eJournals körper tanz bewegung 6/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2018.art16d
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Der elternabhängige Hubert

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Ralf Vogt
Im Fallbericht wird eine körperorientierte Psychotraumaarbeit vorgestellt, in welcher „Beseelbare Therapieobjekte“ nach Vogt (2004, 2007) zum Einsatz kommen. Gerade im Bereich der impliziten Körpererinnerungen können solche Handlungsinszenierungsarbeiten die Lücke zwischen nonverbaler Intuition und faktischer Reflexion hervorragend schließen helfen (Vogt 2016). Entscheidend für das körperliche Evidenzerleben scheint zu sein, dass atmosphärische Übertragungsmuster im konkretisiert-analogen Wechselwirkungsprozess mit den Therapiemedien in eine nonverbale, implizite Interaktion gehen können und so die steckengebliebene Traumaszene kleinkindlich beseelt auflösen.
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Fachbeitrag 118 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 118-125 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art16d © Ernst Reinhardt Verlag Kurze Einführung in das SPIM-30-Modell S PIM 30 ist eine Abkürzung für das Behandlungsmodell „Somatisch-Psychologisch-Interaktives-Modell in der Standardversion Nummer 30 für komplextraumatisierte / dissoziative Traumanachfolgestörungen“ (Vogt 2004, 2007, 2010, 2012, 2014, 2016 u. a.). Inhaltlich werden die 30 Therapiekriterien mit ihrer Bedeutung für die Traumabehandlung derzeit am ausführlichsten in Vogt (2014) beschrieben. SPIM 30 ist ein sehr komplexes, multimodales Traumatherapieprogramm, welches vorrangig für die Einzel- und Gruppenpsychotherapie bei von Menschen gemachter Gewalterfahrung zum Einsatz kommt. Besonders hervorzuheben im Rahmen dieser Der elternabhängige Hubert Traumaarbeit mit SPIM-30-Settings Ralf Vogt Im Fallbericht wird eine körperorientierte Psychotraumaarbeit vorgestellt, in welcher „Beseelbare Therapieobjekte“ nach Vogt (2004, 2007) zum Einsatz kommen. Gerade im Bereich der impliziten Körpererinnerungen können solche Handlungsinszenierungsarbeiten die Lücke zwischen nonverbaler Intuition und faktischer Reflexion hervorragend schließen helfen (Vogt 2016). Entscheidend für das körperliche Evidenzerleben scheint zu sein, dass atmosphärische Übertragungsmuster im konkretisiert-analogen Wechselwirkungsprozess mit den Therapiemedien in eine nonverbale, implizite Interaktion gehen können und so die steckengebliebene Traumaszene kleinkindlich beseelt auflösen. Schlüsselbegriffe Psychotraumaexposition, Beseelbare Therapieobjekte, körperorientierte Traumaarbeit, Handlungsinszenierung The Parent-Dependent Hubert. Trauma Work With the SPIM-30-Settings In this case report, a body-oriented psychotraumatic method is presented, in which “beseelbare” (inspirited) therapy objects according to Vogt (2004, 2007) are used. Especially with regard to implicit body memories, such enactments can help close the gap between nonverbal intuition and factual reflection (Vogt 2016). Crucial for the physical evidential experience seems to be that atmospheric transference patterns in the concrete-analogous interaction process with the therapy media can enter into a preverbal mode of interaction and thus dissolve the stuck trauma scene in a childlike inspirited manner. Key words psychotrauma exposition, “beseelbare” inspirited therapy objects, body-oriented