körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2018.art12d
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Aktuelles aus der Forschung: Aktuelle Studien unter Einbezug des Kestenberg-Bewegungsprofils
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Iris Bräuninger
Das Kestenberg-Bewegungsprofil oder Kestenberg Movement Profile (KMP) ist ein mikroanalytisches Forschungsinstrument, mit dessen Hilfe nonverbales Bewegungs- und Ausdrucksverhalten beschrieben, notiert, kategorisiert und untersucht werden kann (Kestenberg-Amighi et al. 1999). „Komplexe Bewegungen werden in 9 Diagrammen mit 64 Einzelitems, die auch kombiniert auftreten, qualitativ und quantitativ erfasst. Spannungsflussbewegungen in „System 1“, die zwischen Spannung und Entspannung wechseln, geben Aufschluss über intrapsychische Prozesse wie Affekte und Bedürfnisse, Temperament, Lernstile und Bewältigungsmechanismen. […]
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88 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 88-90 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art12d © Ernst Reinhardt Verlag Aktuelles aus der Forschung Aktuelle Studien unter Einbezug des Kestenberg-Bewegungsprofils Iris Bräuninger D as Kestenberg-Bewegungsprofil oder Kestenberg Movement Profile (KMP) ist ein mikroanalytisches Forschungsinstrument, mit dessen Hilfe nonverbales Bewegungs- und Ausdrucksverhalten beschrieben, notiert, kategorisiert und untersucht werden kann (Kestenberg-Amighi et al. 1999). „Komplexe Bewegungen werden in 9 Diagrammen mit 64 Einzelitems, die auch kombiniert auftreten, qualitativ und quantitativ erfasst. Spannungsflussbewegungen in „System 1“, die zwischen Spannung und Entspannung wechseln, geben Aufschluss über intrapsychische Prozesse wie Affekte und Bedürfnisse, Temperament, Lernstile und Bewältigungsmechanismen. Formenflussbewegungen in „System 2“, die zwischen Wachsen und Schrumpfen wechseln, verdeutlichen Objektbeziehungen und interpersonelle Kommunikation wie Selbstgefühle zum Körperbild, Reaktionen auf Stimuli, Beziehungsstile, Abwehrstrategien und Interaktionsstile.“ (Bräuninger 2017) Die Spannungsflussrhythmen des KMP-Diagramms 1 sind zehn beobachtbare Rhythmen, die einen Wechsel der Muskelspannung bzw. Muskelentspannung anzeigen. Fünf der Rhythmen werden als hingebend und fünf als kämpfend klassifiziert (Loman / Merman 1996). Eine Studie von Koch und Rautner (2017) integriert das KMP-Diagramm 1 (Spannungsflussrhythmen) im Rahmen eines RCTs zu Körperrhythmen und wie diese das Bedürfnis vermitteln, sich hingeben (to indulge) oder sich trennen (to separate) zu wollen. Eine zweite Studie von Feniger-Schaal und Lotan (2017) integriert zwei Diagramme des Systems 2, nämlich Diagramm 8 (Richtungsbewegungen) und Diagramm 9 (Formen in Ebenen) und deren Beziehung zu Bindungsorientierungen (Angst und Vermeidung). RCT zu Spannungsflussrhythmen als Kommunikation für den Wunsch nach Hingabe oder Trennung Die randomisierte kontrollierte Studie von Koch und Rautner (2017) untersuchte mithilfe der Spannungsflussrhythmen des KMPs zwischenmenschliche Resonanz am Beispiel der haptischen Kommunikation während der Umarmung zweier Personen. Überprüft wurde die intuitive Wahrnehmung des eigenen Affekts und subtile nonverbale Kommunikationssignale. Die Hypothese ging davon aus, dass hingebende und kämpfende Bewegungsrhythmen als kommunikative Signale dienen, um