychotherapieforschung allgemein ein Phasenmodell durchzusetzen (Aveline 2006 und Abbildung 1), in dem unterschiedliche methodische Vorgehensweisen zu unterschiedlichen Phasen der Interventions- und Anwendungsforschung eingesetzt werden. Ich möchte an dieser Stelle noch auf eine weitere Grundbedingung in der Psychotherapie-Forschung hinweisen: Jede verabreichte Hypothesenbildung “Trial and error” Interven9onen testen: Kasuis9ken Ist die Methode wirksam? EFFICACY: kontrollierte Studien Was wirkt unter welchen naturalis9schen Bedingungen? Was sind die Wirkfaktoren? qualita9ve Studien Prozess-Studien klinische Beobachtung und klinische Erfahrung EVALUATIONS- ALGORHYTHMUS / Forschungszyklus Abb. 1: Forschungszyklus Maßnahme oder Intervention entfaltet eine umschriebene Wirkung auf komplex miteinander verknüpfte Systeme (intra- und interindividuell). Hinzu kommen unspezifische Effekte (d. h. sowohl die allgemeinen Wirkfaktoren aber auch die zumeist als „Nebenwirkungen“ beschriebenen Effekte). Die Interventionen leisten dabei einen fokussierten Beitrag im komplexen Zusammenhang eines Gesamtbehandlungsplans, sie treten nie in Isolation in Erscheinung, auch wenn dies in experimentellen Studien (randomisiert-kontrollierte Bedingungen) angestrebt wird. Insofern sind in der Anwendungsforschung im Hinblick auf die zur Anwendung kommenden Interventionen immer (un)-spezifische Wirkmechanismen bei einer identifizierten Störung im Zusammenhang der Synergie-Effekte im System zu beurteilen. Diese Diskussion ist auch wichtig im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen der Effektivität und der Effizienz einer Therapie. Während die Effektivität sich unter Alltagsbedingungen („Feldstudien“) um eine Generalisierbarkeit der Untersuchungsergebnisse für große und inhomogene Gruppen 54 2 | 2018 Frank Röhricht bemüht („die Dinge richtig tun“), beschäftigen sich Effizienzstudien unter kontrollierten Bedingungen („Laboruntersuchungen“) mit der Frage, wie / ob systematisch manualisierte Interventionen bei eng vergleichbaren Gruppen zu spezifischen Therapieerfolgen führen („die richtigen Dinge tun“). Es ist insofern wichtig in der Planung eines Forschungsdesigns zur Psychotherapieforschung, eine klare Fokussierung auf die detaillierte Forschungsfrage und dementsprechende Hypothesen a priori zu definieren. Dabei empfiehlt es sich, ein Modell von der aktuell diskutierten störungsspezifischen Dynamik der psychopathologischen Phänomene zugrunde zu legen. Dies soll am Beispiel der chronischen Schizophrenie hier kurz erläutert werden. Die Zusammenstellung in Abbildung 2 zeigt, wie ein komplexes psychisches Störungsbild wie das der chronischen Schizophrenie multimodaler Therapieansätze bedarf, die an unterschiedlichen Ebenen des psychopathologisch-kompensatorischen Wirkgefüges ansetzen. D. h. die Frage nach dem Forschungsdesign in der Anwendungs- und Interventionsforschung erfordert zudem eine systematische Bezugnahme auf den jeweiligen Kenntnisstand zur Ätiologie der zu behandelnden Erkrankung bzw. der die Störung kennzeichnenden Dysfunktionalität. Ein solches Forschungsdesign wird sich in verschiedener Hinsicht begrenzen müssen: auf einen Teilbereich der Störung und auf Aspekte des Selbsterlebens, die sich aufgrund klinischer Erfahrung besonders gut mit körperorientierten Interventionen beeinflussen lassen. Schließlich bleibt im Rückbezug auf das eingangs skizzierte