körper tanz bewegung
9
2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2018.art15d
71
2018
63
Fallstudie und Leitfaden einer körperorientierten Traumatherapie
71
2018
Herbert Grassmann
Als KörperpsychotherapeutInnen sind wir gewohnt, psychologische Informationen immer auch im Kontext der Verkörperung zu betrachten. Viele TherapeutInnen gehen davon aus, dass ihre Aufgabe bei mangelndem Bezug zum Körper darin besteht, KlientInnen wieder in ihren Körper zu führen. Dabei besteht die Neigung, fast schon reflexartig „Und wie fühlt sich das in Ihrem Körper an?“ zu fragen. Was ist aber, wenn wir KlientInnen begegnen, die darauf keine Antwort haben? Insbesondere in der traumatherapeutischen Praxis tritt häufig die Frage auf, wie man mit KlientInnen arbeiten kann, die keinen (oder einen gestörten) Zugang zu ihrer Körperwahrnehmung haben. Wenn KlientInnen ihren Körper nicht spüren können, liegt es möglicherweise daran, dass dieser zu viel Stress und Desorganisation halten muss, um Empfindungen zuzulassen. Der Artikel zeigt mögliche Vorgehensweisen im Umgang mit fehlender körperlicher Resonanz, wie sie auch von Fogel (2013) in den „Grundprinzipien von Störungen verkörperter Selbstwahrnehmung“ beschrieben werden. Anhand einer Fallstudie soll ein Leitfaden einer körperorientierten Traumatherapie diskutiert werden.
9_006_2018_3_0004
Fachbeitrag 109 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 109-117 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art15d © Ernst Reinhardt Verlag Fallstudie und Leitfaden einer körperorientierten Traumatherapie Herbert Grassmann Als KörperpsychotherapeutInnen sind wir gewohnt, psychologische Informationen immer auch im Kontext der Verkörperung zu betrachten. Viele TherapeutInnen gehen davon aus, dass ihre Aufgabe bei mangelndem Bezug zum Körper darin besteht, KlientInnen wieder in ihren Körper zu führen. Dabei besteht die Neigung, fast schon reflexartig „Und wie fühlt sich das in Ihrem Körper an? “ zu fragen. Was ist aber, wenn wir KlientInnen begegnen, die darauf keine Antwort haben? Insbesondere in der traumatherapeutischen Praxis tritt häufig die Frage auf, wie man mit KlientInnen arbeiten kann, die keinen (oder einen gestörten) Zugang zu ihrer Körperwahrnehmung haben. Wenn KlientInnen ihren Körper nicht spüren können, liegt es möglicherweise daran, dass dieser zu viel Stress und Desorganisation halten muss, um Empfindungen zuzulassen. Der Artikel zeigt mögliche Vorgehensweisen im Umgang mit fehlender körperlicher Resonanz, wie sie auch von Fogel (2013) in den „Grundprinzipien von Störungen verkörperter Selbstwahrnehmung“ beschrieben werden. Anhand einer Fallstudie soll ein Leitfaden einer körperorientierten Traumatherapie diskutiert werden. Schlüsselbegriffe Körperwahrnehmung, Trauma, Social Engagement System, Erinnerungen Case Study and Guidelines of a Body-Oriented Trauma Therapy As body psychotherapists, we are accustomed to looking at psychological information in the context of embodiment. Many therapists assume that if there is a lack of body awareness, their job is to bring clients back into their bodies. To this end, we tend to almost reflexively ask “And how does this feel in your body”? But what do we do about clients who have no answer? Especially in trauma therapeutic practice, the question often arises of how to work with clients who have no (or a disturbed) access to their bodily perception. If clients can not feel their body, it may be because the body must contain too much stress and disorganization to allow perception. The article shows possible approaches