trauma work, action staging Der elternabhängige Hubert 3 | 2018 119 30 Therapieguidelines ist zweifelsohne, dass sehr viele körper- und handlungsorientierte Diagnostik- und Behandlungssettings erarbeitet wurden, die bei der Langzeittherapie von Kindern und Erwachsenen mit frühen Traumastörungen nützlich sind. Das Arbeitsmodell ist sehr psychoedukativ-analytisch aufgebaut. Wesentliche Theoriebausteine sind Konzepte zum psychotherapeutischen Arbeiten mit überdimensional großen beseelbaren Therapiemedien (Symbolisierungsobjekte für die psychotherapeutische Gestaltinszenierung), die eigens für die Traumakörperarbeit über einen Zeitraum von 20 Jahren von Vogt (2014) entwickelt wurden. Außerdem ist das Schweregradmodell der Interaktionsstörungen ein sehr wesentlicher Baustein zum Ableiten von Settingindikationen in der Traumatherapie. In dieser Konzeption der störungsbedingten Differenzen in der Selbstregulation des Individuums hat das Erklärungsmodell der Gewaltintrojektion eine zentrale Verständnisposition. Hierbei werden Psychotraumaerlebnisse als körperliche, sexuelle, seelisch überrollende und emotional nötigende Akte der zwischenmenschlichen Grenzüberschreitung in abgestuften Störungsklassen beschrieben. Zum Hintergrund von Hubert Hubert L. (Name geändert) trat zu Beginn der Therapiesitzungen bei mir zunächst als labiler Perfektionist in Erscheinung. Er übte seinen Beruf sehr gewissenhaft aus, bis auf dass er wohl selbst sein größter Kritiker war und oft mit viel zu hohem Aufwand seine Aufträge erledigte. Er war durch seine Frau zur Psychotherapie gekommen, die offenbar unter seiner schizoiden intellektuellen Art litt und wohl auch dem beruflichen Raubbau des Mannes nicht untätig zusehen konnte. Die Eltern von Hubert L. gehörten zur bürgerlichen Mittelschicht und waren offensichtlich über die aktuelle Psychotherapie des Sohnes überrascht, weil sie sich insgesamt für eine „sehr gute“ Familie hielten. Sohn und Tochter gingen nach abgeschlossenem Studium geordneten Berufen nach, und jeder verfügte über ein relativ gutes Auskommen. Hubert beschrieb in der SPIM-30-Introjekt- Übertragungstafel, dass er aufgrund seiner Mutteranpassung heute zu sehr anderen gefallen müsse und, ohne es zu wollen, die Harmoniesucht der Eltern introjiziert hätte. Infolge der Vaterübertragung litt er seiner Aussage nach unter intellektuell herumschwafelnden Menschen bzw. auch deren Gegenteil, wenn Männer genau wussten, was sie wollten. Das erzeuge bei ihm Ärger oder Konkurrenz- und Neidgefühle, die er abwehren müsste. Vom Vater habe er als negativste Eigenschaft besonders das Workaholic-Syndrom übernommen sowie dessen stetige Selbstunsicherheit. Gepaart mit den mütterlichen Versagensängsten ergäbe sich daraus schnell ein Teufelskreis, der sich auch spiralförmig zu einer Apokalypse aufbauschen könne. Problematisch war für Hubert, dass er die Eltern nicht ungerecht, wie er es nannte, verurteilen konnte. Er habe von diesen doch so viel Gutes erfahren, und beide hätten doch stets das Beste für ihn gewollt. Mutter und Großmutter (mütterlicherseits) wären in seinen Kindertagen die emotional dominanten Figuren der Familie gewesen. Der Vater hätte zwar als intellektuelles Aushängeschild nach außen fungiert, wäre aber insgesamt nur „schizoider Satellit im Frauenweltall“ gewesen. Alle Prägungen zusammenfassend skizzierte Hubert eine externalisierende Anteileübersicht der Persönlichkeitsregulation