eJournals körper tanz bewegung 6/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2018.art03d
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‚Was ist Natürlichkeit, und wie kann man sie bewahren?‘

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2018
Anton Sàlat
Wilhelm Reich war ein umstrittener, aber bedeutender Psychoanalytiker und Naturforscher. Noch wenig wird er außerhalb der Körperpsychotherapie als ihr Begründer gewürdigt, ebenso wie sein Forschungsprojekt zu Säuglingen und Kindern. Die Projektierung wie auch die Ergebnisse sind noch heute aktuell und wegweisend. Eine tiefere Beschäftigung mit Reich und seinen Arbeiten ermöglicht dem aufgeschlossenen Leser wertvolle Einsichten, sowohl in therapeutischer wie auch in kinderpflegerischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht.
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Fachbeitrag 16 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 16-26 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art03d © Ernst Reinhardt Verlag „Was ist Natürlichkeit, und wie kann man sie bewahren? “ Wilhelm Reichs Säuglings- und Kinderforschungsprojekt „Die Kinder der Zukunft“ Anton Sàlat Wilhelm Reich war ein umstrittener, aber bedeutender Psychoanalytiker und Naturforscher. Noch wenig wird er außerhalb der Körperpsychotherapie als ihr Begründer gewürdigt, ebenso wie sein Forschungsprojekt zu Säuglingen und Kindern. Die Projektierung wie auch die Ergebnisse sind noch heute aktuell und wegweisend. Eine tiefere Beschäftigung mit Reich und seinen Arbeiten ermöglicht dem aufgeschlossenen Leser wertvolle Einsichten, sowohl in therapeutischer wie auch in kinderpflegerischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht. Schlüsselbegriffe Wilhelm Reich, Säuglingsforschung, Körperpsychotherapie, kindliche Sexualität, Neurosenprophylaxe, sexuelle Entwicklung, kindliche Genitalität “What Is Naturalness, and How Can One Preserve It? ” Wilhelm Reich and His Research Project “The Children of the Future” Wilhelm Reich was a controversial, but nevertheless important psychoanalyst and naturalist. Outside of body psychotherapy he has not been uniformly recognised as its founder. His research project on babies and children is mostly unknown, and its project design as well as the results are still relevant and groundbreaking. Profoundly engaging with Reich and his works provides the open-minded reader with valuable insights, from a therapeutic as well as child-rearing and pedagogy viewpoint. Key words Wilhelm Reich, infant research, body psychotherapy, sexuality of children, prevention of Neurosis, sexual development, genitality Historische Einführung H eutzutage klingt es skurril: Ein renommierter Psychiater und Psychotherapeut, der mikroskopische Untersuchungen an Einzellern macht, um deren „Emotionen“ herauszufinden? Der Hautwiderstandsmessungen macht, um elektrische Potentiale zu messen, und das bei Gemütszuständen? Und noch dazu alles auf eigene Kosten, ohne jedes Institut? Ist so jemand noch normal? Diese Fragen stellte man sich in den gut etablierten Psychoanalytikerkreisen. Der junge, energiegeladene Arzt Wilhelm Reich war im Kreise seiner oft deutlich älteren Analytikerkollegen durch brillante Beiträge aufgefallen Wilhelm Reichs „Kinder der Zukunft“ 1 | 2018 17 und schnell in den inneren Kreis um Freud aufgenommen worden. Schon bald durfte er Patienten psychoanalytisch therapieren. Allerdings störte man sich zunehmend an seinem Verhalten: Seine Betonung der sozialen und politischen Zusammenhänge als Ursachen der Neurosen sagte den meisten der mittlerweile gut situierten Analytikerkollegen nicht besonders zu. Seine Erforschung und Betonung der Funktion des Orgasmus pikierte die noch immer wilhelminisch geprägte Gruppe (Sharaf 1994). Und sein soziales und politisches Interesse polarisierte. Selbst bei Kongressen fiel er auf: Während die Kollegenschaft in feinen Hotels residierte, campierte Reich im Zelt in der freien Natur (Jürgensen 1935; Reich 1967). Wilhelm Reich war Zeit seines Lebens eine nicht leicht fassbare Persönlichkeit. Bereits als 16-jähriger musste er nach dem Tod der Eltern den familiären (Großgrund-)Landwirtschaftsbetrieb leiten. Dieser ging im 1. Weltkrieg verloren, Reich wurde heimatlos, studierte dann in Wien Medizin. Ihn störte, dass im Studium sexuelle Inhalte nicht unterrichtet wurden. So war er zur Psychoanalyse gekommen, die sich in Wien um Freud entwickelt hatte (Sharaf 1994). Anfangs waren die meisten psychoanalytischen Patienten