körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow!
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Krisztina Berger
Im Rahmen einer qualitativen empirischen Felduntersuchung wurde ein tanztherapeutisches Konzept ‚Vom Stress zum Flow‘ entwickelt. Der vorliegende Artikel zeigt den theoretischen Hintergrund auf, weshalb bei diesem Konzept ‚Achtsamkeit - Entschleunigung - Flow‘ zur Schlüsselerfahrung der Stressbewältigung werden. Die Grundprinzipien wurden in tanztherapeutische Interventionen umgesetzt und im Format eines Workshops gebündelt. Die empirischen Ergebnisse zum Einsatz des Workshops zeigen positive Effekte in der kurzfristigen Stressbewältigung auf. Die Aussagen der Teilnehmer geben einen Hinweis darauf, dass an dieser Stelle auch Langzeiteffekte zu erwarten sind.
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Fachbeitrag 150 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 150-158 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art22d © Ernst Reinhardt Verlag Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow! Theorie und Methodik eines wirksamen Workshops für die Stressbewältigung Krisztina Berger Im Rahmen einer qualitativen empirischen Felduntersuchung wurde ein tanztherapeutisches Konzept „Vom Stress zum Flow“ entwickelt. Der vorliegende Artikel zeigt den theoretischen Hintergrund auf, weshalb bei diesem Konzept „Achtsamkeit-- Entschleunigung-- Flow“ zur Schlüsselerfahrung der Stressbewältigung werden. Die Grundprinzipien wurden in tanztherapeutische Interventionen umgesetzt und im Format eines Workshops gebündelt. Die empirischen Ergebnisse zum Einsatz des Workshops zeigen positive Effekte in der kurzfristigen Stressbewältigung auf. Die Aussagen der Teilnehmer geben einen Hinweis darauf, dass an dieser Stelle auch Langzeiteffekte zu erwarten sind. Schlüsselbegriffe Stressbewältigung, Stressreduktion, Bewegungskonzept, Tanz- und Bewegungstherapie, Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow, qualitative Felduntersuchung Mindfulness, Deceleration, Flow! Theory and Methodology of an Effective Stress Management Workshop As part of a qualitative empirical field investigation, a dance-therapeutic concept “From Stress to Flow” was developed. The present article introduces the theoretical background of “mindfulness-- deceleration-- flow” as the key experience of stress management in this concept. The basic principles were implemented in dance therapy interventions and bundled in the format of a workshop. The empirical results on the implementation of the workshop show positive effects on short-term stress management. The statements of the participants indicate that long-term effects can be expected. Key words stress management, stress reduction, movement concept, dance / movement therapy (DMT), mindfulness, deceleration, flow, qualitative field examination W ir leben in einer dynamischen, immer mehr digitalisierten (Arbeits-)Welt. Die Beschleunigung, instabile Arbeitsprozesse und fehlende Arbeitsplatzgarantien führen zu immer mehr Stress und Existenzangst in der Gesellschaft. Dass die Anforderungen weniger werden, ist meist eine Illusion. Es gilt eher, der Situation, so wie sie ist, anders zu begegnen. Wie bleiben wir auch in bisher Stress erzeugenden Situationen innerlich stabil und körperlich entspannt? Das Ziel der vorliegenden qualitativen Forschungsarbeit ist, einen bewegungszentrierten Workshop „Vom Stress zum Flow“ zu ent- Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow! 4 | 2018 151 wickeln, in dem die Teilnehmer diese innere Souveränität entdecken und verstärken können. Um diese sofort spürbare und zugleich