eJournals körper tanz bewegung 6/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelles aus der Forschung: Aktuelle Studien zu einem tanztherapeutischen Deeskalations- und Gewaltpräventionsprogramm für Gesundheitsberufe und zum nonverbalen Verhalten schizophrener PatientInnen

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Iris Bräuninger
Im Rahmen der psychiatrischen Behandlung sind Deeskalation und Aggressionsmanagement eine permanente Herausforderung, wenn es um den Schutz der Behandelnden, insbesondere pflegerischer Fachkräfte, aber auch psychisch Erkrankter geht. Eine qualitative Studie überprüfte ein innovatives Weiterbildungsprogramm, welches pflegerische Fachkräfte in tanz-, bewegungstherapeutischen Kernkompetenzen zur Deeskalations- und Gewaltprävention schulte (Biondo 2017). Eine weitere Studie untersuchte anhand von Videoanalysen den Zusammenhang zwischen nonverbalem Verhalten und Symptomen bei Schizophrenie (Worswick et al. 2018).
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178 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 178-180 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art27d © Ernst Reinhardt Verlag Aktuelles aus der Forschung Aktuelle Studien zu einem tanztherapeutischen Deeskalations- und Gewaltpräventionsprogramm für Gesundheitsberufe und zum nonverbalen Verhalten schizophrener PatientInnen Iris Bräuninger I m Rahmen der psychiatrischen Behandlung sind Deeskalation und Aggressionsmanagement eine permanente Herausforderung, wenn es um den Schutz der Behandelnden, insbesondere pflegerischer Fachkräfte, aber auch psychisch Erkrankter geht. Eine qualitative Studie überprüfte ein innovatives Weiterbildungsprogramm, welches pflegerische Fachkräfte in tanz-, bewegungstherapeutischen Kernkompetenzen zur Deeskalations- und Gewaltprävention schulte (Biondo 2017). Eine weitere Studie untersuchte anhand von Videoanalysen den Zusammenhang zwischen nonverbalem Verhalten und Symptomen bei Schizophrenie (Worswick et al. 2018). Tanz- und bewegungstherapeutisches Deeskalations- und Gewaltpräventionsprogramm für Pflege- und Gesundheitsfachleute Biondo (2017) evaluierte im Rahmen ihrer qualitativen Studie ein fünfstündiges tanz- und bewegungstherapeutisches Deeskalations- und Gewaltpräventionsprogramm. Das Programm vermittelte drei tanztherapeutische Prinzipien: 1. Bewegungsbeobachtungsskills, 2. kinästhetischen Empathie-Aufbau und 3. Selbstwirksamkeit durch nonverbales Spiegeln. Studierende (N = 73) des Masterstudiengangs für psychiatrische Krankenpflege und Gesundheitsberufe wurden in den drei Kernkompetenzen trainiert. Fünf beginnende Studienklassen wurden im Zeitraum von sechs Jahren in diesem Programm geschult, basierend auf der Annahme, dass die erweiterte Schulung von Pflege- und Gesundheitsfachleuten die Gewalt am Arbeitsplatz durch aggressive PatientInnen reduzieren und die Kompetenzen der Teilnehmenden zur erfolgreichen Deeskalation der PatientInnen steigern könne. Am Ende des Programms wurden die Teilnehmenden in sechs offenen Fragen nach ihrer Einschätzung befragt. Das Programm besteht aus vier Modulen mit je einem didaktischen und einem erfahrungsorientierten Teil (1. Bewegungsbeobachtung- - Der Gang, 2. Kinästhetische Empathie / Empathische Reflexion- - Spiegeln, 3. Selbstwirksamkeit- - Führung übernehmen / weitergeben, 4. Deeskalation- - Bewegungsmodulation. Die Datenanalyse wurde mit „twocycle coding method“ (Fragen 1, 2, 6) beziehungsweise mit „in vivo coding“ (Fragen 2, 3, 5) (Biondo 2017, 220) nach Saldaña (2013) analysiert. Als Ergebnis gab die große Mehrheit der Teilnehmenden (67 von 73) an, sie hät- Aktuelles aus der Forschung 4 | 2018 179 ten ihre Beobachtungsskills am Ende des Trainings verbessert. Mehr als zwei Drittel (56 von 73) meinten, ihre Selbstwirksamkeit habe sich gesteigert, und zwei Drittel (50 von 73) hatten den Eindruck, ihre Empathiefähigkeit hätte sich verstärkt. Insgesamt gaben 45 Teilnehmende eine positive Rückmeldung zum gesamten Programm, und 43 äußerten, dass das Programm die Fähigkeit zur Deeskalation gesteigert habe. Das Ergebnis legt nahe, dass durch die Vermittlung tanz-, bewegungstherapeutischer Kernkompetenzen das Selbstvertrauen von Pflege- und Gesundheitsfachleuten zur Deeskalation im Bereich der psychischen Gesundheit gesteigert werden kann. Nonverbales Verhalten schizophrener PatientInnen Worswick und KollegInnen (2018) gehen von der Annahme aus, dass nonverbales Verhalten als Grundlage für soziale Kommunikation diene. Bei PatientInnen mit Schizophrenie bestünde jedoch ein Ausdrucksdefizit im nonverbalen