relativ reiche Leute, die sich diese privatärztliche Therapie leisten konnten, daher beruhte auch die analytische Theorie auf Erfahrungen aus dieser sozialen Schicht. Freud hatte das psychoanalytische Ambulatorium initiiert, das kostenlose Beratung und Therapie für Mittellose anbot. Reich war dort von 1922 bis 1929 mehrfach wöchentlich tätig, zuletzt als stellvertretender Leiter. Daneben leitete er das therapeutisch-technische Seminar für Psychoanalyse (Diercks 2009). Durch die (unentgeltliche) Arbeit am Ambulatorium konnte er Hunderte von Fallgeschichten sammeln. Dabei wurde aber auch die politische Dimension der Neurosen deutlich (Reich 2012). Ein Jugendlicher aus der Arbeiterklasse beispielsweise hatte weder Geld noch Räumlichkeiten, um eine Privatsphäre oder ein eigenes Liebesleben zu erlangen. Viele Familien litten unter Not in jeder Hinsicht, was deren psychische Lage komplizierte. Und Sexualberatung, Empfängnisverhütung oder gar Schwangerschaftsabbruch war religiös verfemt und politisch vermieden, obwohl diese Themen alltägliche Probleme darstellten (Reich 1980). Reichs unermüdlicher Eifer und seine politischen Überlegungen störten die gut verdienenden Kollegen, deren Organisation nun auch endlich anerkannt war. So wurde der innerhalb der psychoanalytischen Vereinigung anfangs noch als „Kronprinz“ und Nachfolger Freuds hochgelobte Reich allmählich zur umstrittenen Person. Freud selbst bezog öffentlich keine Position, gab aber im Geheimen den Auftrag: „Befreien Sie mich von Reich! “ (Böhm 1985). Und die psychoanalytische Organisation, die sich an die veränderten politischen Verhältnisse des aufkommenden Faschismus anzupassen versuchte, gehorchte. Mit einer geschickt eingefädelten Intrige schloss man ihn 1934 aus (Fallend/ Nitzschke 2002). Dazu kam die Presse. Immer wieder gab es regelrechte Kampagnen, die in laszivem Ton seine Forschungen diskreditierten. Nachfolgende institutionelle Reaktionen trieben den 1933 aus Nazideutschland Geflohenen dann aus Dänemark, Norwegen bis in die USA (Bell 1997; Baker 2015). Reich empfahl, Babys direkt nach der Geburt der Mutter zu geben, als es völlig normal war, diese stundenlang von der Mutter zu trennen (Reich 1984a). Er forderte Straffreiheit für Homosexuelle und trat für die Möglichkeit der Abtreibung ein (Reich 1982, 1984a). Er war selbst aus heutiger Sicht, fast 100 Jahre später, hochmodern- - also für die damalige Zeit ein einziger Ruhestörer. Aber auch in den USA hatte er nur für einige Jahre Ruhe. Dann bewirkte eine lancierte Pressekampagne eine behördliche Untersuchung, die ihn letztlich ins Gefängnis brachte (Brady 1947a, 1947b). Seine Verteidigung, ein Gericht könne über wissenschaftliche Ergebnisse nicht 18 1 | 2018 Anton Sàlat urteilen, ignorierte der Gerichtshof, angefeuert von Staatsanwalt Mills, der zuvor Reichs Rechtsberater gewesen war. Die Einseitigkeit, Falschheit und Intriganz dieser Kampagne füllt ein ganzes Buch (Greenfield 1995). Seine Forschungsansätze waren vielleicht zu direkt, zu gewagt. Er sprach Sexualität offen an und fragte nach. Für ihn war jemand nicht von vorneherein gesund, wenn er „Sex hatte“, er wollte das genauer wissen. Während die allermeisten Analytiker die Frage nach Geschlechtsverkehr ihrer Patienten mit Ja und Nein erfragten, wollte Reich genau wissen, was und wie die Patienten fühlten. Und so musste er feststellen, dass ausnahmslos alle (! ) Neurotiker in ihrer Hingabe- und Erlebnisfähigkeit schwer gestört waren (Reich 1997). Dieses Interesse am Sexuellen brachte ihm allerdings mehr Gegner als Freunde ein, selbst wenn es im Gleichklang mit Freuds ursprünglichen Ansichten stand. Es darf nicht vergessen werden, dass viele Analytiker selbst zuvor Patienten gewesen waren, die ihre eigene Behandlungserfahrung nun zu professionellen Zwecken nutzten (Baker 2015). Dabei verstand Reich unter Sexualität nicht ausschließlich den sexuellen Akt, sondern betrachtete jede „nach außen gerichtete“ emotionelle Bewegung als sexuell. „Sexualität ist der produktive Lebensprozeß schlechthin“, schreibt Reich in seinem Grundlagenwerk „Die Funktion des Orgasmus“ (Reich 2010, 17). Eins seiner Hauptanliegen war, Freuds Theorie der „Stauung der biologischen (Trieb-)Energie“ wissenschaftlich zu verifizieren. Er versuchte herauszufinden, was die physikalische Grundlage der Libido sei, die Freud ja nur theoretisch benannt hatte (Freud 1905). So beschäftigte er sich auch mit dem autonomen Nervensystem als Träger der Emotionen und erkannte im Gegensatzpaar Sympathikus ←→ Parasympathikus das Korrelat zum Gegensatz Lust/ Sexualität ←→ Angst. Diese Polarität konnte er auch in bioelektrischen Messungen bei Menschen und sogar bei Einzellern nachweisen (Reich 1984b). Reichs diesbezügliche Forschungen sind noch heute gültig, auch wenn sie mittlerweile durch die Erforschung des ventralen und dorsalen Vagus weiter verfeinert werden konnten (Porges 2010). Seine Therapie hatte sich dadurch von der klassischen, rein auf Sprache beruhenden Behandlung der Psychotherapie allmählich wegentwickelt. Die charakterliche Haltung des Patienten war für Reich ebenso bedeutungsvoll wie dessen aktuelle Neurose. Der gesamte Charakter bildet ein (symptomloses) Abwehrverhalten (Reich 1997), was im muskulären „Panzer“, der Summe der unbewussten Muskel- und Faszienkontraktionen, seinen Ausdruck findet. Dieser Ausdruck des Patienten, seine emotionale und auch körperliche Haltung, wurde für ihn zum Schlüssel für den Zugang zu den unbewussten und verdrängten Persönlichkeitsstrukturen (Reich 2010). Durch Schaffung einer natürlichen Atmung, jenseits von absichtlichen Atemübungen, wurde das Strömen der „biologischen Energie“ fühlbar. Durch diese andersartigen, nicht sprachgebundenen Techniken konnte er zunehmend auch Probleme erreichen, die in der vorsprachlichen Lebensphase eingetreten waren. Er behandelte also mehr das Vegetative als das Psychologische und nannte seine Behandlung folglich Vegetotherapie. Die Vegetotherapie (später Orgontherapie) ist ein ganzheitliches Therapieverfahren, das sich bemüht, den natürlichen Fluss der „Lebensenergie“ im Körper wieder herzustellen. Hierbei werden mit Hilfe verschiedener Techniken auf verbaler, charakteranalytischer und körpertherapeutischer Ebene die vorhandenen Blockaden gelockert (Reich 1997, 2010). Der Orgontherapeut orientiert sein Vorgehen an der segmentären Anordnung der Körperpanzerung mit dem Ziel, die volle Hingabefähigkeit des Menschen im Alltagsleben zu ermöglichen. Dabei zeigt sich bei vertiefter Atmung als Gradmesser der freien biologischen Beweglichkeit eine unwillkürliche lustvolle Reflexbewegung, Wilhelm Reichs „Kinder der Zukunft“ 1 | 2018 19 die den ganzen Körper erfasst. Da diese beim Neurotiker nicht oder nur unvollständig abläuft oder zurückzuhalten versucht wird, sich beim Gesunden aber frei zeigt und auch im Höhepunkt des sexuellen Akts des Gesunden stattfindet, bezeichnete Reich diesen als Orgasmusreflex (Reich 2010). Der freie Ablauf des Orgasmusreflexes stellt sich also als ein Zeichen der Ungestörtheit dar. Mit dieser Entdeckung steht Reich in der Reihe der Therapieverfahren einzigartig da, und es ist traurig, aber verständlich, dass kaum jemand diese Entdeckung würdigt- - ist der Orgasmusreflex doch ein unabhängiges Kriterium, das niemand vorspielen oder vortäuschen kann, weder der Patient noch der Therapeut. Reich muss ein sehr angesehener Therapeut gewesen sein, denn er konnte sehr teure Honorare verlangen, was ihm ein gutes Einkommen sicherte, das er zum großen Teil für Forschungsgeräte ausgab. Seine exzellente und moderne technische Ausstattung (Bell 1997) bereitete manchen Instituten, die er um Kontrolle seiner Forschungen bat, Probleme, da sie mit ihrer Ausstattung nicht mit seinen apparativen Möglichkeiten Schritt halten konnten (Reich 1984b). Reichs Interesse, die biologischen Wurzeln für die energetische Grundlage der Neurosen zu finden, führte ihn also von der Medizin zur Biologie, Mikrobiologie, Physik und letztlich zum Postulat einer neuartigen, besonders in Lebewesen wirksamen Energieform, die er Orgonenergie taufte (von Organismus, aber auch Orgasmus abgeleitet) (Reich 1994, 2010). Diese Energie sei, so Reich, seit Jahrtausenden bekannt und mit vielen Namen bezeichnet (Prana, Od, Lebensenergie, Äther usw.), ist aber bis dato noch nie naturwissenschaftlich erfasst worden. Die naturwissenschaftliche Anerkennung der Existenz der Orgonenergie steht bis heute aus, obwohl selbst Doppelblindstudien Reichs Annahmen unterstützen (z. B. Gebauer / Müschenich 1987). Reichs Forschungsprojekt „Children of the Future“ Im Jahr 1949, in einer Phase extremer Kreativität, rief Reich dann nach 10-jähriger Vorbereitung das Kinderforschungsprojekt „Children of the Future“ ins Leben (Reich 1984a). Sein über dieses Projekt berichtende Buch „Die Kinder der Zukunft“ ist 2017 erstmals auch in deutscher Sprache erschienen (Reich 2017). Reich war überzeugt, dass Neurosen und der (neurotische) Zustand unserer Gesellschaft nur von den „Kindern der Zukunft“ verändert werden kann. Individuelle Therapie sei nicht in der Lage, die gesamtgesellschaftliche Neurose, die Angst vor dem Lebendigen, zu lösen. Dies scheitere an der zu geringen Anzahl fähiger Therapeuten wie auch an der Charakterstruktur der politisch Handelnden. Nach der klinischen Erfahrung Reichs sei die Tiefe der Störung in den allermeisten Menschen zu groß, die Orgasmusangst zu tief im Vegetativen verankert. Wie er selbst schrieb: „Orgasmusangst ist die Angst des dem Lusterlebnis entfremdeten Ichs vor der überwältigenden Erregung des Genitalsystems. Die Orgasmusangst bildet den Kern der allgemeinen strukturellen Lustangst. Sie äußert sich gewöhnlich als allgemeine Angst vor jeder Art vegetativer Empfindungen und Erregung oder der Wahrnehmung solcher Erregungen und Empfindungen. Lebenslust und Orgasmuslust sind identisch. Die äußerste Erscheinung der Orgasmusangst bildet die allgemeine Lebensangst.“ (Reich 2010, 124) Selbst Reich, der wohl ein sehr fähiger Therapeut war, gab lediglich eine sehr niedrige therapeutische Erfolgsquote für vollständige Heilung an. Die damals gegenwärtige Generation hielt er im Angesicht des Faschismus, des Weltkriegs und der Atombombe für völlig gescheitert. Nur eine allmähliche Veränderung durch die zukünftigen Generationen verspräche Hoffnung. Doch es wäre völlig unbekannt, was und wie ein solches „Kind der 20 1 | 2018 Anton Sàlat Zukunft“, also ein nicht-neurotisches, gesundes Kind eigentlich wäre. Die ihm vertraute, damalige Säuglings- und Kinderforschung (R. Spitz, A. Freud, M. Mahler) orientierte sich wie auch die gegenwärtige nahezu ausschließlich an Untersuchungen von gestörten und erkrankten Kindern, etwa an den Folgen frühkindlicher Mutter-Kind-Trennung. Hier war also keine Hilfe zu erwarten. Reichs Ansatz war zu versuchen, so viele Störungen einer natürlichen Entwicklung von Kindern wie irgend möglich auszuschließen. Die Kinder möglichst gesunder Eltern sollten weitestgehend selbstreguliert aufwachsen. Dies ist auch aus heutiger Sicht ein progressiver Ansatz. Nicht die Erforschung von pathologischen Entwicklungen interessierte ihn, sondern er versuchte, eine Art von empirischer Definition von Gesundheit zu erreichen. Reich war sich des (damaligen) aktuellen Standes der Säuglingsforschung bewusst. Er wies selbst darauf hin, dass nach Ende des Zweiten Weltkriegs unabhängig von ihm oder anderen eine gesellschaftliche Strömung entstanden sei, nämlich das „internationale Interesse am Kind“. Die Vereinbarungen, die er mit den Müttern schloss, die an seinem Säuglingsforschungsprojekt teilnehmen sollten, waren für die damalige Zeit hochmodern: sanfte Geburt mit gedämpftem Licht, Ruhe, keine Trennung von Mutter und Kind, Anwesenheit des Vaters bei der Geburt und Einbeziehung in die Erziehung, völlige Offenheit der Partner auch und gerade in sexuellen Wünschen, Beachtung der sexuellen Zufriedenheit der Partner in der Schwangerschaft wie auch in der nachgeburtlichen Zeit usw. (Reich 1984a). Spätere fortschrittliche Ansichten etwa von Leboyer zu Geburt und Säuglingspflege hat Reich damit um Jahrzehnte vorweggenommen (Leboyer 1995, 2010). Die Schwierigkeiten beim Versuch, ein Kind möglichst ungestört und selbstreguliert aufwachsen zu lassen, wurden von ihm offen und klar dargestellt. Vielfältige Hürden bestanden in der (Charakter-)Struktur der Eltern wie auch in den Einflüssen der Umgebung. Reich bevorzugte bei seinem Projekt die Direktbeobachtung, also eine damals wie noch heute moderne Methode. Eltern und Kinder sollten durch orgonomisch ausgebildete ÄrztInnen und SozialarbeiterInnen betreut und beobachtet werden. Seine Vorgabe, nichts anderes gelten zu lassen als das „Interesse des Kindes“, alles an diesem Gradmesser zu prüfen und möglichst sämtliche eigenen Vorstellungen bleiben zu lassen, war sehr ehrgeizig und fordernd für sämtliche Mitwirkenden. Ebenso interessant waren die Beobachtungen, die die damalige Sicht auf Kinder völlig über den Haufen warfen: Scheinbar „normale“ Entwicklungsphasen, wie Drei-Monats-Koliken, kindliche Verstopfungen, Angstträume u. a. traten bei den selbstreguliert aufwachsenden Kindern nicht auf. Ganz im Gegensatz zur herkömmlichen Meinung wurden die Kinder nicht egoistisch oder selbstsüchtig, sondern zeigten Feinfühligkeit und natürliche Sozialität. Sadistische Impulse traten nie auf. Dass man durch Selbstregulation „sadistische und gewaltliebende Entwicklungen in unseren Kindern verhüten kann, macht die meisten Kampagnen für Frieden überflüssig. Es gäbe dann einfach keine sekundären Triebstrukturen im Menschentier mehr, mit denen man Kriege auslösen kann.