mit Plastikreifen, wie sie in Vogt (2014) beschrieben und üblicherweise bei professionellen Traumatherapeuten durchgeführt wird. In Huberts Aufstellung wurden die druckmachenden und ängstlich-ambivalenten Anteile der Eltern als Introjektionen und seine elternloyalen und angepassten Verhaltensweisen als gebremste 120 3 | 2018 Ralf Vogt Kindanteile der Übertragung als farbige Ringe dargestellt. Außerdem gab es einen verträumten Jungenanteil, der sich dem äußeren wie inneren Druck durch Fantasiewelten entzog. Mit Hilfe dieser Aufstellungsbilder konnte er seine schwierigen Operationserlebnisse und seine Zangengeburt in ein externales Bild übersetzen. Ansonsten beschrieb er eine Gewaltsituation gegenüber stärkeren Jugendlichen und partnerschaftliche Krisensituationen aus dem Erwachsenenalter als sehr belastend bis traumatisch. Durch die gute Selbstreflexion erschien die Psychotherapie jetzt gut überschaubar. Huberts Reinszenierungen In bindungspsychologischer Hinsicht zeigte der Klient Opferbindungsverhalten mit devotem Gutreden und idealisierte seine Elternfiguren. Allerdings ist das Unterschätzen von traumatischen Vorfällen auch als normaler Verdrängungs- und Dissoziationsprozess zu sehen, da die Mehrzahl der Menschen genau diesen abwehrenden Schutzmechanismus zeigt (Vogt 2012, 2016). In der Übertragung zu mir würde ich von ganz normalen neurotischen Elternübertragungen sprechen. Auffällig war nur, dass der Klient offenbar seine pubertären Aggressionen aus anerzogenem Tabu nicht ausgelebt hatte und sich mir gegenüber selbstunsicher verhielt. Der Behandlungsverlauf Bei der Planung therapeutischer Settings ging ich mit den Elementen des SPIM-30-Konzeptes klassisch vor. Wir starteten mit einer ausführlichen Psychoedukationssowie Stabilisierungsphase und organisierten ein externales Anteilebild mit Kind- und Elternanteilen, mit welchen wir anschließend gestalttherapeutische Rollendialoge durchführen konnten. Wir beendeten diese erste Etappe mit gutem Erfolg. Da Hubert perfektionistisch organisiert war, bearbeitete er alle Handout-Blätter der psychagogischen Protokollierung gewissenhaft. Solange er über etwas reflektieren konnte, fühlte er sich sicher. Auffällig waren in den nächsten Therapiestunden nur seine langen Erzählphasen als eigene Stundeneröffnung im Sinne von Plapperstunden über den Alltag usw. Es wurde deutlich, dass hier latente Angst dem Verhalten zugrunde lag. Ich werde von den traumapsychotherapeutischen Stunden nur einige Aspekte hervorheben, die exemplarisch für andere chronifizierte PTBS-Fälle stehen, bei denen die belastenden Vorfälle ebenfalls viele Jahre zurückliegen. Narrativ bewusst gespeicherte Vorfälle wie das Mandel-OP-Trauma mit einem sehr ruppigen Chirurgen und nicht einfühlsamen Schwestern sowie die Gewaltsituation unter den Jugendlichen waren mit Screentechnik und der imaginativen Fußbodenmatte am besten zugänglich (Vogt 2014). Der Klient hatte genügend Fragmente gespeichert, sodass eine löchrige Geschichte doch zusammenhängend berichtet werden konnte. Entscheidend war jetzt, diese Episode erlebnisaktiv werden zu lassen und die fehlenden Bruchstücke, die meistens höher negativ traumatisch besetzt sind, aufzuspüren und ganzheitlich durchzuarbeiten. Bei der OP-Episode waren der rüde Ton des Krankenhauspersonals sowie die tabuisierte Information über das zu erwartende OP-Geschehen die traumakatalysierenden Faktoren für den