Dilemma auch festzustellen, dass die Erkenntnisgewinnung einer solchen Forschung begrenzt bleiben wird auf die artifiziell hier herausgegriffenen (d. h. den lebendigen, verkörperten Interaktionen entzogenen) Teilaspekten eines Integrals an Körper- / Selbsterfahrung. Ein vielversprechender neuer Forschungsansatz wird derzeit unter dem Stichwort „Social Neuroscience“ (Schilbach 2013) entwickelt. Hier könnten sich in Zukunft neue Ansätze für eine interaktionelle, relationale Feldforschung für die KOPT abzeichnen, doch Realitätsverlust Wahn-, Denk- Wahrnehmungsstörungen Gegenregulatorische Mechanismen (Schonhaltung, emo=onaler u. sozialer Rückzug) Komplexe kognitive u. psychosoziale Einengung Strukturelle Ich-Störung An#psycho#ka CBT KOPT: Tanz- und Bewegungstherapie Sensory Awareness Psychoeduka#on KPT (z.B. Grounding) Kogni#ve VT Familientherapie Kogni#ves Training Körperorien#erte Ich-Konsolidierung Abb. 2: Ansatzpunkte der Evaluationsforschung in der Therapie der chronischen Schizophrenie (Röhricht 2011b) Anwendungs- und Interventionsforschung 2 | 2018 55 ist die Methodik bislang noch an komplexe, experimentelle Laborbedingungen gebunden. Beispiel einer Anwendungs- und Interventionsforschung zur KOPT Ich möchte das nun abschließend konkret an einem Beispiel zur Interventionsforschung in der Körperpsychotherapie (KPT) illustrieren: eine randomisiert kontrollierte Pilotstudie zu KPT bei chronischer Depression. Ausgangspunkt war, wie eingangs gefordert, das phänomenologische Leitbild des depressiven Patienten. Dessen Phänomenologie tritt wie folgt subjektiv in Erscheinung: „Ich fühle mich wie erschlagen, wie unter einer schweren Last, die mich erdrückt und das Atmen und Bewegen sowie das Miteinander erschwert“. Diese repräsentative subjektive Beschreibung eines depressiven Zustandes korrespondiert mit Befunden aus phänomenologischer Forschung zum Zusammenhang von Depression und Körpererleben. Somatische Symptome wurden mittlerweile bei Depressionen als „common presenting features throughout the world“ herausgestellt (Bhugra / Mastrogianni 2003), insbesondere Müdigkeit, motorische Schwäche, Rücken- / Brust- / Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme und andere somatoforme Beschwerden. Studien identifizierten zudem spezifische Störungen im Körpererleben: negative Kathexis/ negatives Körperbild, Körper-Unzufriedenheit, Körper-Grenzstörung und somatische Depersonalisation (Marsella et al. 1981; Röhricht et al. 2002). Aus der Perspektive einer Bewegungsanalyse nach Laban wurde herausgestellt: „… lack of engagement with the efforts in depression, resulting in passivity in relation to flow, time, weight and space“ (Stanton- Jones 1992). Die Analyse der Gangmuster und der Körperhaltung depressiver PatientInnen zeigte ein ähnliches Befundbild: „reduced gait velocity, increased standing phases and slumped posture with reduced vertical movement of upper body“ (Wendorff et al. 2002; Michalak et al. 2009). Das phänomenologische Muster einer sich körpernah manifestierenden depressiven Störung kann- - anders als in der nosologischen Unterscheidung diagnostischer Kategorien üblich- - vor dem Hintergrund und im Sinne einer relational-funktionalen Psychopathologie als eine komplex-dynamische Leibregulationsstörung skizziert werden. Ich habe hierzu Prägnanztypen herausgearbeitet (Röhricht 2011a) und unterscheide zwischen 1. leibnahe Körper-Sein-Störungen, 