nachhaltige Wirkung zu erreichen, wird an drei Säulen der Erfahrung angesetzt: Achtsamkeit-- Entschleunigung-- Flow. Methoden der Stressbewältigung Erschöpfung ist nach großen körperlichen oder seelischen Anstrengungen ein physiologischer Zustand, der dem Bewusstsein eine verminderte Leistungsbereitschaft signalisiert. Er dient der Regeneration und damit dem Wiederaufbau physischer und psychischer Reserven. Eine erfolgreiche Stressbewältigung bedeutet, einen gesunden Umgang mit inneren und äußeren Anforderungen zu finden und so die eigenen physischen und psychischen Bewältigungsressourcen fördernd für Gesundheit und Wohlbefinden einzusetzen. Nach Kaluza (2012) basiert die Stressbewältigung auf drei Säulen der Stresskompetenz: 1. Der Ansatzpunkt der instrumentellen Stresskompetenz ist der Umgang mit Stressoren. Die Entstehung von Stress wird durch fachliche, organisatorische, sozial-kommunikative Kompetenzen und die Suche nach Unterstützung verhindert. Der eigene Handlungsspielraum wird dabei erkannt und ausgeschöpft. 2. Die mentale Stresskompetenz bedeutet, das Bewusstsein über oft automatisch ablaufende stresserzeugende und -verschärfende Gedanken zu gewinnen, diese zu reflektieren und schließlich in förderliche Gedanken zu transformieren. 3. Körperliche und seelische Stressreaktionen sind natürliche Prozesse, doch die körperlichen Anspannungen müssen durch die regenerative Stresskompetenz anschließend gelöst und neue physische und psychische Reserven aufgebaut werden. In diesem System wird der emotionalen Regulierung keine explizite Rolle zugeschrieben, ungeachtet dessen, dass die Emotionen die Grundlage und das tragende Medium für die oben genannten Prozesse bilden. Beispiele sind die bedrückende, angstbesetzte Wirkung der perfektionistischen Leistungsansprüche oder auch die positive Empfindung von Schwierigkeiten als Herausforderung anstatt als Bedrohung. Im Fokus der vorliegenden Arbeit liegt die Emotionsregulation in der Stressbewältigung, d. h. die emotionale, persönliche Kompetenz im Umgang mit Stressbelastungen. Sie ist zwar nur ein Ausschnitt im Zusammenspiel der Faktoren, macht jedoch Sinn, da für die Stressbewältigung ein körperbezogener Ansatz, die Tanztherapie mit persönlichem (Körper-)Erleben, herangezogen wird. Psychodynamik Verstärkte Stressreaktionen und ein Burnout entstehen nicht nur aufgrund von Überlastung. Der eigentliche Auslöser ist der fehlende Umgang mit Gefühlen und die damit einhergehende fragmentarische bis zu abhanden gekommene Beziehung zu sich selbst. Fast allen Burnout-Erkrankten fehlt „das Gefühl für sich selbst“. Innere Notwendigkeiten und Bedürfnisse werden dadurch nicht gespürt und geäußert. So entsteht eine gefährliche Grenzenlosigkeit, die zu atemloser Aktivität führt (Prieß 2013, 72). Die oft seit der Kindheit unterdrückten Emotionen suchen ein Ventil. Wenn sie nicht direkt ausgedrückt werden, führen sie zu stressbedingten Körpersymptomen, oder die betroffenen Personen greifen zu Ablenkung und Kompensation, weil sie die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht nicht ertragen können. Diese Art der vermeintlichen Konfliktlösung führt nur zu wachsenden Ohnmachtsgefühlen. Um mit diesem leidigen inneren Zustand umzugehen, kommt es zu weiterer Verdrängung bis hin zu 152 4 | 2018 Krisztina Berger einer Abspaltung der Gefühle aus der bewussten Wahrnehmung. Die Konsequenz ist, dass die Wahrnehmung für sich selbst, die eigenen Notwendigkeiten und Grenzen verloren geht. Es kommt zum endgültigen Rückzug, dem Rückzug von sich selbst und der Umwelt. Das geht mit der Verflachung des emotionalen, sozialen und geistigen Lebens einher, was auch