Jungen. Ich habe in meiner Praxis schon oft von solchen Interaktionstraumata durch eine miserable Erwachsenen-Kind-Bindungsgestaltung erfahren, die ich als Ausdruck der Nachkriegsmentalität der älteren Generation interpretiere. Mir ist durch ältere Klienten als auch durch Elternerzählungen bekannt, dass die ruppige und verschwiegene Haltung der Erwachsenen in Gefahrensituationen der Kriegswirren sehr typisch war. Aufgrund ihrer harten vormilitäri- Der elternabhängige Hubert 3 | 2018 121 schen, nationalsozialistischen wie traditionell rohen Erziehungserfahrung und der abgewehrten eigenen Hilflosigkeit gegenüber Schmerz und Angst wurden Kinder in der Regel nicht von absehbaren Gefahrensituationen in Kenntnis gesetzt. Angeblich soll es besser für ein Kind gewesen sein, nichts im Voraus zu wissen oder zu ahnen, weil es sonst übergroße Ängste bekommt. So denken natürlich Erwachsene, die schnell an eigene Kindheitstraumata erinnert werden, sobald sie einen potenten Trigger spüren. Ansonsten ist es traumapsychologisch genau umgekehrt, dass eine einfühlsame und langfristige Vorbereitung auf schmerzliche Situationen eine deutlich bessere Chance bietet, leidvolle Ereignisse zu verdauen. Es sei denn, man ist bereits schwer komplextraumatisiert, dann benötigt man zuvor das sachgerechte Durcharbeiten der größten Triggersituationen. Das Nichtansprechen der Gefühle entspricht vielmehr der peri- und posttraumatischen Dissoziation, in der Menschen aus dem überfordernden Traumageschehen plötzlich aussteigen und anscheinend nicht mehr merken oder wissen, was soeben geschieht oder geschehen ist. Dieses Verhalten hat dann nichts mit der sogenannten erworbenen bewussten Härte eines Menschen zu tun. Es ist vielmehr ein posttraumatischer Härteschutz bei der sich chronifizierenden Täterintrojektion infolge des traumatischen Vorfalls. Der kleine Hubert war nun offensichtlich an solche Menschen geraten, die seine weinerliche Erwartungsangst verächtlich und für den Arbeitsablauf als ungezogen und lästig empfanden. Wir bearbeiteten die OP-Situation deshalb mit szenischen Rekonstruktionen bei ko-bewussten Körperstabilisierungen (vergleiche Psychotraumaexpositionskonzept SPIM 30; Vogt 2013, 2014) als auch mit vielen nachträglichen edukativen Stopps. Hinzu kamen Nachbereitungen bzgl. der generationsbedingten Defizite des Krankenhauspersonals und der eigenen Eltern, die dem Kind dazu keine enttraumatisierende Stütze waren. Bei dem anderen Gewaltvorfall mit den Jugendlichen war aus burschikosem Spiel plötzlich traumatisierender Ernst geworden, weil die Jugendbande A die Jungs der Gruppe B kriegsähnlich besiegen wollte. Hubert war plötzlich Gefangener und nach dem Vorbild von Kriegs- oder Horrorfilmen an Heizungsrohre gefesselt und allein gelassen worden. Die Ohnmacht und Todesfurcht des „Verrecke doch, du Arschloch! “ war tief ins Mark gegangen. Auch hier waren weder die Eltern der Opfer-Täter-Kinder noch die Eltern von Hubert geeignete Ansprechpartner, um die Empörung über die brutale Entgleisung oder Annahme für die erlebte Existenzangst des Opfers zu übernehmen. Vorfälle dieser Art wurden als „Lebenslehre“ totgeschwiegen oder mit Opferentwertungen wie „Warum spielst du auch mit solchen Jungs! “ abgetan. Die Ursachen für solche brutalen Einfälle bzw. traumatisierenden Reinszenierungen interessierten niemanden. Wenn Kinder ängstliche und schwere Bindungen zu den Eltern haben, erzählen sie