for dealing with a lack of physical resonance, also described by Fogel (2013). On the basis of a case study, guidelines for a body-oriented trauma therapy will be discussed. Key words body awareness, trauma, social engagement system, memory 110 3 | 2018 Herbert Grassmann J ohanna B. (Name geändert) ist 40 Jahre alt und seit zwei Jahren geschieden. Ihre beiden Kinder leben bei ihr. Was ihren Beruf angeht, hat sie zwar ihr Staatsexamen gemacht, arbeitet aber zurzeit nicht als Lehrerin. Bevor sie zu mir in die Praxis kam, hatte sie eine langjährige Gesprächstherapie hinter sich, die ihr aber nicht besonders weiterhalf. Es wurde bei ihr eine Fibromyalgie festgestellt, deren Ursache weitgehend unbekannt war. Ganz allgemein ist die Fibromyalgie durch äußerst vielschichtige, teils spezifische, teils nicht eindeutige Symptome gekennzeichnet. Früher wurde die Fibromyalgie als generalisierte Tendomyopathie definiert. „Faser“, „Muskel“ und „Schmerz“ ermöglichen bereits einen ersten Eindruck vom entsprechenden Krankheitsgeschehen. Involviert sind vor allen Dingen die Muskeln und die Gelenke sowie die Nerven. Hinzu kommen psychosomatische und psychische Einschränkungen. Leiden die Betroffenen, wie im vorliegenden Fall, unter einer Grunderkrankung, die eine Fibromyalgie ausgelöst hat, wird von einer sekundären Fibromyalgie gesprochen. Ihr psychischer Stress und ihre frühkindlichen Verletzungen sind Hinweise einer sekundären Fibromyalgie (St. Amand / Craig Marek 2014). Johanna B. begann unsere Sitzung mit den Worten, dass sie eine lange Odyssee von Fehlbehandlungen und Fehldiagnosen durchwandert habe, ohne dass ihr wirklich geholfen wurde. Nach eigenem Bekunden fühle sie sich dennoch stolz, dass sie ihre Schmerzen ohne größere Depressionen oder Gejammer ertragen hatte. Sie beschrieb ihre Kindheit als einen nicht enden wollenden Albtraum. Ihr nicht leiblicher Vater hatte sie mehrfach sexuell missbraucht. Die Schilderung dieser Situation und ihrer Symptomatik deutete zumindest teilweise auf eine Strukturelle Dissoziation hin, wie sie auch von Van der Hart et al. (2008) beschrieben wird. So erinnerte sie sich an den Geruch von Aftershave (konditionierter Reiz), der wiederum die Erinnerung an die Vergewaltigung (unkonditionierter Reiz) auslöste (siehe auch Van der Hart et al. 2008, 234 ff ). Auf meine Frage, was sie sich denn von den Sitzungen bei mir wünsche, sagte sie, dass sie vor allem Vertrauen und wieder Zugang zu ihrem eigenen Körper finden wolle. Wir vereinbarten zunächst fünf Sitzungen, um herauszufinden, ob wir miteinander arbeiten können. Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung ist geprägt von dem Wissen um die Bedeutung von Sicherheit, von kontaktvollem und sensiblem Verhalten, Respekt und klaren Grenzen seitens des Therapeuten. Der besondere Ansatz dieser Traumatherapie ist dabei die interpersonal orientierte neurobiologische Sichtweise (Levine 2016; Scaer/ Levine 2014; Heller 2012; Ogden 2010; Weiss et al. 2010). Die Traumafolgestörung wird hier gesehen als eine unvollständige biologische Antwort. Hinzu kommt eine psychodynamische und entwicklungsorientierte Sichtweise, die auf den Prinzipien einer achtsamkeitsorientierten Vorgehensweise basiert. Es hat sich gezeigt, dass traumatisierende Erfahrungen nicht nur die instinkthaften Fähigkeiten (Fight-or-flight-Reaktionen) verändern, sondern auch die Entwicklung von sozialen Fähigkeiten behindern. Grundlegende Beziehungsfähigkeiten wie „sich abzugrenzen“ oder „nein zu sagen“ sind oft unterentwickelt. Die Unfähigkeit, bedrohliche Situationen zu lösen, hält