eJournals körper tanz bewegung 6/2

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Escrima in der Therapie

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Wolfgang Schäberle
Susanne Hofinger
Sabine C. Koch
Escrima ist eine philippinische Stockkampfkunst, die im Rahmen der Tanz­therapie in Deutschland mit zunehmender Beliebtheit therapeutisch eingesetzt wird. Hierbei wird körperpsychotherapeutisch insbesondere mit gezielten Übungen am Aufbau von Selbstvertrauen, am Erlangen von Klarheit und Abgrenzungsfähigkeit gearbeitet. Doch nicht nur in der Tanztherapie, sondern auch in angrenzenden Therapieformen, wie z. B. der Physiotherapie, entdeckt man Escrima als eine nützliche therapeutische Komponente. Dieser Artikel stellt Grundzüge des Escrima, therapeutische Ziele und die Anwendung innerhalb der Tanz- und Bewegungstherapie dar. Ein physiotherapeutisches Fallbeispiel zeigt die Möglichkeiten der Stockkampfkunst auf, körperlich manifeste Beschwerden zu lindern. In beiden Feldern kann der Patient von Escrima profitieren. Mögliche gemeinsame Wirkfaktoren werden am Ende des Beitrags diskutiert.
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Fachbeitrag 59 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 59-67 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art09d © Ernst Reinhardt Verlag Escrima in der Therapie Philippinische Stockkampfkunst in Tanz- und Physiotherapie Wolfgang Schäberle, Susanne Hofinger, Sabine C. Koch Escrima ist eine philippinische Stockkampfkunst, die im Rahmen der Tanztherapie in Deutschland mit zunehmender Beliebtheit therapeutisch eingesetzt wird. Hierbei wird körperpsychotherapeutisch insbesondere mit gezielten Übungen am Aufbau von Selbstvertrauen, am Erlangen von Klarheit und Abgrenzungsfähigkeit gearbeitet. Doch nicht nur in der Tanztherapie, sondern auch in angrenzenden Therapieformen, wie z. B. der Physiotherapie, entdeckt man Escrima als eine nützliche therapeutische Komponente. Dieser Artikel stellt Grundzüge des Escrima, therapeutische Ziele und die Anwendung innerhalb der Tanz- und Bewegungstherapie dar. Ein physiotherapeutisches Fallbeispiel zeigt die Möglichkeiten der Stockkampfkunst auf, körperlich manifeste Beschwerden zu lindern. In beiden Feldern kann der Patient von Escrima profitieren. Mögliche gemeinsame Wirkfaktoren werden am Ende des Beitrags diskutiert. Schlüsselbegriffe Stockkampf, Escrima, Tanz- und Bewegungstherapie, Physiotherapie, Fallbeispiel, Wirkfaktoren Escrima in Therapy. Filipino Stick Fighting in Dance Movement Therapy and Physiotherapy Escrima is a Philippian martial art of stick fighting. The method is increasingly utilized therapeutically in the context of dance movement therapy (DMT). Employed as body-oriented psychotherapy interventions Escrima techniques particularly work through targeted exercises to increase self-confidence, gain more clarity, and the ability to set boundaries. Adjacent therapeutic modalities, such as physiotherapy, have also discovered Escrima as a useful therapeutic technique. This article presents the principles and therapeutic aims of Escrima in the context of DMT. A case example from physiotherapy demonstrates the potential of Escrima to address complaints that manifest on the somatic symptom level. Escrima can be employed in both fields for the benefit of patients. Finally, potential common therapeutic factors are discussed. Key words stick fight, Escrima, dance movement therapy, physiotherapy, case example, therapeutic factors A uf den ersten Blick scheint es kaum etwas Gegensätzlicheres zu geben als Escrima und Therapie, insbesondere Tanztherapie: Wo im Kampf die stockgestützte Auseinandersetzung mit dem anderen im Zentrum steht, verhilft die tanztherapeutische Arbeit zur leibhaften Begegnung mit sich selbst. Ist Escrima als Form der tradierten philippini- 60 2 | 2018 Schäberle, Hofinger, Koch schen Kampfkünste dem