“ (Reich 2017) Ebenso überraschend waren vegetative Zeichen wie etwa der orale Orgasmus des Kleinkindes als natürlicher Ausdruck. Als „oralen Orgasmus“ bezeichnete Reich bei Babys nach erregendem Saugen an der Mutterbrust auftretende, orgastische Zuckungen der Gesichtsmuskulatur, mit Augenrollen, Zuckungen der Zunge und nachfolgender Entspannungsphase (Reich 2017). Dies hat bis heute noch keinen Eingang ins allgemeine Wissen gefunden. Reich berichtet auch von persönlichen Erfahrungen: Trotz seiner umfangreichen Kenntnisse im Verständnis der Ausdruckssprache des Lebendigen (Reich 1997) hatte er große Wilhelm Reichs „Kinder der Zukunft“ 1 | 2018 21 Schwierigkeiten, die nonverbale Ausdruckssprache des Säuglings zu verstehen. Dies betraf ihn besonders hart bei seinem eigenen Sohn. Er beschreibt offen seine anfängliche Hilflosigkeit, als dieser im Alter von drei Wochen Fallangst entwickelte. Dieses Auftreten von Fallangst bereits im Säuglingsalter, also eine präkonzeptuelle Symptombildung ohne vorhergehende Erfahrung, war etwas Überraschendes. Reich hatte zuvor diese Fallangst bei Krebspatienten, also bei schwerstkranken Menschen, beobachtet. Wenn diese begannen, die Blockierung ihrer Atmung und die Hemmung ihrer Hingabe zu überwinden, also eine energetische Expansion erlebten, trat diese Fallangst auf. Die gleiche emotionelle Äußerung fand sich nun bei Säuglingen in den ersten Lebenstagen und -wochen. Damit sei eine Verbindung feststellbar zwischen frühkindlichem Rückzug und dem Auftreten von schweren Erkrankungen im höheren Lebensalter. Reich postulierte, dass diese der energetischen Basis der Krebserkrankung zugrundeliegende Störung aus der frühesten Kindheit stamme (Reich 2017). Die besondere Doppelrolle als Vater wie auch als erfahrener Therapeut wurde später für ihn erneut zur Crux, als sein Sohn infolge einer genitalen Frustration zu stottern begann. Auch hierzu beschreibt er klar die Funktion der persönliche Gekränktheit eines Vaters, die er erst allmählich überwinden konnte. Doch Reich beantwortete jeden persönlichen Rückschlag mit Aktivität. Und so verwandelte er die Einbrüche in der Entwicklung seines und anderer Kinder in Wissen um die (Entwicklungs-)Prozesse. Die muskulären Kontraktionen, die sich im Gefolge der Fallangst bildeten, konnte er durch sanfte Mobilisierungen und Fallübungen allmählich beseitigen. Ebenso gelang es ihm, das Stottern seines Sohnes zu beseitigen. Dennoch ging es ihm nicht darum, einen momentanen Ausweg für einen einzelnen Fall zu finden. Er lehnte es ab, die gewissen Handgriffe, Methoden oder Kniffe auch nur zu nennen. Es ging ihm nicht darum zu zeigen, dass „es möglich ist“ oder „er es hinbekommt“, sondern der dahinterstehende Ablauf sollte erkannt werden, damit ein schulbares Verfahren und eine unterrichtbare Theorie und Technik entstehen konnte, die von jedem gut Ausgebildeten anwendbar war. Reichs Wunsch nach Entwicklung einer theoretisch wie praktisch wohlfundierten „Emotionalen Ersten Hilfe“ für Kinder, die in der Lage ist, auftretende Störungen bereits zu Beginn therapeutisch zu korrigieren, ist zukunftsweisend. Er fordert dazu auf, eher die Mütter und ErzieherInnen dazu zu befähigen als ÄrztInnen und TherapeutInnen, da erstere mehr Kontakt zum Kind haben, und besser und schneller verfügbar sind (Reich 2017). Reich schreibt: „Unsere Kinder zu befähigen, sich aus biopathischen Situationen zu lösen, ist alles andere als einfach. Die wahre Schwierigkeit liegt dabei nicht bei den Kindern, sondern bei den Erwachsenen-- Eltern, Erziehern, Lehrern, Menschen in der Umgebung. Alles hängt davon ab, ob oder ob nicht und wie schnell die gesamte Öffentlichkeit von der Einsicht in die Schädlichkeit von Panzerungen durchdrungen wird. Und dies wird wiederum davon abhängen, wie erfolgreich die Entwicklung derartiger „Erste Hilfe“-Maßnahmen für Kinder und deren allgemeine Verbreitung sein wird.