uns in einer sensomotorischen Spannung gefangen und zeigt sich durch eine Über- oder Unterkopplung-- wichtige Parameter, die eine zu große oder zu niedrige Intensität des Nervensystems kennzeichnen. Die meisten Therapiemethoden berücksichtigen in der Regel nicht in ausreichender Weise die während eines bedrohlichen Ereignisses ablaufenden Reaktionen im Körper und im Nervensystem. Leitfaden einer körperorientierten Traumatherapie 3 | 2018 111 Die Entschlüsselung der Kopplungsphänomene kann diesen Zustand verändern und neue Wahrnehmungsebenen ermöglichen. Das System des Sozialen Engagements (Porges 2010) bietet darüber hinaus ein Modell für den Wechsel in ruhigere, flexiblere und somit attraktivere Allgemeinzustände des Klienten. In nicht bedrohlichen Kontexten reguliert das System des Sozialen Engagements das sympathische Nervensystem: Es hilft, sich auf die Umgebung einzulassen, und es unterstützt dabei, positive Bindungen und soziale Beziehungen zu entwickeln. Die zugrunde liegende Polyvagal-Theorie von Porges (2010) betont dabei das Sicherheitsbedürfnis. Es werden drei hierarchisch aufgebaute Systeme beschrieben, wobei die jüngeren (höheren) Systeme die älteren (niederen) aktiv bremsen. Erst bei Versagen löst sich die sogenannte Vagal-Bremse, und das nächste System aktiviert sich im Sinne einer Verteidigungsstrategie. Bei Sicherheit übernimmt der Neocortex die Kontrolle und erlaubt Soziale Kommunikation (vor allem über die Cranialnerven vermittelt). Bei Gefahr wird das Limbische System aktiviert, was mit hoher physiologischer Erregung (Sympathikus) die Mobilisierung des Flucht- Angriffs-Reflexes auslöst. Bei Ausweglosigkeit (wenn der Flucht-Angriffs-Reflex versagt) kommt es zur physiologischen Down-Regulierung und Immobilisation (Schwäche, Ohnmacht, Resignation, Totstellreflex etc.). Die ersten Sitzungen mit Johanna B. verliefen im Zeichen des Bemühens, Sicherheit und Vertrauen herzustellen. Meine Versuche, ihre Körperwahrnehmung anzusprechen, gestalteten sich schwierig. Anstatt über ihr Körpererleben zu sprechen, begab sie sich in die Welt von mentalen Konzepten. Jeder Versuch, auf ihren Körper einzugehen, erwies sich als schwierig. Ich registrierte bei mir einen Ärger darüber, dass meine Klientin sich „zu wenig“ kooperativ verhielt. Aber auch meine Klientin ärgerte sich darüber, dass ich sie unter Druck setzte. Unser Disput brachte uns zu den Themen Auseinandersetzung und fehlende Grenzen. Sie erzählte mir von den Gewaltszenen aus ihrer Kindheit und ihrem sexuellen Missbrauch. Bei ihren Erzählungen konnte ich ihre Angst und ihre Nervosität, aber auch ihren Ärger wahrnehmen. Ganz allgemein lässt sich bei Gewaltopfern oft folgender Verarbeitungsprozess beobachten: Versucht man die Gedanken an die schmerzhaften Erinnerungen zu unterdrücken, steuert das Gehirn entgegen und drängt die Erinnerung mit der Zeit mit immer größerer Kraft ins Bewusstsein. Gewalt, besonders wenn sie in einem so sensiblen Bereich auftaucht wie in der Sexualität, ruft in nicht seltenen Fällen bei den Opfern dramatische Reaktionen hervor. Die beschriebenen Schmerzzustände von Johanna B. waren ein deutliches Zeichen und Warnsignal, dass etwas nicht in Ordnung ist. Gewalterlebnisse sind traumatische Ereignisse, die extrem aggressiv sind, d. h. sie sind besonders schmerzhaft und bedrohlich. Sie treten meist mit Schock und überfallartig auf, weshalb die dramatische Situation aus der Sicht des Opfers oft unkontrollierbar erscheint. Johanna B.’s Erinnerungen an frühe Gewaltszenen waren solche Beispiele. Ihre Körperempfindungen schienen unkontrollierbar