im Burnout-Phasenmodell als letzte Phase des Widerstandes abgebildet ist (Freudenberger 1974). Der innere Rückzug ist keine Entlastung, er erhöht stattdessen den Druck und die innere Anspannung. Die Flucht vor sich selbst ist begleitet von Minderwertigkeitsgefühlen. Die Überzeugung, „nichts wert zu sein“, stellt die eigene Existenz in Frage. Als Folge schaffen betroffene Personen sich einen falschen Selbstwert. Sie verlassen damit sich selbst und suchen eine neue Identität, orientiert an der äußeren Welt, wie z. B. an Maßstäben der Eltern, Maximen der Leistungsgesellschaft. Sie überschreiten in dieser Selbstverleugnung ihre eigenen Grenzen, und so gehen die erzeugten Stresszustände oft mit Angst und Panik einher (Prieß 2013, 108). Zur Behandlung des Phänomens muss also der konstruktive Umgang mit und Ausdruck von Emotionen, insbesondere Aggressionen und Ängsten, gelernt werden. Der Weg aus dem chronischen Stress führt zurück in den Dialog mit sich selbst. Der Weg aus der Kompensation und Sucht führt durch den Konflikt. Keiner kann für uns durch das Feuer gehen. Die Grundvoraussetzungen für Prävention sind also, sich den inneren und äußeren Realitäten zu stellen und einen Umgang mit ihnen zu finden. Stress und seine körperlichen Folgen Stress ist keine Krankheit, sondern ein Reflex auf ein unvorhergesehenes Ereignis, eine Notfallreaktion des Körpers, konstatiert der ungarische „Vater der Stressforschung“ Hans Selye (1974). Stress, vor allem chronischer Stress, kann aber zu chronischen physiologischen Veränderungen führen. Dieser Zusammenhang wird auch aus der Interheart-Studie deutlich (Gegenstand: Risikofaktoren des Herzinfarktes, Fall-Kontroll-Studie, N = 30.000 Probanden in 56 Ländern; vgl. Yusuf et al. 2004): Psychosozialer Stress erhöht das Risiko für Herzinfarkte um den Faktor 2,6-- was vergleichbar ist mit Rauchen (2,8) sowie Fettstoffwechsel und Diabetes. Weitere langfristige Folgen von chronischem Stress sind nach Kaluza (2012, 38): Bluthochdruck, Arteriosklerose, koronare Herzerkrankungen, Tinnitus, Kopf- und Rückenschmerzen, Störungen der Verdauung, Magen- Darm-Geschwüre, häufige Infekte, Libidoverlust usw. Entscheidend dafür, ob es zu diesen Krankheiten kommt, ist unter anderem das Bewältigungsverhalten. Tanz- und bewegungstherapeutischer Ansatz Was spricht für diese Methode? Sowohl die Forschung, als auch die Praxis zeigen, dass sich die persönlichen Kompetenzen im Umgang mit Stressbelastungen trainieren lassen (Kaluza 2011). Auch bei zunehmenden Stressbelastungen kann so jeder seine Gesundheit schützen und seine Leistungsfähigkeit langfristig erhalten. Die Frage ist nur, welcher Weg der Stressbewältigung für wen die größte Wirksamkeit besitzt. Die vegetativ eintretenden Reaktionen, die bei Stress unmittelbar und auf lange Sicht ablaufen, sind zutiefst körperlich. Die Wirksamkeit einer therapeutischen Methode, die auf der körperlichen Ebene ansetzt, liegt hier unmittelbar vor. Traditionelle Verfahren wie Verhaltenstherapie oder Zeitmanagement basieren auf der Vernunft als Regulativ des Handelns. Die Stressbewältigung und Burnout-Prävention ist damit meiner Meinung nach zu stark kognitiv ausgerichtet. Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow! 4 | 2018 153 Viele Menschen leben im Korsett der Arbeitszeiten und unter Druck von Deadlines. Ihr Leben ist stark durchstrukturiert. Deshalb erscheint es nicht ratsam, mit noch mehr Struktur dem Stress entgegenzuwirken. Jeder weiß die Vernunft als Instrument der Lebensbewältigung zu schätzen, wesentliche Impulse zur Lebensqualität kommen jedoch aus den Bereichen der Empfindungen und dem körperlichem Erleben. An dieser Stelle gibt es in unserer Gesellschaft einige Mängel: Die Menschen verlieren das Gespür für den eigenen Körper und sind mit ihm nicht mehr verbunden. Sie merken zum Beispiel nicht mehr, wann sie eine ungesunde Haltung einnehmen, wann sie eine Pause brauchen. Mein Anliegen ist deshalb, die Achtsamkeit für die Körperempfindungen zu wecken und zu schulen. Eine bessere Körper- und Selbstwahrnehmung empfängt Signale, sodass Haltungsfehler, Überanstrengung vermieden und Erholungspausen eingehalten werden. Weiterhin sind in Bezug auf den Umgang mit Stress mental-emotionale Aspekte wie Frustrationstoleranz, Abgrenzungsfähigkeit sowie Lebens- und Gestaltungskraft wichtig, um der Situation entspannt und konstruktiv zu begegnen. Durch die Wirkung der Tanz- und Bewegungstherapie können gerade diese Fähigkeiten weiterentwickelt werden, denn die Methode wirkt durch ihre Grundsätze auf vier Ebenen und fördert nach Reichel (2012): ● auf der biologisch-funktionalen Ebene Gesundheit und Wohlbefinden, ● auf der psychisch-emotionalen Ebene vielfältigen vertieften Ausdruck, ● auf der kognitiven Ebene Reflexion und Denkvermögen, ● auf der sozialen Ebene Empathie und Kooperation. Tanztherapie setzt damit an allen Säulen der Stressbewältigung nach Kaluza an (siehe oben) und bietet darüber hinaus noch gute Argumente für die folgenden Hypothesen. Durch bewusstes körperliches Erleben kann Zugang zur eigenen Person, zu den eigenen Emotionen gefunden werden, denn Tanz erreicht die Gefühle durch seine anregende, belebende, aber auch beruhigende Kraft (Bartenieff 1980). So lässt sich die erste Hypothese formulieren: Hypothese 1: Durch den unmittelbaren Zugang zu sich selbst in der Tanztherapie werden Stresssignale und Emotionen früher und genauer wahrgenommen, was auch eine schnelle und konstruktive Reaktion auf sie ermöglicht. Die Tanztherapie aktiviert weiterhin das „Leibgedächtnis“, wo Interaktionen aller Art lebenslang gespeichert werden und für die Affekt- und Selbstregulation bedeutsam bleiben (Hüther 2008). Darüber hinaus begreift sich der Mensch beim Tanz mit seinen unterschiedlichen Anteilen als Einheit und lässt so die Integration seiner Gesamtpersönlichkeit zu (Klein 2007). So kommen im Prozess der Entscheidungsfindung auch Anteile zur Sprache, die sonst keine Berücksichtigung finden würden. Subsumierend lässt sich formulieren: Hypothese 2: Aus dem tanztherapeutischen Ansatz heraus entspringen authentische und dadurch wohltuende Lösungen sowie Entscheidungen, die dem Selbst gut tun und bei denen der Körper keine (Stress)symptome produziert. Durch den nonverbalen Austausch in der Gruppe werden die Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die Kommunikation verfeinert. Tanz ist erlebte Gemeinschaft. Beim gemeinsamen Tanz kann ein Gefühl der Unterstützung entwickelt werden (Bartenieff 1980). Hypothese 3: Der Tanz verbessert die soziale Kompetenz und lässt damit einen gemeinschaftlichen Halt erfahren, was auch stressmindernd wirkt. Die Ergebnisse der tanztherapeutischen Forschung geben Hinweise auf die Gültigkeit der Hypothesen 1 bis 3. Denn die hochwertigen Studien der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass sich die Stressbewältigung durch Tanz- und Bewegungstherapie auf eine breite 154 4 | 2018 Krisztina Berger wissenschaftliche Fundierung stützen kann (Bräuninger 2018). Wie jedoch das kausale Zusammenspiel von Interventionen, Zielgruppen, Rahmenbedingungen zu diesem Ergebnis führt, ist noch ungeklärt. Erste Hinweise können durch qualitative Studien, wie die vorliegende Arbeit, gewonnen werden. Grundprinzipien des Workshops „Vom Stress zum Flow“ Um dem Stress innerlich