Verhalten. Ihre Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen nonverbalem Verhalten und Symptomen bei Schizophrenie. Einschlusskriterien waren das Bestehen von Schizophrenie-Symptomen seit mindestens sechs Monaten, 18 oder mehr Punkte bei PANSS (positive und negative Syndrom-Skala) und die Einnahme des gleichen Typs an antipsychotischen Medikamenten. Die teilnehmenden ambulanten PatientInnen mit diagnostizierter Schizophrenie (N = 63) waren zwischen 18 und 65 Jahren mit einem Durchschnittsalter von 40.05 ± 10.06 (davon 45 Männer). Zur Datenerhebung wurden standardisierte, validierte klinische Assessment-Interviews zur Bewertung der Symptome und des nonverbalen Verhaltens durchgeführt (Clinical Assessment Interviews für negative Symptome (CAINS), positive und negative Syndrom-Skala (PANSS, Calgary Depression Scale). Videoaufzeichnungen eines Vor-Randomisierungsassessments wurden von unabhängigen Ratern auf nonverbales Verhalten und klinische Symptome analysiert (anhand einer modifizierten Version des ethologischen Kodierungssystems für Interviews ECSI). Jedes Video wurde zu 14 Verhaltensaspekten in sechs 30-Sekunden-Abschnitten für jeden Patienten analysiert. Für die Verhaltenskategorien-Scores wurde die Summe aller Punkte für die jeweilige Verhaltensweise pro Kategorie zusammengezählt. Je höher ein Score ausfiel, desto öfter war das Verhalten beobachtet worden (die maximale Punktzahl der Scores pro Kategorie: Prosoziales Verhalten (36), Fluchtverhalten (48), Assertion / Behauptung (12), Geste / Gestikulierende Bewegung (12), Verschiebung (24) und Entspannung (36)). Für die statistische Analyse wurden non-parametrische Tests verwendet. Von den Ergebnissen wurden zwei Interviews wegen fehlender unabhängiger Symptombewertungen ausgeschlossen. Die Ergebnisse ergaben, dass PatientInnen mit erhöhter Schwere an negativen Symptomen auf der einen Seite signifikant weniger prosoziales Verhalten wie beispielsweise Nicken und Lächeln, weniger Gesten und weniger Verdrängungsverhalten (z. B. Fummeln) zeigten, auf der anderen Seite aber deutlich mehr non-verbales Fluchtverhalten (z. B. wegschauen, einfrieren). Die AutorInnen interpretierten dies so, dass negative Symptome mit geringerem Aktivitätsniveau und mit aktivem Vermeiden sozialer Kontakte (sichtbar in erhöhtem Fluchtverhalten) verbunden seien. Diskussion und Schlussfolgerung Das Deeskalations- und Gewaltpräventionsprogramm für Pflegefachleute und Gesundheitsfachleute (Biondo 2017) kann als innovatives Projekt angesehen werden, das tanz-, bewegungstherapeutische Kernkompetenzen zur Unterstützung konkreter Problemsituationen als Dienstleistung anbietet und anderen Be- 180 4 | 2018 Iris Bräuninger Dr. Iris Bräuninger Co-Leiterin Studiengang Psychomotorik (Hochschule für Heilpädagogik Zürich), Forscherin Masterstudiengang Tanztherapie Barcelona, Supervisorin / Ausbilderin / Lehrtherapeutin (BTD, ADMTE), KMP-Notatorin, Praxis für Supervision und Tanztherapie Bodensee. ✉ Dr. Iris Bräuninger dancetherapy@mac.com und iris.braeuninger@hfh.ch rufsgruppen das tanz-, bewegungstherapeutische Fachwissen vermittelt. Das Programm scheint mit einem Aufwand von fünf Schulungstagen ökonomisch und umsetzbar. In Forschungs- und Entwicklungsprojekten könnte die Anwendbarkeit, Übertragbarkeit und Evaluation dieses Programms als tanz-, bewegungstherapeutisches Weiterbildungs- und Dienstleistungsangebot im deutschsprachigen Raum geprüft werden. Zusätzlich könnte die Nachhaltigkeit des Programms evaluiert werden. Die Ergebnisse von Worswick und KollegInnen (2018) zu negativen Symptomen und zur Vermeidung sozialer Interaktion bei Menschen mit Schizophrenie liefert wichtige Impulse für Therapieansätze wie die Tanz-, Bewegungstherapie, Körperpsychotherapie etc., welche am nonverbalen Verhalten ansetzen. Die Ergebnisse sind für die Anwendung relevant, da über diese Therapien nachgewiesenermaßen Negativsymptome reduziert werden können. Folgende Hypothese könnte überprüft werden, nämlich ob sich die Vermeidung sozialer Kontakte durch die Reduktion der Negativsymptomatik reduzieren und das Aktivitätsniveau steigern lassen. Literatur Biondo, J. (2017): De-escalation with dance / movement therapy: a program evaluation. American Journal of Dance Therapy 39 (2), 209-225, https: / / doi.org/ 10.1007/ s10465-017-9261-5 Saldaña, J. (2013): The coding manual for qualitative researchers. Sage, Thousand Oaks Worswick, E., Dimic, S., Wildgrube, C., Priebe, S. (2018): Negative symptoms and avoidance of social interaction: a study of non-verbal behaviour. Psychopathology 51 (1), 1-9, https: / / doi. org/ 10.1159/ 000484414