und nicht eingrenzbar. Ihre emotionalen Zustände von Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit überfluteten sie regelmäßig. Wie in einem Alarmzustand, der anzeigt, dass die Gefahr jederzeit wiederkehren kann, wird der physiologische Erregungszustand unkontrollierbar. Wir verlieren die „instinktive“ Fähigkeit, die Gefahr rechtzeitig zu erkennen (Orientierungsreflex) und angemessen zu reagieren (Schutzreflex). Es entsteht eine Kopplung von körperlicher Immobilität und Angst-- von physiologischer Starre und psychischem Leiden. Nach meiner Erfahrung in langjähriger Praxis führt das Erstarren dazu, dass die enorme mobilisierte Energie von einer Sekunde auf die andere eingefroren und im Körper gespei- 112 3 | 2018 Herbert Grassmann chert bleibt, ohne dass sie umgesetzt oder entladen wird. Daraus entstehen somatische Symptome wie Erregung, Zittern, Schweißausbrüche, Überaktivität, Lethargie, Gefühl tiefer Hilflosigkeit, Schlafstörungen, Störungen in der Raum- und Zeitwahrnehmung. Weil das Wiedererleben einer traumatischen Erfahrung so starke schmerzliche Gefühle weckt, vermeiden Traumatisierte solche Erfahrungen, soweit es in ihrer Macht steht. Das Opfer nimmt die Mühe, die es kostet, intrusive Symptome abzublocken, auf sich, verschlimmert damit jedoch den posttraumatischen Kreislauf. Denn der Versuch, ein Wiedererleben des Traumas zu vermeiden, verhindert erfahrungsgemäß auch die Chance, Immobilität und Angst zu entkoppeln, ein notwendiger Schritt, um eigene Ressourcen wiederzuentdecken. Anstatt „nährenden“ sozialen Kontakt zu erleben, droht Rückzug aus zwischenmenschlichen Beziehungen und emotionale Verarmung. Die hier skizzierte Symptomatik zeigt, wie sehr unser Nervensystem durch dramatische Ereignisse tiefgreifend verändert wird. Peter Levine (2016) spricht in diesem Zusammenhang von einem Trauma-Gedächtnis. Im Gegensatz zu normalen Erinnerungen, die flexibel sind und sich verändern können, sind traumatische Erinnerungen durch ihre Fixierung und Immobilität gekennzeichnet. Abbildung 1 zeigt, wie sich das Nervensystem in verschiedenen Stress- und Traumazuständen verhält. Der Organismus besitzt ein Stress- und Entspannungsmuster. Die x-Achse zeigt die Intensität von Stress-Symptomen. Nehmen die Stress-Symptome zu oder chronifiziert sich der Stress, kann es zu einer kombinierten Aktivierung von Sympathikus und Para- Abb. 1: Stress- und Traumazustände Stress-Stadien Basis- Stadium Trauma-Stadien Kombinierte Aktivierung Sympathische Aktivierung Parasympathische Aktivierung 1 0 2 3 4 Leitfaden einer körperorientierten Traumatherapie 3 | 2018 113 sympathikus kommen. Peter Levine vergleicht diesen Zustand mit dem Autofahren (gleichzeitig Gas geben und bremsen). Erregung oder Stress entsteht bei einer Sympathischen Aktivierung des Nervensystems. Bei andauerndem Stress oder bei einer zu hohen Aktivität im Nervensystem werden die Verarbeitungsmöglichkeiten eingeschränkt. Wir sehen eine kombinierte Aktivierung von Sympathikus und Parasympathikus. Traumasymptome zeigen eine höhere Intensität, verbunden mit Gefühlen von Hilflosigkeit (Wolterstorff 2003). Trauma und Erinnerung Die Beschäftigung mit traumatischen Erinnerungen hat eine lange Geschichte. 