Überlebenskampf verpflichtet, sucht die Tanztherapie, das Heilsame im Menschen zu stimulieren. Es mag daher überraschen, dass sich Escrima in den vergangenen Jahren zunehmend sowohl in klinischen als auch selbsterfahrungsbezogenen Kontexten als bereichernde Technik der Tanztherapie erwiesen hat. Die theoretische und empirische Begründung hierfür ist noch zu leisten, und der vorliegende Artikel versteht sich als ein Schritt in diese Richtung. Dabei ist ein Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin hilfreich: Auch in der Physiotherapie mit ihrem Anspruch, physiologisch-kinematische Beeinträchtigungen zu lindern oder zu heilen, bewährt sich die philippinische Kampfkunst als Methode. Nach einer Vorstellung der beiden Anwendungsfelder diskutieren wir am Ende dieses Artikels gemeinsame Wirkfaktoren. Von der Kampfkunst zur Tanzkunst: Stockkampf in der Tanztherapie Die Kampfkunst Escrima ist Resultat der philippinischen Geschichte mit ihren vielen Invasionen auf den mehr als 7000 Inseln. Hier war es einerseits überlebenswichtig, sich effektiv verteidigen zu können, andererseits erlernten die Philippinos von jedem eindringenden Volksstamm neue Kampftechniken. So konnten sich bis zum heutigen Tag differenzierte Kampfsysteme für den Nah- und Distanzkampf entwickeln, die waffenlos oder mit Pfeil und Bogen, Lang- und Kurzstock, Faust- oder Klingenwaffen praktiziert werden (Siebert 2006, 32 f ). Im therapeutischen Kontext werden Elemente aus dem Stockkampf, in der Sprache der Philippinos „Kali“, „Arnis“ oder auch „Escrima“, eingesetzt. Häufig werden dabei die Prinzipien des Waffenkampfes auf den waffenlosen Kampf übertragen. Escrima steht traditionell für einen Kampf auf Leben und Tod. Das spiegelt auch die Bezeichnung wider: Der Begriff „Escrima“ wird entweder vom spanischen „esgrimir“ = Fechten, Fechtkunst hergeleitet oder von „escribir“ = schreiben. Letzteres verweist auf den Macheten-gestützten Kampf, bei dem regelrecht mit Blut geschrieben wurde (Siebert 2006, 13). Seine Affinität zum Tanz bewies Escrima zur Zeit der spanischen Besatzung im 18. Jahrhundert, als die spanische Führung alles verbot, was die philippinische Tradition ausmachte. Im Tanz konnten jedoch nicht nur die traditionellen Schriftzeichen auf den Gewändern der Tänzer überleben, sondern auch die Bewegungen des Escrima. „Viele schöne und runde Bewegungen sind hieraus hervorgegangen. Die Kampftänze mit ihren hinreißenden Rhythmen, begleitet durch die eindringlichen Trommeln und stampfenden Füße der Krieger, sind eine beeindruckende Sache […].“ (Siebert 2006, 22) In der tanztherapeutischen Nutzung wird der Kampf umgedeutet: Alle im Ursprung kämpferischen Aktionen werden als Spiegel der Auseinandersetzung mit sich selbst verstanden (Sheets-Johnstone 2010). Wo in der ursprünglichen Kampfkunst Schläge den Gegner treffen und verletzen sollen, übernimmt in der therapeutischen Arbeit jeder Partner Verantwortung für sich und den anderen, damit gerade niemand verletzt wird. Bausteine der Kampfkunst Escrima sind Schläge und Blöcke. Während Blöcke der Abwehr dienen, werden Schläge offensiv eingesetzt. Meist werden die Aktionen des Escrima unter Zuhilfenahme von ein oder zwei Kurzstöcken (ca. 60 cm), mit einem Langstock (ca. 180 cm) oder Klingenwaffen ausgeführt. Die Stöcke werden ausschließlich aus Rattan hergestellt, ein Schilfrohr, das nicht brechen kann: Wenn die zahlreichen im Rohr gebündelten Fasern ihre Kohäsion verlieren, verliert der Stock nach und nach seine Stabilität, bis er sich irgendwann schlaff durchbiegt. Wichtig: Holzstöcke sind für die Arbeit ungeeignet, da durch die Bruchgefahr ein enormes Verletzungsrisiko besteht. Escrima in der Therapie 2 | 2018 61 In der therapeutischen Arbeit sind verschiedene Folgen von Schlagmustern („Sinawali“) verbreitet. Diese Schlagmuster unterscheiden sich sowohl im Takt als auch danach, ob sie mit einem Stock („Single-Sinawali“) ausgeführt