“ (Reich 2017) In den 1950er Jahren galt der Neugeborene noch als unbewusst, „autistisch“, ihm wurde sogar die Fähigkeit zur Schmerzempfindung abgesprochen. Die beobachteten Kinder stellten sich völlig anders dar: Sie beobachteten, fokussierten, nahmen teil an ihrer Umgebung. Reich widersprach daher deutlich der auch Freud’schen Position des „natürlichen Autismus“ des Kleinkinds. Dieser sei eine Fehlinterpretation, da eigentlich durch unsere Erziehungsmethoden bedingt (Reich 2017). Die neuere Säuglingsforschung betont den Aufbau einer stabilen Bindung. Bindungsver- 22 1 | 2018 Anton Sàlat luste sowohl des Kindes wie auch der Eltern, z. B. durch schwierige Geburtsverläufe, Kaiserschnittgeburten etc., aber auch unbewältigte Konflikte der Eltern kennzeichnen die überwiegende Anzahl von Schreikindern und anderer frühkindlicher Störungen (Harms 2000). Dieses Spannungsfeld wurde von Reich berührt, auch wenn seine damalige Begrifflichkeit anders ist als die heutige. Sein wichtigstes Thema war der Kontakt zwischen Mutter und Kind. Er betonte die Notwendigkeit dieses Kontaktes mit der Voraussetzung einer möglichst tiefen (bioenergetischen) Kontaktfähigkeit der Eltern. Kontakt und Kontaktverlust, also Rückzug in den Augen / im Kopfsegment und damit Verlust des Realitätsprinzips, sind für die Eltern wie auch die Kindesentwicklung entscheidend. Aber er spricht auch die Gefahr des Kontaktverlustes durch zu hohe Selbstansprüche an, und auch die Gefahr, einen inneren „Zwang zu Kontakt“ zu etablieren, weil Eltern den manchmal auftretenden (normalen) Kontaktverlust nicht ertragen und mit Schuldgefühlen versehen (Reich 2017). Diese Themen werden heute mit „Perfektionismus“ umschrieben. Gerade die sich selbst und anderen nicht eingestandenen Ängste und Befürchtungen erweisen sich als überaus bedeutsam im Kontakt und damit im Bindungsaufbau zum Säugling (Reich 2017). Dies ist auch für die heutige Zeit interessant, haben sich doch die vorhandenen Störungen durch die Veränderungen in der Gesellschaft mitgewandelt. Während zu Reichs Lebzeiten gehemmte Charakterstrukturen mehr im Vordergrund standen, finden sich heute weitaus mehr (nach Reich) triebhafte Charaktere und frühkindliche Bindungsstörungen (Nasselstein 2015; Preuß 2012). Ebenso wie die narzisstische Persönlichkeitsstörung prägt auch das Vorhandensein ausgeprägten Kontaktverlusts im Augensegment die gegenwärtigen Generationen (Preuß 2012; Focus Online 2017). Ebenso spannend ist Reichs Besprechung der Sauberkeitserziehung und der oft damit verknüpften Abwehr von sexuellen Erregungen beim Kleinkind. Hier liegt ein psychosomatischer Verständnisansatz für verschiedene „Störungen“ wie etwa Koliken und Obstipation im Kindesalter, der noch längst nicht allgemein bekannt ist oder beachtet wird, vor allem nicht im pädiatrischen Bereich (Reich 1926, 2017). Es zeigt sich also, dass auch ein „gesundes“ Kind beileibe nicht ohne Störungen aufwächst, ja sogar unter der „normalen“ Umgebung mehr leidet als Kinder mit Panzerungen. Allerdings kommen selbstregulierte Kinder leichter über solche Störungen hinweg, wenn ein liebe- und verständnisvolles Umfeld ihnen den Raum dazu lässt: „Gesundheit beruht weniger auf völliger Abwesenheit von Krankheit als darauf, Krankheitszustände und Störungen zu überwinden und ohne Schaden aus ihnen herauszukommen.“ (Reich 2017) Fazit Seit Reichs Zeit haben sich zahlreiche Forscher für Säuglinge interessiert. Gerade die Videobeobachtung hat viele Ergebnisse erbracht. Säuglinge werden heute anders wahrgenommen als noch zu Reichs Zeiten. Namhafte Forscher wie Stern, Emerson, Dornes, Papoušek und andere haben das Bild des Säuglings grundlegend neu gezeichnet. Reichs Forschungen, gerade in ihrem zeitlichen Kontext gesehen, stellen ihn in eine Reihe mit diesen, konnte er doch die Grundlagen für das Vertrauen in die selbstregulatorischen Fähigkeiten der Kinder aufzeigen. Das Reich’sche Projekt, gesunde Kinder in ihrer möglichst ungestörten Entwicklung zu studieren, um eine wissenschaftliche Grundlage für eine allmähliche Verbesserung der Lebenssituation der Kinder in einer (neurotischen) Gesellschaft zu schaffen, bleibt auch heute aktuell. Und seine Forderung nach Beachtung und Förderung der kindlichen Genitalität bleibt gültig. Die oft geäußerte „Relativie- Wilhelm Reichs „Kinder der Zukunft“ 1 | 2018 23 rung“ der kindlichen Sexualität kann auch als Abwehr gesehen werden. Reichs Ansatz, nichts anderes gelten zu lassen als nur das Interesse des Kindes, erschien und erscheint utopisch. Zahlreiche Familien haben jedoch nach dieser Vorgabe ihre Kinder herangezogen, ohne später etwas bereuen zu müssen, und auch Schulen haben bis heute diese Reich’schen Ansätze mit Erfolg weitergeführt, die bekannteste davon sicherlich die Summerhill Schule von A. S. Neill in England, in der noch heute das Prinzip der antiautoritären Erziehung angewendet wird (nicht zu verwechseln mit dem „antiautoritären Erziehungsexperiment“ oder besser Verwahrlosungsexperiment im Gefolge der 1968er-Bewegung) (Neill 1998; Peschel 