2. alternierend leib-regulierte Körper-Haben-Störungen und 3. leibferne Entkörperungsstörungen. Beeinträchtigt ist hier jeweils das auf die homöostatische Bedürfnisregulierung und Stressminimierung ausgerichtete subjektive komplexe Zusammenspiel kognitiver, motorischer, affektiver und wahrnehmungsbezogener Aspekte des Selbsterlebens sowie die sozial eingebettete Selbstregulation. Die körperimmanenten Phänomene sind sowohl Symptome als auch Antwortmuster (z. B. Coping) der Störung. In der Depression-- einer leibnahen Körper- Sein-Störung- - erscheint der Körper als lastender Leib, und die Interventionsstrategie ist dementsprechend an die spezifische funktionale Phänomenologie störungsspezifisch angelehnt (siehe Tabelle 1). Das Studiendesign zur Evaluation einer an diesem Phänomen orientierten, manualisierten Vorgehensweise der KPT greift das oben eingeführte „Mixed-Method-Design“ auf, d. h. die Pilot-Studie wurde konzipiert als „RCT plus“ zur Evaluation der Effektivität mit einem definierten primären Outcome-Kriterium: Reduktion depressiver Symptome im Verlauf der KPT (Prä-Post-Vergleich mittels der Hamilton Depression Rating Skala). Zudem wurde ein sekundäres Outcome-Kriterium definiert: die Patienten-Einschätzungen zur subjektiven Lebensqualität (Testinstrument: Manchester Short Assessment Quality 56 2 | 2018 Frank Röhricht of Life Skala) und zum Selbstwert (Rosenberg Self-Esteem Skala). Die Frage nach den auf die Therapieeffekte mittelbar Einfluss nehmenden modulierenden Faktoren wurde auf die oben benannten Befunde zum Körperbild-Körpergrenz-Erleben und somatopsychische Depersonalisation (Body Distortion Fragebogen, Visual-Analog-Skalen) eingegrenzt. Im Hinblick auf die subjektiven Aspekte der qualitativen Prozess-Evaluation kamen zum Einsatz: 1. Sitzungsprotokolle (strukturiert und Laban Bewegungsanalyse), 2. Therapie-Patientenberichte nach abgeschlossener Behandlung und 3. jeweils ein evaluatives, semi-strukturiertes Interview mit dem Therapeuten. Die Studie wurde mit einem Wartegruppe- Design durchgeführt, d. h. alle Patienten erhielten im Verlauf der Studie die KPT, die auf der Grundlage eines störungsspezifischen Manuals über 20 Sitzungen à 90 Minuten Gruppentherapie mit sechs bis acht PatientInnen durchgeführt wurde. Einschlusskriterien für die Studie: chronische Depression mit mindestens zwei Jahren Dauer, hohes Basisniveau an Symptomen. Die in die Studie aufgenommenen PatientInnen hatten zuvor ≥ 2 Psychotherapien (Verhaltenstherapie und / oder Psychodynamische Psychotherapie) und zwei bis acht verschiedene Antidepressiva-Therapien (im Mittel 3.5). Die Ergebnisse der Pilotstudie (primäre / sekundäre Outcome-Parameter) wurden im Journal of Affective Disorders (Röhricht et al. 2013) publiziert und zeigten für die mittels KPT behandelten Patienten einen guten Effekt im Sinne einer Reduktion der Depressionssymptome sowie einen mäßigen (jedoch statistisch nicht signifikanten) Effekt auf die Verbesserung des Selbstwertes. Die subjektive Lebensqualität änderte sich nicht unter der (relativ kurzen) Behandlung. Die Ergebnisse der qualitativen Resultate hinsichtlich der therapeutischen Beziehung, der Bewegungsanalyse und der Therapieprozesse wurden separat publiziert (Papadopou- Phänomenologie Psychopathologie Körperpsychotherapie Der lastende schwere Leib Der Leib wird zum Leid Gedanken und Gefühle von Zerfall und