werden oder mit beiden Stöcken („Double- Sinawali“). Nach der Armstellung zu Beginn eines Schlagmusters werden offene und geschlossene Sinawalis unterschieden. Sinawalis können in unzähligen Kombinationen geübt, zu Gruppenchoreographien zusammengestellt oder auch spielerisch genutzt werden. Auch Wurftechniken und choreographische Bewegungsfolgen kommen vor. In sogenannten „Katas“ werden Schläge und Blöcke stark verlangsamt, eher meditativ ausgeführt. Die Verbindung der Kampfkunst Escima mit der therapeutischen Arbeit wird von unterschiedlichen TherapeutInnen angeboten, die Seminare und Kurse sowie z. T. auch Einzelarbeit durchführen. Ziele der Stockkampfkunst im therapeutischen Kontext Bei der Literatursuche stießen wir auf eine Masterarbeit, die Stockkampf im Anwendungskontext der Beratung untersuchte (Morant 2014), sowie eine therapeutische Quelle mit Bezug zur Kinder- und Jugendpsychiatrie (Schmidt 2016). Die nachfolgende Darstellung speist sich aus Trainings mit Experten und der praktisch-therapeutischen Arbeit. Die folgenden Prinzipien treten hervor: Klarheit Die wichtigste Modifikation der therapeutischen Anwendung von Escrima besteht darin, dass es nicht darum geht, den Gegner zu treffen. Dennoch soll jeder Schlag äußerst klar und zielgerichtet erfolgen, wie unten in der Bewegungsbeschreibung der Figure Eight beschrieben. Das erfordert viel Übung, die mit der Visualisierung der Ziele beginnt: Ein Schlag wird z. B. eindeutig in Richtung des Schlüsselbeins des Gegenübers ausgeführt, trifft aber ausschließlich dessen Stock. Zentral für die Arbeit mit den Stöcken ist die Klarheit von Zielen und Richtungen. Stockkampfkunst setzt große geistige Klarheit voraus und fördert sie zugleich. Achtsamkeit Wer einmal einen Escrima-Stock in Händen hält, merkt rasch, dass er mit einem schlagkräftigen Medium ausgestattet ist. Das Material fordert die ganze Aufmerksamkeit auf das, was im Hier und Jetzt geschieht. Das wiederum geht einher mit Wachheit im Umgang mit dem Stock, mit dem anderen und mit sich selbst. Teilnehmer von Escrima-Gruppen melden regelmäßig zurück, dass der Umgang mit den Stöcken zu angenehmer Wachheit und Konzentration führe. Aggressionsarbeit Escrima-Stöcke kanalisieren aggressive Impulse hin auf genau definierte Ziele. Daher dient Stockkampfkunst als Möglichkeit kontrollierter Aggressionsabfuhr. Besondere Bedeutung hat hierfür die Begrenzung des eigenen Schlages durch den Partner, die als vibrationsauslösende Gegenbewegung körperlich deutlich spürbar ist: Der eigene, efferente Schlag erhält Antwort durch die afferente Rückmeldung, die durch den Impuls des Partners und dessen Interferenz mit dem eigenen Impuls ausgelöst wird. Durch Interferenz wird aus Efferenz Afferenz. Es ist, als ob der eigene Impuls in der Begegnung mit dem anderen transformiert würde und mit neuem Inhalt zurückkäme. Erlebt wird dieser Prozess als Aggressionsbegrenzung durch den Partner und Aggressionskontrolle durch sich selbst. Beides geht in der Regel mit Entlastung einher. Für die Therapie sind diese Aspekte von unschätzbarem Wert im Rahmen der Erfahrung von Körperfeedback, körperlicher Selbstwirksamkeit, Selbst-, Emotions- und interpersonaler Regulation. 62 2 | 2018 Schäberle, Hofinger, Koch Fallbeispiel: Die 20-jährige Patientin einer psychosomatischen Klinik berichtet in der Körpertherapie, sie könne ihren Körper nicht spüren. Lediglich die Innenseiten der Unterarme-- von selbstverletzendem Verhalten deutlich gezeichnet-- nehme sie manchmal wahr, wenn sie aggressiv würde. Die Richtung der Aggression sei nach innen, also auf die Patientin zu. Nach wenigen Schlägen mit den Stöcken-- sicher begrenzt von der Therapeutin-- lächelt die junge Frau. Der ganze Körper entspannt etwas, während sie die Schläge zunehmend klarer und zielgerichteter ausführt. Erkennbar entlastet die Aggressionsumkehr-- nach außen-- die Patientin durch sichere