2010). In Punkto Kinderfreundlichkeit hat sich unsere heutige Gesellschaft im Verhältnis zum Zeitpunkt der Reich’schen Untersuchungen sicherlich gewandelt und entwickelt. Daher wird der Leser in Reichs Buch über das Kinderforschungsprojekt auch manches finden, was nicht mehr zeitgemäß erscheinen mag. Viele damalige Methoden sind heute (hoffentlich) Geschichte. Niemand wird heute das Recht der Mutter in Frage stellen, direkt nach der Geburt ihren Säugling zu sehen und zu halten. Manches wird kaum noch zu glauben sein, wie z. B. ein Kind streng nach Zeitplan und nicht nach dessen Hungerbedürfnis zu stillen. Dennoch sollten solche, vor nicht allzu langer Zeit übliche Tatsachen als historische, kulturelle Entwicklungsschritte erinnert und beachtet werden. Andere Dinge wie etwa die Beschneidung, die Reich als „nicht im Interesse des Kindes“ anprangert (Reich 2017), werden selbst in unserer heutigen Gesellschaft noch immer nicht eindeutig als Körperverletzung gebrandmarkt (Bazett et al. 1932; Goldman 1997; Taddio et al. 1995, 1997). Auch physiologische Reflexe wie der orale Orgasmus von Kleinkindern sind weiterhin kaum in der Allgemeinheit bekannt. Die Nennung und Förderung der kleinkindlichen Sexualität ist bis heute wenig beachtet, in ihrer Bedeutung und Wechselwirkung oft unterschätzt und noch längst nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Ebenso bleibt die sexuelle Zufriedenheit in der Schwangerschaft wie in der nachgeburtlichen Zeit eine wesentliche, wenn auch selten berücksichtigte Ursache von Partnerschaftswie auch von Eltern-Kind-Problemen. Gerade in unserer heutigen, von verschiedensten Ethnien und Kulturen durchsetzten Gesellschaft mit aus unterschiedlichsten Traditionen stammenden Mitbürgern können durchaus für uns „aufgeklärte“ Mitteleuropäer unerwartete Sitten und Gebräuche in der Kleinkinderpflege und Kindeserziehung vorkommen. Es bleibt eine der zu lösenden Aufgaben, Kulturen in unterschiedlichen Entwicklungs- und Aufklärungsstadien gerade in Bezug auf deren Umgang mit Kindern zu unterrichten und aufzuklären. Wilhelm Reich steht mit seiner Auffassung, dass früheste Einwirkungen und Einschränkungen auf die Entwicklung des Kindes zu chronischen Spannungszuständen im vegetativen Apparat und damit zu Biopathien, also zu Veränderungen der Gesamtlage des Organismus führen, heute glücklicherweise nicht mehr alleine (z. B. Marlock/ Weiss 2006; Harms 2000; Harms/ Thielen 2017). Diese These wurde auch durch die Säuglingsforschung seit 1980 erhärtet. Reichs Ansicht, biopathische Störungen als Ursache („Disposition“) einer Vielzahl von Krankheiten wie Hypertonie, Krebs, Alzheimer u. v. m. zu sehen, kann auch durch neuere psychosomatische Forschungen validiert gesehen werden (Reich 1994; DeMeo / Senf 1997; Uexküll 2016). Reichs Hauptargument ist, die Bedeutung der Emotionen nicht zu vernachlässigen. Er kritisiert, dass die „Wissenschaft“ in ihrem Versuch nach „Objektivität“ die Bedeutung der Emotionen sowohl beim Betrachter wie beim untersuchten „Objekt“ ausklammert und dadurch zu verzerrten und falschen Ergebnissen kommen muss. Durch die neuere Hirnforschung wird aber diese wichtige Rolle 24 1 | 2018 Anton Sàlat der Emotionen bestätigt. Zeigt diese doch beispielsweise, dass entgegen früherer, paradigmenartig geäußerter Auffassung eine Regeneration wie auch ein Wachstum von Nervenzellen im Hirn möglich ist, aber nur bei emotionaler Begeisterung (Janssen 2017; Hüther 2011). Auch die noch vorsichtig geäußerten Auffassungen der „Heilbarkeit“ von Demenz und Alzheimer durch emotionale Aktivierung und Stimulierung weisen in diese Richtung (Fröschl et al. 2015; Nehls 2016). Insgesamt war Reich ein wegweisender Pionier der wissenschaftlichen Entwicklung, dessen Einflüsse die gesamte Gesellschaft durchsetzen, ohne dass der Anstoß zu dieser Entwicklung mit seiner Person in Verbindung gebracht wird, etwa der „Charakterpanzer“ oder auch die „sanfte Geburt“. Dass sich emotionale Traumen in körperlichen Haltungen und „Verkrampfungen“ niederschlagen und darin „gespeichert“ werden, ist heute allgemeiner Kenntnisstand und wird selbstverständlich geäußert, nicht nur von TherapeutInnen, Gymnastik- und YogalehrerInnen und anderen der Gesundheit verpflichteten Berufsgruppen. Der direkte Kontakt zwischen Therapeut und Patient, die direkte Behandlung des Körpers und dessen muskulärer (bindegewebiger / faszialer) Situation, zu Reichs Lebenszeit als Verletzung der Grundregel verpönt, ist heute die Basis einer Vielzahl von körpertherapeutischen