stabil und körperlich entspannt begegnen zu können, wurden die Grundprinzipien „Achtsamkeit- - Entschleunigung- - Flow“ herausgearbeitet. Sie werden durch die tanztherapeutische Umsetzung im Workshop „Vom Stress zum Flow“ von Prinzipien zu Grunderfahrungen. Wenn man sich in diesem Erfahrungsraum verankert-- so die Annahme- - gelingt die Stressbewältigung, und so kann Stress im Alltag konstruktiv begegnet werden. Achtsamkeit Um die Stresskompetenzen nach Kaluza überhaupt anwenden zu können, müssen die Stressoren und die eigenen Reaktionen auf diese erkannt werden. Für eine gelungene Stressbewältigung ist es deshalb wichtig, die eigenen Stressreaktionsmuster zu kennen und so früh wie möglich wahrzunehmen. Der Schlüssel dazu ist Achtsamkeit: Wenn die Warnsignale des Körpers erkannt werden, können rechtzeitig konstruktive Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Insbesondere in Stresssituationen wird oft automatisch mit Angst-, Schutz-, Vermeidungs- und Kontrollverhalten reagiert, anstatt sich akzeptierend und flexibel der konkreten Erfahrung zuzuwenden. Die Verbindung zur körperlichen Ebene hilft in diesen Momenten. Über die nicht-wertende bewusste Wahrnehmung der sensorischen Ebene, d. h. der körperlichen Empfindungen, entsteht die Verbindung zum konkreten Moment. Gefühle und Gedanken werden somit trotz ihrer manchmal uferlos scheinenden Qualität im Konkreten verankert. Sie sind damit leichter zu (er)tragen. Auf diese Weise gelingt es auch in emotional schwierigen Situationen innezuhalten (Rytz 2010). Das Innehalten ist dabei kein passives Hinnehmen. Es bedeutet vielmehr, einen (zeitlichen) Raum zwischen Wahrnehmen und Handeln zu schaffen. So können automatische Handlungen vermieden werden. Entschleunigung Schnelligkeit wird in der heutigen Zeit positiv bewertet und mit Effektivität und Leistungsstärke verbunden. Langsamkeit dagegen wird meist mit fehlendem Engagement oder sogar Faulheit in Verbindung gebracht. Dies ist aber ein Trugschluss. Beschleunigung verselbstständigt sich ab einem gewissen Punkt: Purer Aktionismus hat dann mit Produktivität nichts mehr zu tun und führt bei dem Betroffenem eher zur Ermüdung bis hin zur Erschöpfung. Planloses Handeln, oberflächlich-kurzsichtige Entscheidungen, Unkonzentriertheit, Flüchtigkeitsfehler können auftreten. Eine Voraussetzung der Stressbewältigung ist daher, zunächst das eigene Tempo zu kennen und daraufhin eine optimale Geschwindigkeit für sich selbst wiederzufinden. Die Schnelligkeit, verstärkt durch persönliche Unsicherheit, kann dagegen zu vorschnellen Reaktionen führen. Eine geistige Grundhaltung für die Entschleunigung ist folglich die Gelassenheit, denn sie ermöglicht mit Ruhe und Zeit, eine Situation zu erfassen und sinnvoll zu handeln. Damit ist stresserzeugende Beschleunigung nicht mehr notwendig, um den Ausgleich fehlender Sicherheit zu versuchen. Flow Als Flow wird das Gefühl völliger Vertiefung und des Aufgehens in einer Tätigkeit bezeichnet. Die Aktivität an sich ist so beglückend, dass man sie auch trotz einer möglichen hohen Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow! 4 | 2018 155 Anstrengung ausführt. So werden Freude, Kreativität und der Prozess vollständigen Einsseins mit dem Leben erreicht (Csíkszentmihályi 2013). Der Flowzustand ist somit das Gegenteil vom negativen Stresserleben. Körperliches Anzeichen für das Flow-Erlebnis ist die kardiale Kohärenz, d. h. die optimale Synchronisation von Herzschlag, Atmung und Blutdruck. Es herrscht eine Harmonie zwischen dem limbischen System, welches zuständig ist für die Steuerung der Emotionen, und dem kortikalen System, welchem Bewusstsein und