Begrenzung und die Erfahrung von Aggressionskontrolle. Voraussetzung einer erfolgreichen therapeutischen Arbeit ist der unabdingbar achtsame Umgang mit dem Material, dem Partner und sich selbst. Das gelingt, nach Erfahrung der Letztautorin, auch Strafgefangenen des Hochsicherheitstraktes mit entsprechenden Regeleinführungen sehr gut (Koch et al. 2015). In einem speziell konzipierten tanz- und theatertherapeutischen Emotionsregulationstraining von Fabian Chyle und Ingrid Lutz zeigten sich die strafgefangenen Männer ausgesprochen zugänglich für die Arbeit mit dem Stockkampf (Aikido-Langstöcke) und gaben an, insbesondere von seinen ästhetischen Komponenten zu profitieren (Koch et al. 2015). Grenzen und Abgrenzungsmuster Escrima ist naturgemäß Arbeit an den eigenen Grenzen: Der typische Kurzstock verlängert den Arm etwa um seine eigene Länge. Damit ist der Aktionsradius deutlich vergrößert und ermöglicht auch außerhalb der eigenen Kinesphäre Schläge und Blöcke. Partnerwechsel machen Muster bewusst, die wir üblicherweise nicht erleben können, wie etwa einen Schlag nur abzufedern, anstatt ihn eindeutig zu begrenzen, aus der eigenen Mitte herauszufallen, dem Partner oder sich selbst kaum Raum zu lassen. Escrima in der Tanztherapie ist Arbeit mit Mustern an den interpersonalen Grenzen. Zentrale Aspekte der Stockkampfkunst in der Psychotherapie sind damit benannt. Sie gelten ebenso für den Patienten wie für den Therapeuten. Die Anwendung von Stockkampfkunst in der Therapie setzt die eigene intensive und längerfristige Auseinandersetzung mit dem Material voraus. Doch nicht nur in der Psychotherapie, auch in der Physiotherapie lässt sich Escrima therapeutisch sinnvoll nutzen. Die Figure Eight der Kampfkunst Escrima in der physiotherapeutischen Behandlung-- Ein Patientenbeispiel Die schmerzhaft adhäsive Capsulitis des Schultergelenks wird in der Physiotherapie u. a. mit der Therapiemethode der manuellen Therapie (MT) behandelt. Der vorgestellte Patient wurde mit einer Kombination aus MT und der Figure Eight der Kampfkunst Escrima therapiert. Manuelle Therapie Die manuelle Therapie (MT) basiert auf einem kausal mechanischen Befund- und Therapiemodell. Bei der MT muss der Therapeut beim Befund und der daraus resultierenden Therapiestrategie zwei Aspekte berücksichtigen: den mechanischen und den neurophysiologischen Aspekt eines Gelenks. In der MT wird die ursächliche Störung in der Dysfunktion der Arthrokinematik gesehen (Frisch 1995). Aus dieser können sich kausale Ketten von Funktionsstörungen entwickeln. Adhäsive Capsulitis (frozen shoulder) Durch eine Entzündung unbekannter Genese kommt es ähnlich wie beim M. Dupuytren zu einer Fibroblastenproliferation mit Verdickung der Synovialmembran und anschließend zur Kapselkontraktur. Die Schmerzphase („freezing“) ist charakterisiert durch schleichend Escrima in der Therapie 2 | 2018 63 zunehmende Schmerzen) sowie eine zunehmende Bewegungseinschränkung (Jung et al. 2005). Basierend auf dem vorgestellten Denkmodell der MT ist das Ziel der Behandlung primär, die eingeschränkte Arthrokinematik durch Kapsel- Mobilisationstechniken zu beseitigen. Durch gezielte manuelle Grifftechniken wird dabei versucht, die Kapselstruktur zu regulieren und durch entsprechend stabilisierende und mobilisierende Übungen im wieder erreichten Bewegungsausmaß zu stabilisieren. Letzteres erfolgte bei diesem Patientenbeispiel anhand der Figure Eight der Kampfkunst Escrima. Anamnese Herr P. ist 76 Jahre alt und zeigte sich in gutem Ernährungszustand. Er war beruflich kaufmännisch selbstständig und ist seit dem 68. Lebensjahr im Ruhestand. Aufgrund eines fünf Jahre zurückliegenden Skiunfalls, bei dem sich der Patient eine Teilruptur der Sehne des M. Supraspinatus zuzog, die konservativ versorgt wurde, zeigte der Patient konstante Schmerzen in der rechten Schulter. Der Patient hatte zunehmend Schwierigkeiten, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Es wurde von ärztlicher Seite neben der Teilruptur eine beginnende Capsulitis diagnostiziert. Die Schmerzen traten schon bei geringer Belastung auf. Befunddaten 1. Bewegungsausmaß: rechtes Schultergelenk, Flexion / Extension: 130-0-20 °, Abduktion / Adduktion: 40-0-20 °, Außenrotation / Innenrotation: 30-0-40 °. 