1889 verfasste Pierre Janet das erste Buch zu der Thematik, die wir heute Posttraumatische Belastungsstörung nennen. Darin argumentierte er, dass Traumata im Prozessgedächtnis abgespeichert würden. Diese würden in automatischen Reaktionen und in Form von instinktiven Empfindungen (Ängsten), körperlicher Bewegung und visuellen Bildern (Albträume und Flashbacks) immer wieder von neuem durchgespielt und neu inszeniert. Damit unterstrich Janet die Bedeutung von Erinnerungen im Umgang mit Traumata (Janet 1889). Aus einem Ereignis wird ihm zufolge ein Trauma, wenn überwältigende Emotionen eine angemessene Verarbeitung der Erinnerung stören. Es entsteht eine Reaktionskette und eine Konfrontation mit der ursprünglichen Traumasituation. Erinnerungen formen sich zu einem bedrohlichen Szenario und wirken durchaus real. Wir vergessen, dass es Erinnerungen sind. Die Arbeit an den Erinnerungen ist zentral für die Auflösung von schmerzhaften und traumatisierenden Erfahrungen. Durch die Arbeit mit der Erinnerung können wir wieder unterscheiden lernen, was Vergangenheit und was Gegenwart ist. Dabei verfügt unser Körper über verschiedene Gedächtnisformen. Je nach Erinnerungsform erlernen und speichern wir Erfahrungen anders (Levine 2016). In den ersten Sitzungen mit Johanna B. arbeiteten wir sehr stark an einer sicheren tragenden und unterstützenden Beziehung. Dabei vermied ich, sowohl auf ihren Körper als auch auf ihre Erinnerungen einzugehen. Wenn in den Sitzungen unangenehme Gefühle spürbar waren, wurden diese Stresszustände reguliert. Durch die somatische Spiegelung und die daraus resultierende Verbundenheit mit ihr war es ihrem Nervensystem möglich, eine neue Balance zu finden und sich auf einem höheren Level der Selbstregulation neu einzuschwingen. Johanna B. wurde in ihrer Kindheit oft mit ihren Gefühlen alleine gelassen. Während einer Therapiesitzung mit ihr wurde dieser Umstand Abb. 2: Gedächtnisformen (Levine 2015, S. 17): Für die Traumaverarbeitung spielen neben der erwähnten sozialen Verarbeitung das episodische, das prozedurale und das deklarative Gedächtnis eine wichtige Rolle. Explicit Declarative Episodic Emotional Procedural („Body Memory“) Implicit Most Conscious Least Conscious 114 3 | 2018 Herbert Grassmann sehr deutlich. Sie erzählte, dass sie immer in ihr Zimmer musste, wenn sich ihre Eltern stritten. Natürlich bekam sie die Auseinandersetzung durch ihre Zimmertüre mit. Sie bekam große Angst und fürchtete sich davor, dass ihre Eltern sich trennen würden. Während ihrer Schilderungen fiel mir auf, dass sie zwar von ihren Gefühlen redete, aber ihr Körper sich dabei teilnahmslos und abwesend verhielt. Als ich sie darauf aufmerksam machte, kam sie mit ihrer Teilnahmslosigkeit in Kontakt. Ich berichtete ihr von meinen Gefühlen der Traurigkeit darüber, dass sie damit ganz alleine war. Dies wiederum half ihr, ihre Gefühle mehr kennenzulernen und zu erforschen. Um Klienten auf diese Art und Weise begleiten zu können, müssen TherapeutInnen ihren eigenen Körper wahrnehmen, regulieren und gleichzeitig in Resonanz mit dem Klienten gehen können. Durch diese duale Aufmerksamkeit (Ogden 2010) können auch feine Veränderungen im Gegenüber wahrgenommen und verbalisiert werden. In der tiefen Verbindung können Prozesse leichter erkannt und angestoßen werden. Allan Schore beschreibt die Förderung von Selbstregulierung, also die Fähigkeit, Affekte zu regulieren, als zentral bedeutsam für die kindliche Entwicklung (Schore 2003). Der Sinn der frühen Bindung ist demnach, die erfahrungsabhängige Reifung des Gehirns in den ersten zwei Jahren und die Organisation des Gehirns selbst zu unterstützen. Die Entwicklung der Stressbewältigungskapazität für die Interaktion mit der Umgebung ist einer der wichtigsten Lernschritte des Kindes. Die frühkindlichen Erfahrungen sind höchst erregende, emotionsgeladene Erlebnisse, die das Kind einem hohen Niveau von kognitiver und emotionaler Information aussetzen. Um