Verstand zugeordnet sind. Die Person befindet sich in einem Zustand der Selbst- und Zeitvergessenheit sowie in harmonischer Einheit der Trinität Körper-- Rationalität-- Emotionalität. In dieser Herangehensweise wird auf den individuellen Zugang des Menschen zu seinem Glück gesetzt und nicht auf die äußeren Faktoren. Dies entspricht der in dieser Arbeit geltenden Auffassung von Wichtigkeit der Eigenverantwortung. Die Deutung der Ereignisse und die damit verbundene Steuerung der inneren Erfahrungen, Gefühle und Empfindungen bestimmen die Lebensqualität und das Flow-Erleben. Das Ergebnis dieser Phasen ist oft auch Erfolg, wobei nicht direkt danach gestrebt wird. „Denn Erfolg kann wie Glück nicht verfolgt werden; er muss erfolgen (…) als unbeabsichtigte Nebenwirkung, wenn sich ein Mensch einer Sache widmet, die größer ist als er selbst.“ (Csíkszentmihályi 2013, 14) Der Tanz hat eine besondere Bedeutung als Flow-Aktivität. Wenn die Energie der Bewegung frei durch den Körper und sogar aus dem Körper herausfließt und damit zu einem ungehemmten Ausdruck führt, beobachten wir den freien Fluss im Tanz. Freier Fluss befreit den Bewegungsimpuls von Kontrolle. Die Spannung im Körper wird losgelassen, und körperliche Blockaden schwinden, was mit einer Befreiung von Angst und Vorsicht einhergeht (Bender 2007, 17). Es ist leichter, im Alltag Flow-Zustände hervorzurufen, wenn die Qualität des „freien Flusses“ im Körper verankert wird. Die hier vorgestellten Prinzipien „Achtsamkeit-- Entschleunigung-- Flow“ ergänzen und bedingen sich gegenseitig. So gibt z. B. die Entschleunigung Zeit und Raum für achtsame Wahrnehmung. Achtsamkeit wiederum schafft die wache Konzentration als Voraussetzung für einen Flowzustand. Im Flow verändert sich das Zeiterleben, und der Augenblick wird als entschleunigt wahrgenommen. Das ist nur ein Beispiel von vielen dafür, wie sich der Kreis der positiven Auswirkungen schließen lässt. Dieses Netz der Zusammenhänge bildet eine sichere und umfassende Basis für die Stressbewältigung. Inhalte und Konzeption des Workshops Die Grundprinzipien der vorliegenden Arbeit sowie die Methoden der Stressbewältigung nach Kaluza werden in tanztherapeutische Interventionen umgesetzt. Sie ergeben in ihrer Gesamtheit die inhaltlichen Bausteine des Workshops „Vom Stress zum Flow“. Der Workshop selbst besteht aus zehn jeweils 90-minütigen Einheiten: 1. Beschleunigung- - Entschleunigung: das eigene Tempo 2. Achtsamkeit: sensorische Ebene 3. Körpersignale beim Stress 4. Methoden der Entschleunigung: Ruhe und Gelassenheit 5. Anker der Sicherheit: Erdung-- Mitte-- Atmung 6. Eigenraum und Abgrenzung 7. Durchsetzungskraft, Aggressionsregulierung und Selbstkontrolle 8. Anspannungen ausleiten: Flow 9. Äußeren Halt und Unterstützung erfahren 10. Loslassen 156 4 | 2018 Krisztina Berger Die detaillierte Beschreibung der Einheiten befindet sich in Berger (2014, 56-67). Im Workshop lassen sich auf die jeweilige Persönlichkeit abgestimmte und differenziert einsetzbare Strategien der Stressbewältigung erarbeiten. Diese individuellen Lösungen ermöglichen, dass die Person mit kurz-, mittel- und langfristigem Stress und Leistungsdruck konstruktiv umgehen kann. Verlauf der Studie Der Workshop „Vom Stress zum Flow“ wurde zehn Wochen lang (zehnmal 90 Minuten wöchentlich) in zwei Institutionen erprobt (zwei Selbsthilfegruppen mit Krankheitsbildern somatoforme Störung, Krebs, Burnout, Depression, stressbezogenes Leiden; N=11, nur Frauen). Die Forschungsarbeit entspricht somit den natürlichen Bedingungen und weist dadurch eine hohe externe Validität auf. Dies macht es möglich, aus den in der Stichprobe beobachteten