2. Muskelfunktions-Test (MFT) nach Kendall (Kendall/ Kendall McCreary 1983): Das Schmerzempfinden wurde anhand der visuellen analogen Schmerzskala (VAS) mit einer Range von 0 = kein Schmerz bis 10 = maximaler Schmerz gemessen. ∙ Außenrotatoren: MFT 3-4, schmerzhaft bei Widerstand (VAS 6) ∙ Innenrotatoren: MFT 4, keine Schmerzauslösung bei Widerstand ∙ Flexoren: MFT 3-4, schmerzhaft bei Widerstand (VAS 6) ∙ Extensoren: MFT 4, keine Schmerzauslösung bei Widerstand ∙ Abduktoren: MFT 3-4, schmerzhaft bei Widerstand (VAS 7) ∙ Adduktoren: MFT 4, keine Schmerzauslösung bei Widerstand 3. Palpation: Schmerzhafte Druckpalpation des Ansatzes des M. supraspinatus. Schmerzeinschätzung des Patienten: VAS 7 Manuelle Therapie Der Patient wurde in den ersten drei Behandlungseinheiten ausschließlich mit der manuellen Therapie behandelt. Ziel war die Vergrößerung des Bewegungsausmaßes im glenohumeralen Gelenk durch Techniken des Caudalgleitens und der Traktion. Weiter wurde die Verbesserung der Außenrotation durch manuelle Gleittechniken erarbeitet. Die Ziele waren nach drei Behandlungseinheiten erreicht. Es zeigte sich folgendes Bewegungsausmaß: Flexion / Extension 140-0-30 °, Außenrotation / Innenrotation: 45-0-45 °, Abduktoren / Adduktoren 70 -0-30 °. Die Schmerzsituation verbesserte sich auf VAS 6. Ab diesem Zeitpunkt erfolgte keine weitere passive Therapie (MT). Es wurden die Ziele der aktiven Bewegungstherapie verfolgt. Diese sind u. a. die eigenverantwortliche Aktivität, das selbstständige Erhalten des erreichten Bewegungsausmaßes, die Entwicklung der Körperwahrnehmung und die Reduzierung der Schmerzsituation durch aktive Therapie. Dies wurde durch die Bewegungen der Figure Eight aus der Kampfkunst Escrima trainiert. Figure Eight aus der Kampfkunst Escrima Die Figure Eight ist die Grundbewegung in vielen Escrima-Stilrichtungen. Sie stellt eine liegende Acht in der Frontalebene dar (Abb. 1). Mit Blick auf das vorliegende Patientenbeispiel 64 2 | 2018 Schäberle, Hofinger, Koch wird die Figure Eight ausschließlich für die Bewegungen des Schultergelenks beschrieben. Entlang der Acht wird der Angriffsschlag Nummer 1 beim Rechtshänder von schräg oben rechts diagonal nach unten links geschlagen. In der Ausgangsstellung befindet sich die Schulter zunächst in Außenrotation, Flexion und Abduktion. Die folgende Bewegung im Schultergelenk wird fließend mit einer Außenrotation, Extension und Adduktion durchgeführt bis zur Endstellung links unten. Von dort schwingt der Arm entlang der Acht in einer kreisenden Bewegung nach links oben. Eingeleitet wird diese Bewegung durch eine maximale Innenrotation, Adduktion und Flexion des Schultergelenks. Beim Erreichen des höchsten Punktes der Acht oben links wird der Ausgangspunkt für den Angriffsschlag Nummer 2 erreicht. Die Bewegung verläuft nun von links oben diagonal nach rechts unten. Dabei bewegt sich das Schultergelenk mit einer horizontalen Abduktion und Extensionsbewegung zur Körpermitte, wobei die Innenrotation beigehalten wird. Nach Überschreitung der Körpermitte dreht die Schulter in Außenrotation und Adduktion. Bei Erreichen des Endpunktes rechts unten dreht das Schultergelenk in maximaler Außenrotation und endet durch eine Flexions- und Abduktionsbewegung entlang der Acht wieder in der Ausgangsposition von Schlag Nummer 1. Aus diesem Schlagmuster entsteht ein endloser Schlagrhythmus, der progressiv variabel trainiert werden kann. Durch die Länge und Gewichte der Stöcke kann die Trainingsbelastung adäquat angepasst werden. Auch durch die variable Beugung und Streckung