dieses hohe Niveau zu erhalten, synchronisieren Mutter und Kind ihr Verhalten innerhalb von Bruchteilen von Sekunden. Diese Mechanismen sind grundlegend für die emotionale Entwicklung. Der Einklang von Gesichtsmimik und Gestenkommunikation (Affektsynchronisation) ist auch bedeutsam innerhalb einer Traumasitzung, insbesondere wenn es um frühe Formen von Entwicklungstraumata geht (Schmidt 2008). Aus der Bindungsforschung wissen wir, wie überlebenswichtig eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind ist. Ein wichtiges Ziel des Bindungsverhaltens ist es, räumliche und psychische Nähe herzustellen, um emotionale Sicherheit zu erlangen. Hierbei spielt der Emotionsausdruck eine wichtige Rolle, indem das Kind beispielsweise Bedürftigkeit signalisiert, so dass die primäre Bezugsperson die Nähe wiederherstellt. Affektsynchronisation vermittelt dem Kind eine stabile Sicherheit, in der aufkommender Stress wieder reguliert werden kann. Im Kontext der Therapie entwickeln die TherapeutInnen eine duale Aufmerksamkeit-- für sich selbst, aber auch für die KlientInnen. Dies ermöglicht, die nährenden Perioden sozialer Interaktion zu würdigen und auszubauen. Jede Störung dieser Selbstregulation führt nicht nur zu den erhöhten Erregungszuständen im Nervensystem, sondern stellt auch die soziale Umgebung infrage. Die Untersuchung psychischer Traumata konfrontiert die TherapeutInnen mit der höchst sensiblen Verwundbarkeit des Menschen in seiner natürlichen Umwelt. Das Ziel dieses Prozesses ist, eine tragfähige und sichere Arbeitsbeziehung herzustellen und gleichzeitig die Flexibilität des Nervensystems zu vergrößern (Resilienz). Dies ist die Voraussetzung, um sowohl mit dem Erinnerungssystem, als auch mit der Körperempfindungsebene bzw. dem Nervensystem zu arbeiten. Um eine stärkere Elastizität zwischen Erregung und Entspannung zu erreichen, hat sich die Arbeit mit dem Toleranzfenster bewährt. Es zeigt die optimale Intensität des Nervensystems an, also Stressreaktionen, die keinesfalls überwältigend wirken. Leitfaden einer körperorientierten Traumatherapie 3 | 2018 115 Der Aufbau einer positiven Körperressource Wie schon eingangs erwähnt, kann ein Defizit an Körperwahrnehmung eine wichtige Schutzreaktion bedeuten. Aus der Praxisbeobachtung heraus können wir dabei verschiedene Muster mangelnder Körperwahrnehmung unterscheiden: KlientInnen, die ihren Körper gar nicht fühlen können, KlientInnen, die sich vor ihrem Körper graulen oder hypochondrische Züge zeigen, KlientInnen, die ihren Körper vor allem als schmerzhaft erleben, und KlientInnen wie Johanna B., bei denen jede positive Erfahrung sofort negativ gekoppelt wird. Hierfür spricht auch eine hohe globale Intensitätsaktivierung, bei der nicht nur das vegetative Nervensystem, sondern auch das zentrale Nervensystem betroffen ist. Nach Laurence Heller kennzeichnet dies die Kontakt-Überlebensstruktur eines Menschen (Heller 2012). Traumata in sehr jungen Jahren führen häufig zu einer grundlegenden Dysregulation in sozialen Beziehungen, im Kontakt und Umgang mit dem eigenen Körper und im Gefühl der inneren Verbundenheit. Eine gute Selbstregulation umfasst u. a. folgende Fähigkeiten: ● sich mit der Welt und anderen Menschen verbunden zu fühlen ● sich mit sich selbst und dem eigenen Körper verbunden zu fühlen ● von einem angespannten in einen entspannten Zustand zu regulieren ● die Möglichkeit, zwischen Erinnerung und Gegenwart zu unterscheiden ● den emotionalen Zustand in einen angenehmen Bereich zu regulieren Trauma Kalte Symptome - zu viel, um ohne professionelle Hilfe zurechtzukommen