Schulen, deren Nutzen kaum jemand in Frage stellt (Marlock/ Weiss 2006). Aber außer im speziellen professionellen Bereich ist wenig bekannt, dass Wilhelm Reich derjenige ist, der die Basis dieser Therapien ermöglicht und entwickelt hat. Ebenso wenig bekannt ist heute leider die ursprüngliche Vegetotherapie oder Orgontherapie, also die Freisetzung des Orgasmusreflexes als therapeutischem Gradmesser für die biovegetativemotionale Durchlässigkeit des Körpers. Die sexuelle Liebes- und Hingabefähigkeit (Orgasmusreflex) ist der Kernpunkt der Reich’schen Orgonomie, doch ist kaum jemand der heutigen Generation in der Lage, diese Genitalität auch zu leben. Dies hat dazu geführt, dass Therapeuten vorgeben, Reich „weiterzuentwickeln“, ihn aber meist seiner Kernthese berauben, nämlich des Konzeptes der Funktion des Orgasmus, einschließlich (und vor allem) dem Orgasmusreflex. Reich sieht diese Entwicklung bereits voraus in seinem Gespräch mit Eissler über Freud (Reich 1967). Ob die Unfähigkeit, die von Reich aufgestellten Thesen wirklich zu leben, der tiefere Grund für Reichs massive Verfolgung und Ablehnung ist, sei dahingestellt und müsste in einer späteren Forschungsarbeit geklärt werden. Manche heute überaus aktuelle Situationen der Säuglings- und Kinderpflege konnten zu Reichs Zeiten nicht geahnt werden, wie z. B. die derzeit von allen politischen Seiten gewollte Krippenerziehung. Diese führt allerdings dazu, dass die Kleinkinder trotz des äußerlichen Scheins von Ruhe innerlich schwer gestresst sind, wie umfangreiche Untersuchungen mit Bestimmung der Cortisolspiegel zeigen (Behncke 2013; Boehm 2013). Das führt zur Reaktionsbildung, so dass also Panzerungen früher einsetzen, tiefer bestehen und (noch) schwerer zu beheben sind. Während das Hauptinteresse heute oft darin zu liegen scheint, so früh wie möglich ein Kind „unterzubringen“, damit die Eltern / Mutter ihre berufliche Tätigkeit weiter verfolgen kann, stellt Reich das Kind in den Mittelpunkt. Wer Reichs Ansatz ernst nimmt zu fragen, was das Kind für seine gesunde emotionale Entwicklung benötigt, muss sich auch fragen, ob die aktuelle Diskussion um Krippenerziehung und frühkindliche Berufstätigkeit der Mütter wirklich das Wohl des Kindes vertritt. Aus der Sicht der Überwindung und Prophylaxe von gesellschaftlicher Neurose ist die Krippenerziehung eine katastrophale gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklung, auch wenn diese derzeit als Erfolg gefeiert wird. Welche sozialen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgeschäden aus dieser politisch gewollten frühen Wilhelm Reichs „Kinder der Zukunft“ 1 | 2018 25 Trennung entstehen werden, wird uns die Zukunft zeigen, da die Gegenwart dafür wenig Interesse aufbringt. Aus dieser sozio-ökomischen Sichtweise ist Reichs Projekt „Kinder der Zukunft“ nicht unbedingt mit dem aktuellen Mainstream kompatibel. Reich geht auf diesen Punkt nicht ein, weil dies damals nicht aktuell war. Sein Forschungsprojekt und die darüber berichtende Schrift „Die Kinder der Zukunft“ ist wie alle anderen Schriften Reichs kein Werk, welches sich um gesellschaftliche Anerkennung bemüht. Sein Ansatz ist ausschließlich der (wissenschaftlichen) Wahrheit verpflichtet. Wenn es Widerstände oder Hemmnisse gibt, dann sollen diese auch gesehen, benannt und wenn möglich überwunden werden. „Wer davor zurückschreckt, wer Angst hat, ausschließlich das Lebendige zu vertreten, sich nicht traut, alleine gegen die Gesellschaft zu stehen, der soll zurücktreten und schweigen“, fordert Reich, radikal wie immer (Reich 2017). Reich ging es vor allem darum zu erforschen, was ein Kind braucht, um zu einem gesunden Erwachsenen heranzuwachsen. Seine Auffassung, dass eine Prophylaxe von Neurosen bzw. von Biopathien, also von den gesamten vegetativen Lebensapparat betreffenden Erkrankungen, nur durch eine Veränderung der Lebensbedingungen unserer Säuglinge, Kinder und Jugendlichen in Richtung Natürlichkeit allmählich möglich werden kann, ist plausibel. Mit seinem Werk „Die Kinder der Zukunft“ hat er seinen Beitrag zur Möglichmachung dieser Entwicklung geleistet. Literatur Baker, E. (2015): My eleven years with Reich. ACO Press (Kindle Edition), Princeton Bazett, H. 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Eigene Praxis mit Schwerpunkt Naturheilkunde und Psychosomatik im Schwarzwald. Tätigkeit in Mutter-Kind- Klinik, wissenschaftlicher Lektor und Übersetzer. ✉ Dr. med. Anton Sàlat Bonndorfer Str. 100 | D-79848 Bonndorf anton-salat@aponet.de