Effekten auf eine Relevanz im alltäglichen Umfeld zu schließen. Die Befragung der Probanden erfolgte nach jeder Intervention in der Reflexionsrunde sowie am Ende einer Einheit und auch im Rückblick auf das persönliche Erleben von Stresssituationen zwischen den Einheiten. Die Befragung führte die Kursleiterin durch. Die Stunden wurden mit Tonaufzeichnungen dokumentiert, transkribiert und die Essenz der Aussagen zusammengefasst (Berger 2014, 70-75). Diese Arbeit ist somit in der Methodik der Sozialforschung als qualitative empirische Felduntersuchung anzusiedeln. Ergebnisse Die aufgestellten Hypothesen der vorliegenden Arbeit konnten weitgehend auf der qualitativen Ebene bestätigt werden. Zu Hypothese 1: In den Einheiten 2, 3, 6, 8 konnte nach den Interventionen anhand der Aussagen von Probanden gezeigt werden, dass durch den unmittelbaren Zugang zur Körper- und Selbstwahrnehmung Stresssignale und Emotionen früher und besser wahrgenommen werden. Infolgedessen ist es auch einfacher, auf die eigenen Grenzen zu achten und sie klar zu kommunizieren (Einheit 6, 7). Die Probanden sagen z. B. eher und bestimmter „Stopp“, wenn ihre räumlichen Grenzen überschritten werden. Zu Hypothese 2: Die Lösungen der körperlichen Verspannungen (Einheit 2, 3, 5, 8, 10) sowie der Gewinn einer neuen Perspektive auf die aktuellen Probleme der Lebenssituation (Einheit 2, 4, 5-8, 10) haben zu als authentisch und wohltuend erlebten Entscheidungen bzw. Problemlösungen der Teilnehmer geführt. Zu Hypothese 3: Die stresslösende Wirkung des gemeinschaftlichen Haltes wurde bestätigt (Einheit 4, 9, 10), wie z. B. sich in gestressten Momenten vertrauensvoll zurückzulehnen und die unterstützenden Hände der anderen Teilnehmer genießen zu können. Hier wurde der Berührung und dem Halt noch größerer Stellenwert zugeschrieben als der körperlichen Nähe. Innerhalb der zehn Wochen der Studie sind die Verhaltensänderungen der Teilnehmerinnen in Bezug auf die Stresssituationen öfters berichtet und sowohl in der Bewegung als auch im Habitus deutlich geworden. Es war somit durch den Workshop „Vom Stress zum Flow“ eine hohe Effektivität bei der Umsetzung gewährleistet. Die Aussagekraft der Ergebnisse ist zwar sehr plausibel, ist aber dennoch begrenzt. Wenn der Workshop unter diesem Titel ausgeschrieben wurde, ist sehr wohl zu erwarten, dass die Probanden dazu neigen, die Wirkung auch in diese Richtung zu deuten. Die Langzeitwirkung des Treatments wurde zwar nicht systematisch gemessen, die positiven Aussagen der Teilnehmer auch nach Monaten geben jedoch einen Hinweis darauf, dass an dieser Stelle Langzeiteffekte zu erwarten sind. Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow! 4 | 2018 157 Literatur Bartenieff, I. (1980): Body movement-- coping with the environment. Gordon and Breach, New York Bender, S. (2007): Die psychophysische Bedeutung der Bewegung. Ein Handbuch der Laban Bewegungsanalyse und des Kestenberg Movement Profiles. Logos, Berlin Berger, K. (2014): Vom Stress zum Flow. Die Lösung von Stress-Zuständen mit den Methoden der Tanz- und Bewegungstherapie. Forschungsarbeit zur Qualifizierung als BTD-anerkannte Tanztherapeutin am Tanztherapie Zentrum Berlin Bräuninger, I. (2018): Aktuelle Studien zu Stressbewältigung durch Tanz-, Bewegungstherapie und Kreativtherapien. körper-- tanz-- bewegung 6 (3), 141-143, https: / / doi.org/ 10.2378/ ktb2018.art20d Csíkszentmihályi, M. (2013): Flow. Das Geheimnis des Glücks. 16. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Freudenberger, H. (1974): Staff burn-out. Journal of Social Issues 30, 159-165, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1540-4560.1974.tb00706.x Hüther, G. (2008): „Müssen wir umdenken, umfühlen oder etwas einfach nur ganz anderes machen, damit sich unser Gehirn verändert? “ Heidelberger Symposium „Gehirn und Körper“ vom März 2008. Audio CD, Auditorium Netzwerk, Müllheim Kaluza, G. (2012): Gelassen und sicher im Stress. 4. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-28195-2 Kaluza, G. (2011): Stressbewältigung. 2. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-13720-4 Klein, P. (2007): Tanztherapie. Ein Weg zum Ganzheitlichen Sein. 3. Aufl. Dieter Balsies, Kiel Prieß, M. (2013): Burnout kommt nicht nur von Stress. Südwest, München Reichel, A. (2012): Sinnvoll tanzen-- Tanz als Ausdruck des ganzen Menschen. Zeitschrift für Tanztherapie, Körperpsychotherapie und Kreativtherapie 19 (34), 29-35 Rytz, T. (2010): Bei sich und in Kontakt. Anregungen zur Emotionsregulation und Stressreduktion durch achtsame Wahrnehmung. 3. Aufl. Hans Huber, Bern Selye, H. (1974): Stress. Bewältigung und Lebensgewinn. Piper, München, Zürich Ausblick: Folgerungen für Praxis und Forschung Der erprobte Workshop eignet sich sowohl aufgrund seiner Wirksamkeit als auch durch seinen überschaubaren zeitlichen Umfang für den Einsatz im Arbeitsumfeld. Er kann in Form von wöchentlichen Einheiten oder als zweitägiger Workshop durchgeführt werden. Innerhalb der Forschungslandschaft der Tanztherapie stellt die vorliegende Arbeit einen sowohl theoretisch skizzierten als auch auf eine praktische Umsetzung und Wirksamkeit ausgerichteten Baustein dar. Der Beitrag zielt darauf ab darzustellen, wie die Tanztherapie als körper- und emotionsorientierte Methode die wissenschaftlich anerkannten Ansätze zur eher kognitiv ausgerichteten Stressbewältigung ergänzen kann. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit konnte eine theoriekonforme Ableitung der Hypothesen nicht gewährleistet werden. Die Operationalisierung der zu untersuchenden Variablen (z. B. Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow, authentische Entscheidungen, soziale Kompetenz, Stress-Signale) wird weder theoretisch ausreichend dargestellt, noch die Fragen nach deren Messbarkeit beantwortet. Folglich kann die vorliegende Arbeit nur als Anregung für die Gestaltung weiterer Forschungsarbeit herangezogen werden. In einem angemessenen institutionellen Rahmen und entsprechender Finanzierung können objektive, valide und reliable Messinstrumente qualitativer Forschung eingesetzt werden (z. B. in Form von strukturierten Interviews, Kategoriensystemen, Einzelfallanalysen). Darüber hinaus wäre eine systematische quantitative Untersuchung der Wirksamkeit des Treatments in einer Vergleichsuntersuchung notwendig, in der bereits bewährte standardisierte Fragebögen (z. B. SVF, Janke, RESTQ, Kallus) der Stress-Forschung eingesetzt werden, die eine quantitative Messung der Variablen erlauben. 158 4 | 2018 Krisztina Berger Yusuf, S., Hawken, S., Ounpuu, S., Dans, T., Avezum, A., Lanas, F., McQueen, M., Budaj, A., Pais, P., Varigos, J., Lisheng, L. (2004): Effect of potentially modifiable risk factors associated with myocardial infarction in 52 countries (the INTERHEART-Study). In: The Lancet 364 (9438), 937-952, https: / / doi.org/ 10.1016/ S0140- 6736(04)17018-9 Dr. Krisztina Berger Tanztherapeutin BTD, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Unternehmensberaterin, promovierte Physikerin. Seit 2008 in eigener Praxis tätig mit Schwerpunkt EQ in der Führung, Lösung von Blockaden, Präsenz, Stressreduktion, Krisenintervention. ✉ Dr. Krisztina Berger Practice for Integrity and Flow Alt-Moabit 134 | D-10557 Berlin krisztina.berger@gmail.com www.krisztina-berger.com