eine Umarmung fortzusetzen oder zu beenden: Es wurde angenommen, dass die hingebenden Rhythmen als Signal für die Weiterführung der Umarmung und die kämpfenden Rhythmen als Signal für die Beendigung der Umarmung verstanden würden. Zur Überprüfung der Hypothesen wurden 61 freiwillige TeilnehmerInnen zwischen 18 und 29 Jahren (StudentInnen der Universität Heidelberg, M = 21.66, SD = 2.56) zwei unterschiedlichen Konditionen zufällig zugeordnet. Die beiden Konditionen bestanden aus je drei Rhythmussequenzen von Umarmungen: Sequenz A bestand aus zwei hingebenden (indulging) Rhythmen zu Beginn und einem kämpfenden Aktuelles aus der Forschung 2 | 2018 89 (fighting) Rhythmus am Ende der Umarmung (indulging-- indulging-- fighting). Sequenz B bestand aus zwei hingebenden Rhythmen und einem eingebetteten kämpfenden Rhythmus dazwischen (indulging- - fighting- - indulging). Die TeilnehmerInnen wurden mit verbundenen Augen 30 Sekunden lang von einer weiblichen Testhelferin umarmt. Sie wurden angewiesen, ein Taschentuch, das sie während der Umarmung zwischen den Fingern ihrer dominanten Hand hielten, loszulassen, sobald sie spürten, dass die Testhelferin den Wunsch signalisierte, die Umarmung zu beenden. Das Ergebnis zeigte, dass die TeilnehmerInnen signifikant häufiger das Taschentuch in der Phase der kämpfenden Rhythmen losließen. Richtungsbewegungen und Formen in Ebenen als Indikator für Bindungsorientierung Feniger-Schaal und Lotan (2017) untersuchten, ob Richtungsbewegungen und Formen in Ebenen des KMP mit sozialen Interaktionen, Kommunikationsverhalten und Bindungsorientierung bei Erwachsenen in Verbindung gebracht werden können. An der Studie nahmen 48 TeilnehmerInnen freiwillig teil (StudentInnen und MitarbeiterInnen des Weizmann Institute of Science in Israel, Durchschnittsalter = 33,2 Jahre, SD = 7.3), davon 22 Frauen. Sie wurden während der dyadischen Interaktion des Spiegelspiels untersucht, wobei davon ausgegangen wurde, dass Ganzkörperbewegungen und spezifische Bewegungsmaße der SpielerInnen als Indikator für das Bindungsverhalten gelten könnten. Das Spiegelspiel ist eine gebräuchliche Intervention unter anderem in der Tanztherapie und involviert zwei SpielerInnen, welche die Ganzkörperbewegung des Gegenübers spiegeln. Die Bewegungsergebnisse wurden mit den Ergebnissen des Fragebogens zum Bindungsverhalten im Erwachsenenalter (Experiences in Close Relationships ECR Questionnaire, Brennan et al. 1998) korreliert. Die Ergebnisse zeigten signifikante Korrelationen zwischen den Bindungsorientierungen Angst und Vermeidung und dem Bewegungsverhalten: 1. Hohe Werte auf den Bindungsskalen Angst und Vermeidung korrelierten signifikant mit einer geringen Verwendung von „formgebenden Bewegungen“ (KMP Diagramm 9; beobachtet durch gleichzeitige Verwendung von mindestens drei Gelenken). 2. Hohe Werte auf der Bindungsskala Angst korrelierten mit einer hohen Anzahl von Formen in Ebenen (KMP Diagramm 9) und einer geringen Anzahl von Richtungsbewegungen (KMP Diagramm 8). 3. Hohe Werte auf der Bindungsskala Vermeidung korrelierten mit einer hohen Anzahl von Richtungsbewegungen (KMP Diagramm 8) und einer geringen Anzahl von Formen in Ebenen (KMP Diagramm 9). Spezifische Ergebnisse: 1. Höhere Werte von vertikalen und sagittalen Richtungsbewegungen (8. Diagramm) korrelierten mit höheren Vermeidungswerten. 