des Ellenbogengelenks kann der Radius der Figure Eight belastungsprogressiv gestaltet und dadurch therapeutisch genutzt werden. Durch die Bewegung entlang der Acht führt das Schultergelenk über den gesamten Bewegungszyklus hinweg physiologische dreidimensionale Bewegungsmuster durch. Dabei werden alle schulterumgebenden Muskeln beansprucht. Durch die z. T. endgradigen Bewegungen wird der vorhandene Bewegungsradius des Schultergelenks maximal genutzt und stabilisiert. Abb. 1: Figure Eight Foto: Emmert 2015, 24 Escrima in der Therapie 2 | 2018 65 Verlauf Der Patient kam insgesamt zehnmal zur ambulanten Physiotherapie. Die zu Beginn vorwiegend passiv durchgeführte manuelle Therapie wurde von Herr P. als schmerzhaft empfunden (VAS 8). Jedoch war seine Compliance aufgrund der spürbaren Verbesserung des Bewegungsausmaßes der Schulter hoch. Zu Beginn hatte der Patient kurzzeitig Koordinationsprobleme bei der Umsetzung der Bewegung der Figure Eight. Nach der vierten Wiederholung konnten die Bewegungen langsam fließend durchgeführt werden. Er schilderte nach der sechsten Woche eine Schmerzreduzierung auf VAS 3. Die Muskelfunktionswerte nach Kendall/ Kendall McCreary (1983) lagen bei allen Bewegungsrichtungen bei MFT Wert 4 (Range 0 = keine Muskelaktivität bis 5 = Maximalkraft). Lediglich bei der Palpation der Sehne des M. Supraspinatus gab der Patient noch einen VAS-Wert von 4 an. Der Patient konnte seinen häuslichen und familiären Verpflichtung wieder zufriedenstellend nachkommen. Zudem äußerte er eine Verbesserung seiner Konzentrationsfähigkeit, die er auf die intensive und gewissenhafte Durchführung der Figure-Eight-Bewegung zurückführte. Auch fühlte er sich durch die harmonische und doch anstrengende Bewegung der Figure Eight enorm vitalisiert und belastbar. Er konnte auch wieder tiefer und erholsamer schlafen. Eine Rückmeldung des Patienten nach sechs Monaten zeigte eine positive Situation. Die Beweglichkeit der Schulter wurde von ihm als gut empfunden, die Schmerzsituation skalierte er konstant bei VAS 2, womit er gut zurechtkam. Er konnte seinen Verpflichtungen nach eigenem Einschätzen nachkommen. Die Eigenübungen der Figure Eight zu Hause führte der Patient mit entsprechender Gewissenhaftigkeit durch. Nach eigenen Worten handelte es sich hierbei für ihn um ein festes Ritual, bei welchem er Zeit für sich und seine Gesundheit hatte. Dieses aktive Ritual empfand Herr P. als sehr angenehm. Er überlegte, einer Escrimaschule beizutreten, um die Kampfkunst als solche zu erlernen. Aus tanz- und bewegungstherapeutischer Sicht lassen sich übereinstimmende Ziele (Stärkung von Aktivität und Zentrierung) und Resultate beschreiben: Wiedererlangung der Selbstwirksamkeit als wesentlicher Bestandteil der physischen und psychischen Gesundheit (Einstellungsebene), sich selbst als aktiv und in Kontrolle erleben (Verhaltensebene), wohltuende Aktivität zwischen Anspannung und Entspannung (emotionale Ebene, Verhaltensebene), körperliches Training und beruhigendes, zentrierendes Ritual (emotionale und ganzheitliche Ebene), welches auch die Konzentrationsfähigkeit verbessert (kognitive Ebene). Neben der physiologischen Ebene ist somit beim Escrima im Sinne der integrativen Medizin das psychische Befinden entschieden miteinbezogen. Diskussion In diesem Artikel haben wir die Prinzipien des Escrima, die in der Tanztherapie zum Einsatz kommen, sowie die Verwendung von Escrima in der Physiotherapie anhand eines Beispiels reflektiert. An den Unterschieden ließ sich feststellen, dass in der Physiotherapie stärker funktional, in der Tanz- und Bewegungstherapie stärker an psychotherapeutischen und interaktionalen / sozialen Zielen gearbeitet wird. Unserem Beispiel aus der Physiotherapie geschuldet, erscheint es zudem so, als sei die Arbeit dort stärker individuell und die Arbeit in der Tanztherapie stärker an der Partnerarbeit orientiert. Obwohl dies ein Trend