Nihilismus, Kraftlosigkeit, Schwere- Gefühle, Müdigkeit, Schmerzen Gegenregulierung (körpereigene Ressourcen); gegen die Schwerkraft arbeiten („aus dem Sumpf“); Stimulation positiver Körpergefühle Zwischenleiblichkeit ∙ ∙ Abhängigkeiten ∙ ∙ Erwartungen ∙ ∙ Forderungen Vitalgefühlsstörungen, depressive Themen von Verlassen-Sein / Werden, Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit, niedriges Selbstwertgefühl Bedürfnisse wahrnehmen und artikulieren (gestisches Ausdrucksverhalten, „reaching / longing“), Stimm- / Atemübungen Lebensraum ∙ ∙ Nähe, Enge ∙ ∙ Mangel an expansiven Bewegungsimpulsen Psychomotorische Retardierung Fokussierung auf negativaggressive Affekte (versus Autoaggression), szenische Konfliktarbeit (Rollenspiel, Psychodrama) Tab. 1: Phänomenologie, Psychopathologie und Körperpsychotherapie bei Depression als leibnahe Körper-Sein-Störung Anwendungs- und Interventionsforschung 2 | 2018 57 Bhugra, D., Mastrogianni, A. (2003): Globalisation and mental disorders: overview with relation to depression. British Journal of Psychiatry 184, 10-20, https: / / doi.org/ 10.1192/ bjp.184.1.10 Fuchs, T., Schlimme, J. (2009): Embodiment and psychopathology: a phenomenological perspective. Current Opinion in Psychiatry 22, 570-575, https: / / doi.org/ 10.1097/ YCO.0b013e3283318e5c Geuter, U. (2015): Körperpsychotherapie: Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. Springer, Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-04014-6 Joraschky, P., von Arnim, A. (2009): Körperbildskulpturtest. In: Joraschky, P., Loew, T., Röhricht, F. (Hrsg.): Körperleben und Körperbild: Ein Handbuch zur Diagnostik. Schattauer, Stuttgart, 183-191 Koch, S. C., Fischman, D. (2014): Enaktive Tanztherapie. Systemtheoretische Ansätze in den Bewegungstherapien. körper-- tanz-- bewegung 2 (1), 3-11, https: / / doi.org/ 10.2378/ ktb2014.art02d Marsella, A. J., Shizuru, L., Brennan, J., Kameoka, V. (1981): Depression and body image satisfaction. Journal of Cross-Cultural Psychology 12, 360- 371, https: / / doi.org/ 10.1177/ 0022022181123007 Michalak, J., Burg, J., Heidenreich, T. (2009): Don’t forget your body: mindfullness, embodiment, and the treatment of depression. Psychosomatic Medicine 71, 580-587, https: / / doi. org/ 10.1097/ PSY.0b013e3181a2515c Papadopoulos, N., Röhricht, F. (2014): An investigation into the application and processes of manualised body psychotherapy for depressive disorder in a clinical trial. Body, Movement and Dance in Psychotherapy 9, 167-180, https: / / doi.org/ 10.1080/ 17432979.2013.847499 Probst, M., Knapen, J., Poot, G., Vancampfort, D. (2010): Psychomotor therapy and psychiatry: What’s in a name? The Open Complementary Medicine Journal 2, 105-113, https: / / doi.org/ 10.2174/ 1876391X010020010105 Röhricht, F. (2011a): Leibgedächtnis und Körper- Ich: zwei zentrale Bezugspunkte in der störungsspezifischen körperorientierten Psychotherapie. Psychologie in Österreich 4, 239-248 Röhricht, F. (2011b): Störungsspezifische Konzepte und Manualisierung versus allgemeine Psychotherapie. In: Röhricht, F. (Hrsg.): Störungsspezifische Konzepte in der Körperpsychotherapie. Psychosozial-Verlag, Gießen los / Röhricht 2014). Hier zeigte sich, dass die Patienten zu Beginn der Therapie zumeist Muster mit restriktivem, emotional dissoziiertem, auf den Binnenraum gerichtetem, expressivem Verhalten aufwiesen. Dieses Muster war zudem assoziiert mit einer Abkopplung der