Toleranzfenster Heiße Symptome - gerade richtig zum Arbeiten Ressource Entspannung, Ruhe HEISSE SYMPTOME Milder Stress Hoher Stress Körper fühlt sich zum Beispiel heiß, juckend, beengt, unkomfortabel an; der Herzschlag verschnellert sich ein wenig. Man hat Probleme einzuschlafen oder sich zu beruhigen. Überaufmerksam, panisch, hysterisch oder rasend. Körper ist extrem unkomfortabel, ein brennendes Gefühl, sehr juckend, Beengheit, schwere Krämpfe, schneller Herzschlag, Beben oder Zittern. Schnelle Gedanken, Emotionen, die sich rapide und extrem ändern. KALTE SYMPTOME Mildes Trauma Schweres Trauma Körper fühlt sich zum Beispiel schwer oder ermüdet an; Gefühl von simultan heiß und kalt, Kälte, Kribbeln, Gefühllosigkeit, Beben oder Zittern, Lethargie, Depression, Trübheit, „neblig.“ Ein Erleben von Leere, Gefühllosigkeit, Ausdruckslosigkeit, Lücken. Tab. 1: Trauma und Toleranzfenster Tab. 2: Körperempfindungen und Symptome 116 3 | 2018 Herbert Grassmann ● momentane Bedürfnisse für die Erreichung eines weiter entfernten Ziels zurückzustellen ● die Fähigkeit, sich erholen zu können ● sich im Leben orientieren zu können und Wahlmöglichkeiten zu sehen Fazit Die klinische Erfahrung zeigt, dass es traumatisierten Personen in der Regel sehr schwer fällt, an ihrer inneren Empfindung und Wahrnehmung teilzunehmen. Sie berichten von überwältigenden Gefühlen oder leugnen, mit einem inneren Gefühl von sich in Kontakt zu sein. Trauma-Opfer haben in der Regel ein negatives Körperbild. Je weniger Aufmerksamkeit sie ihrem Körper und damit ihren inneren Empfindungen schenken, desto besser fühlen sie sich kurzfristig. Für die Behandlung von Traumatisierungen zeichnen sich dadurch Konsequenzen ab. Um eine interne Ordnung zu erhalten und damit die aktuelle Erfahrung von eindringenden, oft traumatisierten Erfahrungen zu trennen, müssen KlientInnen lernen, sich mit den internen Rückständen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Neurobiologisch gesprochen: Sie benötigen eine Konzentration ihrer Aufmerksamkeit auf interne Erfahrungen in der Gegenwart, während sie die Verflechtung von kognitiven, emotionalen und sensomotorischen Elementen der traumatischen Erfahrung wahrnehmen und tolerieren. Sie lernen, eine Art Introspektion zu entwickeln und damit eine tiefe Neugier für ihre Erfahrungen. Dies hilft ihnen, ihre körperlichen Empfindungen und Gefühle als sicher zu bewerten. Johanna B. hatte durchaus fundierte Gründe, warum sie keinen Zugang zum eigenen Körper hatte. Meine Absicht war, diese Schutzmechanismen nicht wegzunehmen, sondern-- im Gegenteil-- ihr bei der Schutzbewegung zu helfen. Das Unterdrücken ihrer Gefühle fand auf dem Hintergrund meiner Würdigung statt. Das Vermeiden von Empfindungen wurde von mir nicht als ein Defizit, sondern als notwendiger Schutz gekennzeichnet. Mit der Zeit entwickelte sich in unserer Beziehung mehr Vertrauen. Ihre Fähigkeit, sich im Körper zu fühlen, wuchs mit der Sicherheit und Stabilität unserer Beziehung. Um mit Menschen zu arbeiten, die kaum oder keinen Zugang zum Körper haben, ist es wichtig, mit der Beziehungsebene zu arbeiten. Wenn wir aber zu früh oder ausschließlich auf der Beziehungsebene arbeiten, kann das retraumatisierend für die KlientInnen wirken, da es sie mit ihren Defiziten konfrontiert, jedoch nicht unterstützt. Aber gerade bei sehr frühen Entwicklungstraumatisierungen fehlt die regulierende Ebene des Nervensystems und die stabilisierende Wirkung der Bindung. Genereller Leitfaden Aus den oben aufgeführten Erkenntnissen ergibt sich folgender Leitfaden zur