sein mag, möchten wir betonen, dass beide Formen in beiden Feldern genutzt werden können. Mögliche Wirkfaktoren Auf der Grundlage der Fallbeispiele und der therapeutischen Erfahrungen scheinen gemeinsame Wirkfaktoren von Escrima in der individuellen Arbeit der fließende, runde und repetitive Charakter und der fast mühelose Bewegungsfluss, der durch die runde und repetitive Form 66 2 | 2018 Schäberle, Hofinger, Koch (endloser Charakter der Figure Eight) zustande kommt, zu sein. Dieser erhöht-- möglicherweise durch das Schönheitsempfinden- - die Funktions- und die Übe-Lust: Um die Übungsmotivation zu erhöhen, kann man dem Patienten auch fließende Musik mitgeben oder empfehlen, die je nach Indikation und angestrebter Tonusveränderung eher ruhiger oder eher anregender sein kann. Die Acht kann den Übenden in einen kontemplativen Zustand versetzen; sie kann nach den Prinzipien der Mindfulness Meditation praktiziert werden: Der Fokus auf die einfache und klare Form hilft, im Hier und Jetzt zu bleiben, auf das Spüren zu fokussieren, vom Bewerten abzusehen etc. Die runden Übergänge der Figure Eight und die Möglichkeit, die Kraft selbst zu dosieren, führen gemeinsam dazu, dass die Bewegung über lange Zeiträume aufrechterhalten werden kann. Über das Körperfeedback (also die Reafferenz-Schleife, siehe von Holst/ Mittelstaedt 1950) wird dabei ein positiverer Affekt ausgelöst als bei einer Bewegung, die eckige Übergänge nutzt (Koch 2014). Runde Übergänge im Wechsel zwischen An- und Entspannung werden oft als lustvoll (Funktionslust) und spielerisch empfunden (Koch 2011, 2014). Bei der therapeutisch genutzten Figure Eight ist kein großer Wechsel zwischen An- und Entspannung nötig. Auch andere östliche Kampf- und Gesundheitsformen wie Tai Chi und Qi Gong arbeiten mit der Figure Eight unter Beachtung des kleinstmöglichen Kraftaufwands (ein „müheloses Fließen“). Nicht umsonst steht die Figure Eight als Symbol für Unendlichkeit. Auch gibt es vielfältige Möglichkeiten, mit der Figure Eight auf der persönlichen Körperebene zu arbeiten. Je nach bildlicher Positionierung der Acht in der vertikalen, horizontalen oder sagittalen Ebene können entlang des Verlaufes der Acht alle Gelenke und die Wirbelsäule funktionell bewegt werden. Auch kombinierte bilaterale und reziproke Kombinationsbewegungen, z. B. eines Arms und Beins, lassen sich im Verlauf der Acht durchführen. In der Psychomotorik, Kinesiologie und energetischen Psychotherapie (Bohne / Zimmermann 2008) verwendet man die liegende Acht zur Zentrierung, Harmonisierung, Lockerung, Verbindung der Hirnhälften sowie als Vorstufe zu Schreibübungen und empfiehlt sie im Bereich ADHS, Lese-Rechtschreibschwäche etc. Ein neurologisch wirksamer Mechanismus ist dabei das aktive Kreuzen der Mittellinie der Körperhälften. Die interaktive Arbeit mit Escrima eignet sich zur Bearbeitung von Themen wie Vertrauen, Klarheit, Grenzen setzen oder Umgang mit Aggressionen (soziales Probehandeln im geschützten Raum). Eigenes Körperfeedback, interaktives Körperfeedback, Rhythmus, Resonanz, Gleichklang, Clashes, Widerstand, Zerfall (Attunement, Adjustment, Attachment) stehen im Fokus. Hier liegen die Wirkfaktoren eher im Bereich des Körperfeedbacks (Koch 2014), der nonverbalen Kommunikation, des Spiegelns, der Symbolisierung, der verkörperten Ästhetik (Koch 2017), der Musterbildung, -unterbrechung und -flexibilisierung (Kriz 2017). Fazit Die Arbeit mit Escrima kann zur Verbesserung der physischen Funktionalität und zur Schmerzreduktion beitragen, die subjektive Belastung verbessern und interpersonale Aspekte spürbar und veränderbar machen. Wir hoffen, in diesem Artikel einen ersten interdisziplinären Schritt getan zu haben, dem weitere Explorationen der therapeutischen Bedeutung von Escrima folgen. Wir glauben, dass es sich lohnt, das Potential der Kampfkunst Escrima für die Therapiewissenschaften weiter auszuloten. Darüber