2. Höhere Werte von horizontalen und vertikalen Formen in Ebenen (9. Diagramm) korrelierten mit geringeren Vermeidungswerten. Die Autorinnen schlossen daraus, dass ihre Analyse der Bewegungsinteraktionen Hinweise zu Bindungsorientierungen bei Erwachsenen geben kann. Beispielsweise wurden, wenn höhere Kombinationen von Formen in Ebenen (9.-Diagramm) beobachtet wurden, tendenziell auch weniger Vermeidungswerte gemessen. 90 2 | 2018 Iris Bräuninger Dr. Iris Bräuninger Dozentin / Forscherin (Hochschule für Heilpädagogik Zürich), Dozentin im Masterstudiengang Tanztherapie in Barcelona, Supervisorin / Ausbilderin / Lehrtherapeutin (BTD, ADMTE), Kestenberg Bewegungsnotatorin, Psychotherapie (ECP), private Praxis Bodensee. ✉ Dr. Iris Bräuninger dancetherapy@mac.com und iris.braeuninger@hfh.ch Diskussion und Schlussfolgerung Die Studie von Koch und Rautner (2017) konnte zeigen, dass Spannungsflussrhythmen des KMP als implizite Signale verstanden wurden: Hingebende Rhythmen wurden als Zeichen für die Fortführung und kämpfende Rhythmen als Zeichen für die Beendigung der Umarmung interpretiert. Diese Ergebnisse liefern wichtige Erkenntnisse zum KMP für den angewandten Bereich und bestätigen die Annahme, dass die KMP-Rhythmen gezielt als Interventionsmöglichkeit eingesetzt werden können, beispielsweise um hingebendes Verhalten oder Trennungsverhalten zu unterstützen. Um einen kulturellen Bias der Ergebnisse ausschließen zu können, könnte das Experiment in verschiedenen Kulturen widerholt werden mit der Frage, ob sich die Korrelation auch dann replizieren lässt (hingebende Rhythmen: Umarmung weiterführen; kämpfende Rhythmen: Ausdruck für Wunsch nach Trennung). Interessant wäre darüber hinaus, in weiteren Studien auf der Basis dieser Studie zu überprüfen, ob ein Gendereffekt bei der intuitiven Wahrnehmung subtil nonverbaler Kommunikationssignale besteht. Die Ergebnisse der Korrelationsstudie von Feiniger-Schaal und Lotan (2017) sind ebenfalls wichtige Schritte zur Evaluation des KMPs als Assessmentinstrument, zur Auswahlhilfe für Interventionen und zur gezielten Anwendung einzelner KMP-Diagramme für spezifische Fragestellungen im Rahmen von Therapie und Forschung. Literatur Bräuninger, I. (2017): Kestenberg Movement Profile (KMP). In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch-Lexikon der Psychologie, https: / / portal.hogrefe. com/ dorsch/ kestenberg-movement-profile-kmp, 31.12.2017 Brennan, K. A., Clark, C. L., Shaver, P. R. (1998): Self-report measurement of adult attachment: An integrative overview. In: Simpson, J. A., Rholes, W. S. (Hrsg.): Attachment theory and close relationships. The Guilford Press, New York, 46-76 Feniger-Schaal, R., Lotan, N. (2017): The embodiment of attachment: directional and shaping movements in adults’ mirror game. The Arts in Psychotherapy 53, 55-63, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.aip.2017.01.006 Kestenberg-Amighi, J., Loman, S., Lewis, P., Sossin, K. M. (1999): The meaning of movement: Developmental and clinical perspectives of the Kestenberg Movement Profile. Brunner-Routledge, New York Koch, S. C., Rautner, H. (2017): Psychology of the embrace: How body rhythms communicate the need to indulge or separate. Behavioral Sciences 7 (4), 80, https: / / doi.org/ 10.3390/ bs7040080 Loman, S., Merman, H. (1996): The KMP: A tool for dance / movement therapy. American Journal of Dance Therapy 18 (1), 29-52, https: / / doi. org/ 10.1007/ BF02360220