Emotionen von der Selbstwahrnehmung. Klinisch relevante Veränderungen in Körperhaltung und Gesten waren assoziiert mit Gefühlen von Befähigung / Ermächtigung. Die narrative und erlebnisnahe Verknüpfung unterdrückter Wut mit Gefühlen von Traurigkeit schien in einer Zunahme an Selbstvertrauen und Stimmungsaufhellung zu resultieren. Die Körperzufriedenheit nahm parallel leicht zu. Zusammenfassung und Ausblick Dieses Beispiel illustriert, wie eine multimodal konzipierte und von auf die KOPT bezogenen Hypothesen und Evaluationskriterien durchgeführte Anwendungs- und Interventionsforschung für unser Feld weiterführende Erkenntnisse gewinnen kann. Die Prozesse des Embodiment und der Bewegungs-Affektinteraktionen (z. B. nonverbale Kommunikation) sowie die neueren Befunde aus der neuroendokrinologischen Forschung bieten sich als weitere Parameter für diese Anwendungsforschung körperorientierter Psychotherapie an. Literatur von Arnim, A., Joraschky, P. (2009): Körperbildskulpturtest bei Fibromyalgiepatienten. In: Joraschky, P., Loew, T., Röhricht, F. (Hrsg.): Körperleben und Körperbild: Ein Handbuch zur Diagnostik. Schattauer, Stuttgart, 192-199 Aveline, M. (2006): Psychotherapy research: nature, quality, and relationship to clinical practice. In: Loewenthal, D., Winter, D. (Eds.): What is psychotherapy research? H. Karnac, London, 3-27 58 2 | 2018 Frank Röhricht Röhricht, F., Beyer, W., Priebe, S. (2002): Disturbances of body experiences in acute anxiety and depressive disorders-- neuroticism or somatization? Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 52, 205-213, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-2002-28524 Röhricht, F., Gallagher, S., Geuter, U., Hutto, D. D. (2014): Embodied cognition and body psychotherapy: the construction of new therapeutic environments. SENSORIA 10, 11-20, https: / / doi.org/ 10.7790/ sa.v10i1.389 Röhricht, F., Papadopoulos, N., Priebe, S. (2013): An exploratory randomized controlled trial of body psychotherapy for patients with chronic depression. Journal of Affective Disorders 151, 85-91, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.jad. 2013.05.056 Schilbach, L. (2013): Toward a second-person neuroscience. Bevavioral and Brain Sciences 36, 393-462, https: / / doi.org/ 10.1017/ S0140525X12000660 Slade, M., Priebe, S. (2001): Are randomised controlled trials the only gold that glitters? British Journal of Psychiatry 179, 286-287, https: / / doi. org/ 10.1192/ bjp.179.4.286 Stanton-Jones, K. (1992): Dance movement therapy in psychiatry. Routledge, London Tschuschke, V. (2010): Evidence-Based Medicine (EBM) und Psychotherapie-- Irrwege und Missverständnisse. Zeitschrift für Individualpsychologie 35, 226-238, https: / / doi.org/ 10.13109/ zind.2010.35.3.226 Waldenfels, B. (1999): Sinnesschwellen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ M. Wendorff, T., Linnemann, M., Lemke, M. R. (2002): Lokomotion und Depression. Fortschritte Neurologie Psychiatrie 70, 289-296, https: / / doi. org/ 10.1055/ s-2002-32025 Prof. Dr. med. Frank Röhricht Chefarzt und Klinischer Leiter der Erwachsenen-Psychiatrie in Newham / London, Associate Medical Director für Forschung, Innovation und Service Development der East London NHS Foundation Trust, Mitherausgeber von „körper-- tanz-- bewegung“. ✉ Prof. Dr. med. Frank Röhricht Newham Centre for Mental Health Glen Road | GB-London E13 8SP frank.rohricht@elft.nhs.uk