körperpsychotherapeutischen Behandlung von Traumafolgestörungen: Sie fangen mit offenen Fragen an. Im Fokus steht dabei, eine sichere Beziehung herzustellen. Die Sicherheit zeigt sich nicht nur in der Beziehung, sondern auch in der inneren Beziehung zu sich selbst. Wann immer die Gelegenheit da ist, verändern Sie den Kontext der Geschichte. Das heißt, dass Sie weggehen von dem, was „schmerzhaft“ oder „bedrohlich“ ist, zu einer allgemein positiven Ressource. Sie laden Ihre KlientInnen ein, darüber zu erzählen. Die Reflektion und Bestätigung der TherapeutInnen erfolgt mit einer sehr allgemein gehaltenen Frage: Was nehmen Sie wahr (Vermeidung, zum Körper zu gehen)? Selbstreferenz und Selbstbezüglichkeit entsteht nur, wenn eine Ressource da ist und etwas Positives wahrgenommen wird. Jedes System hat eine natürliche Leitfaden einer körperorientierten Traumatherapie 3 | 2018 117 Pendelbewegung zwischen Expansion und Kontraktion (Heller 2012). In der Kontraktionsphase nehmen wir zwar die Symptome wahr, ohne aber zum Kontext bzw. dem Ereignis zu gehen. Die Expansions-Kontraktionsphase wird durch eine achtsame und duale Aufmerksamkeit normalisiert. In der Integrationsphase folgt die Entkoppelung von Ereignis und Körperwahrnehmung. Die KlientInnen lernen, präsent zu werden, ohne aber ihre eigene Geschichte zu ernst zu nehmen. Schließlich führt die Verbesserung der Selbstregulationsfähigkeit und der Körperwahrnehmung zu neuen Möglichkeiten innerhalb des Sozialen Bindungssystems. Literatur Fogel, A.(2013): Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körperpsychotherapie. Schattauer Verlag, Stuttgart Heller, L. (2012): Entwicklungstrauma heilen. Kösel Verlag, München Janet, P. (1889): L’automatisme psychologique. Félix Alcan, Paris (Reprint: Société Pierre Janet 1889 / 1973) Levine, P. A. (2016): Trauma und Gedächtnis: Die Spuren unserer Erinnerung in Körper und Gehirn-- Wie wir traumatische Erfahrungen verstehen und verarbeiten. Kösel Verlag, München Levine, P. A. (2015): Trauma and memory: brain and body in a search for the living past. North Atlantic Books, Berkeley Ogden, P. (2010): Trauma und Körper: Ein sensumotorisch orientierter psychotherapeutischer Ansatz. Junfermann, Paderborn Porges, S. W. (2010): Die Polyvagal-Theorie: Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation & ihre Entstehung. Junfermann, Paderborn Dr. phil. Herbert Grassmann Leiter und Lehrtherapeut des SKT Instituts, Begründer der Somatic Memory Methode, Direktor der Europäischen Vereinigung für Somatische Traumatherapie, Vorsitzender des EABP-Forschungskomitees. ✉ Dr. phil. Herbert Grassmann SKT Institut Jagdstr.12 | D-90419 Nürnberg office@skt-institut.de www.skt-institut.de Scaer, R., Levine, P. A. (2014): Das Trauma-Spektrum: Verborgene Wunden und die Kraft der Resilienz. G. P. Probst, Lichtenau Schmidt, J. B. (2008): Der Körper kennt den Weg: Traumaheilung und persönliche Transformation. Kösel Verlag, München Schore, A. N. (2003): Affect regulation & the repair of the self. W. W. Norton & Company, New York St. Amand, R. P., Craig Marek, C. (2014): Fibromyalgie: Die revolutionäre Behandlungsmethode, durch die man vollständig von Beschwerden frei werden kann. Books on Demand, Norderstedt Van der Hart, O., Nijenhuis, E. R. S., Steele, K., Kierdorf, T. (2008): Das verfolgte Selbst: Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung. Junfermann, Paderborn Wolterstorff, E. (2003): A speculative model of how groups respond to threats. Unpublished Manuscript Weiss, H., Harrer, M. E., Dietz, T. (2010): Das Achtsamkeits-Buch. Klett-Cotta, Stuttgart