hinaus haben wir gelernt, unsere fachlichen Schwerpunkte- - die Bedeutung des funktionalen und des psychischen Aspekts von Bewegung-- wertzuschätzen. Die gemeinsame Arbeit aus der Perspektive der klassischen und der künstlerischen Therapieformen stärkt die Erkenntnis: Körperarbeit berührt immer das Physische und das Psychische zugleich. Bei- Escrima in der Therapie 2 | 2018 67 des gehört nach der Gesundheitsdefinition der WHO untrennbar zusammen- - als unverzichtbare Bestandteile der Lebensqualität unserer PatientInnen. Literatur Bohne, M., Zimmermann, M. (2008): Einführung in die Praxis der energetischen Psychotherapie. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg Emmert, K. (2015): Escrima. Im Zeichen der 8. Online-Druck, Krumbach Frisch, H. (1995): Programmierte Untersuchung am Bewegungsapparat. 5. Aufl. Springer, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-09495-2 von Holst, E., Mittelstaedt, H. (1950): Das Reafferenzprinzip. Naturwissenschaften 37 (20), 464- 476, https: / / doi.org/ 10.1007/ BF00622503 Jung, J., Kelm, J., Nührenbörger C., Seil, R. (2005): Schultersteife im Sport. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 56 (9), 339-340 Kendall, F., Kendall McCreary, E. (1983): Muskeln. Funktionen und Tests. 2. Aufl. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart Koch, S. C. (2014): Rhythm is it: Effects of dynamic body feedback on affect and attitudes. Frontiers in Psychology 5, 537. In: www.frontiersin.org/ articles/ 10.3389/ fpsyg.2014.00537/ full, 17.11.2017, https: / / doi.org/ 10.3389/ fpsyg.2014.00537 Koch, S. C. (2011): Embodiment. Der Einfluss von Eigenbewegung auf Affekt, Einstellung und Kognition. Experimentelle und klinische Studien. Logos, Berlin Koch, S. C., Ostermann, T., Steinhage, A., Kende, P., Haller, K., Chyle, F. (2015): Breaking barriers: Evaluating an arts-based emotion regulation training in prison. The Arts in Psychotherapy 42, 41-49, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.aip.2014.10.008 Kriz, J. (2017): „Angemessene Verstörung“ als Schlüsselkonzept für Beratungsprozesse. KONTEXT 48 (3), 234-242, https: / / doi.org/ 10.13109/ kont.2017.48.3.234 Morant, Y. (2014): Elemente der Stockkampfkunst in der Beratung. Unveröffentlichte Masterarbeit, Hochschule St. Gallen Schmidt, B. (2016): Escrima als Medium in der bewegungstherapeutischen Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Deimel, H.; Thimme, T. (Hrsg.): Bewegungs- und Sporttherapie bei psychischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters. Bd. 38. Academia Verlag, St. Augustin, 2016, 206-215 Sheets-Johnstone, M. (2010): The enemy: A twentyfirst century archetypal study. Psychotherapy and Politics International 8 (2), 146-161, https: / / doi.org/ 10.1002/ ppi.220 Siebert, G. (2006): Arnis-- Escrima-- Kali. Die Kunst der wirbelnden Stöcke. Lehrbuch für den Stockkampf. 6. Aufl. Weinmann, Berlin Philosophiae Doctor en Ciencias de la Salud (Dr.) Wolfgang Schäberle (Univ. Central/ NIC) Physiotherapeut und Gesundheitswissenschaftler, (Vertr.-)Professur an der SRH Hochschule Heidelberg. Forschungsinteressen: Geriatrie, tiergestützte Begleittherapie, evidenzbasierte Physiotherapie in der inneren Medizin. Dipl. Päd. Susanne Hofinger Tanz- und Bewegungstherapeutin, M.A., beschäftigt sich seit 2013 mit Escrima als Tanzkunst. Bis Oktober 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Therapiewissenschaften der SRH Hochschule Heidelberg, nun vor allem therapeutisch tätig. Prof. Dr. phil. habil. Sabine C. Koch Psychologin, Tanz- und Bewegungstherapeutin, leitet das Forschungsinstitut für Künstlerische Therapien (RIArT) an der Alanus Hochschule Alfter und den Master Tanz- und Bewegungstherapie an der SRH Hochschule Heidelberg. Forschung u. a. zu Embodiment. ✉ SRH Hochschule Heidelberg Fakultät für Therapiewissenschaften Maria-Probst-Str. 3 | D-69123 Heidelberg wolfgang.schaeberle@srh.de