aufgrund ihrer Parentifizierungspraktiken ohnehin nicht, was sie bedrückt. Manche Eltern explodieren, andere brechen zusammen, und andere reagieren dümmlich infantil und verschlimmern alles mit chaotischen Vorwürfen. Die Bearbeitung des Geburtstraumas war später ein Meilenstein für Hubert, weil er zwar dessen Bedeutung geahnt hatte, aber eben keinen konkreten Gefühlszugang bis dato besaß. Ich nutzte für die oben genannten, dosiert reinszenierenden Psychotraumaexpositionen verschiedener Art die imaginative Fußbodenmattenarbeit sowie die große Tonne als Geburtskanalsymbolisierung, wie sie im abgebildeten Foto zu sehen ist. Diese beseelte Erinnerungshilfe durch ein Assoziationsobjekt befördert die impliziten Körpererinnerungen im großen Maße, sodass die seelische Bewältigung durch das leichtere Vergleichen, Erkennen und auf neue Art Lösen ermöglicht wird. 122 3 | 2018 Ralf Vogt Die Geburtstonne kam zur Bearbeitung des Zangengeburtstraumas deshalb passager zum Einsatz, weil wir den fragmentarischen Erinnerungen ausreichend analoge Reize bieten mussten. So konnte dem impliziten Körpergedächtnis Raum für Assoziationen gegeben werden. Hubert fehlte das authentisch-evidente Gefühl, im Geburtskanal wirklich stecken geblieben zu sein. Durch ein Hineinstopfen eines gelben Kampfsackes und diverser Kissen (siehe Abb. 2) gelang es schließlich, eine geordnete Traumasituation zu rekonstruieren. Das war einerseits psychophysisch klar genug, um dem Körper-Psyche-Gefühl des damaligen Vorfalls zu entsprechen, und andererseits so verfremdet, dass ein retraumatisierender Flashback nicht eintrat und die Szene bei durchgehendem Ko-Bewusstsein für Hubert durchgearbeitet werden konnte. Die Dramatik der Zangengeburt war für den Säugling lebensbedrohlich, weil die Wehen aufgrund falsch gesetzter Medikation bei der Mutter plötzlich ausgeblieben waren. Das Geburtskind erlebte einen künstlich erzeugten Todeskampf mit dissoziativen Abschaltgefühlen. Die Eltern haben später in der oben beschriebenen Art die Lebensbedrohung heruntergespielt und stattdessen die kompensatorische Lebensrettung durch den Arzt als heroisch eingestuft. Dadurch war wiederum das Panikerleben des Jungen als unbegründet heruntergestuft worden, was seelische Verwirrung auslöste. Die Brustenge in dem späteren Panikerleben des Erwachsenen hatte aber trotzdem eine körperpsychotherapeutisch weitreichende Bedeutung bekommen. Immer wieder hatte Hubert über Jahre asthmatische Beklemmungen mit Hals- und Brustenge- - quasi Bodymarker des Traumas- - als lebensbedrohlich erlebt, wenn er in Panik war. Diese Zeichen wurden als histrionisch eingestuft, weil sie sich im Rahmen Abb. 1: Fußbodenmatte mit imaginierendem Klienten sowie bereitstehende Riesentonne als Geburtskanalsymbolisierung. Der Klient assoziiert Teile der Traumaszene (Szene nachgestellt). Der elternabhängige Hubert 3 | 2018 123 der posttraumatischen Neuroseentwicklung mit irrationalen Sekundärgegenständen des Alltags verbunden hatten. Zum Beispiel: „Wieso bekommst du denn gleich Luftnot, wenn mal eine Rechnung nicht gleich bezahlt wurde? “ Die tiefere Ursache hatte sich im heutigen Alltag mit wenig logischen Triggern verschlüsselt. Dem Histrioniker glaubt man später sowieso nicht mehr, wenn man in drei Sekunden den Boden seiner Angst nicht versteht. Dadurch entsteht ein Teufelskreis von Traumadissoziation und sekundär neurotischem Prozess. Plötzlich hat der „Simulant“ doch ein Problem, obwohl er eine histrionische Mutter und schwachen Vater hatte. Das alltagspsychologische Wissen ist in unserer Gesellschaft zum Teil noch sehr gering ausgeformt. Die Leute wissen oft mehr von Religion und Ethik als von der Psychologie des Menschen. Nachdem diese auflösende Traumaszene gefunden bzw. in der dramatischen Körper- Seele-Kopplung bearbeitet war, konnte Hubert sein früh geprägtes Stresslevel verstehen und die ungünstige Verzahnung mit den traumachronifizierenden Eigenschaften der Eltern zuordnen. Das schaffte ein neues Selbstverständnis und Evidenzerleben. In den abschließenden Therapiesitzungen fand Hubert durch quasi assoziativen Zufall dann noch eine schwerwiegende Traumaepisode, mit der er gar nicht gerechnet hatte. Auch das ist für die Mehrzahl der TherapieklientInnen typisch, dass sie einen Teil der schwerwiegenden Erlebnisse gar nicht auf dem Schirm haben. Diese Ereignisse scheinen wie in einem Spinnennetz mit den anderen Psychotraumata verknüpft zu sein und treten erst in zufällige Erscheinung, wenn andere vorgelagerte Erlebnisse ausreichend bearbeitet worden sind. Hubert klagte noch immer über Halsenge und Luftnot, die im Grunde bereits durch das Geburtstrauma (siehe oben) aufgeklärt schienen. An einem Tag mit starkem körperlichem Symptomerleben entschlossen wir uns für eine nochmalige Traumaexpositionssitzung mit der Fußbodenmatte, um den hartnäckigen Symptomen nachzugehen. Nachdem die Körperszene angereichert war und auch die parallelisierende Verankerung mit dem Körper in der Realität des heutigen Raumes ausreichend organisiert war, kamen plötzlich neue unerwartete Erinne- Abb. 2: Verstopfte Tonne als überwindbares, aber zeitweise spürbares Barrieregleichnis für den vormals blockierten Geburtskanal. Der Patient arbeitet sich mit Assoziationen in Kombination mit kleinen körperlichen Vorwärtsbewegungen durch den Kanal. 124 3 | 2018 Ralf Vogt rungsbilder. Hubert fühlte und sah sich zugleich von außen im Kinderbett mit der die Familie bestimmenden Oma (mütterlicherseits) allein. Die kriegstraumatisierte Frau war oft sehr grob und überaus stark im nationalsozialistischen Gedankengut verankert (die man auch als chronifizierte, transgenerationale Täterintrojekte der Nazi-Zeit bezeichnen könnte). An jenem Tag also war sie mit Hubert allein und reagierte mürrisch und grob auf dessen Schreie des Unwohlfühlens. Das steigerte die Furcht des Kindes, worauf die Oma noch barscher reagierte. Die Situation geriet außer Kontrolle, sodass die wutschnaubende Großmutter das Kind bis zur Ohnmacht massiv am Hals würgte. Dieser Vorfall wurde verheimlicht, und auch das Kind hatte ihn dissoziiert, aber seither einen angstvollen Respekt vor der Großmutter empfunden. Die Mutter wiederum idealisierte ihre kriegstraumatisierte Mutter, weil diese so viel durchgemacht habe. Diese Haltung hatte ein Klima des Im-Voraus-alles-verzeihen-Müssens geschaffen, wovon die Oma durch eine „heilige Unfehlbarkeit“ profitierte. Eine Diskussion von behandlungsbedürftigen Kriegsauswirkungen, zum Beispiel Täterintrojekte der Kriegsgewalt und Nazigesinnung, waren in der Familie völlig tabuisiert. Nachdem Hubert diese schlimme Traumaszene in Ergänzung der bereits bekannten Therapieergebnisse bearbeitet hatte, war er zu komplexen familiendynamischen Einschätzungen seiner gestörten Entwicklung fähig. Erstens gab es eine Reihe von frühkindlichen Traumavorfällen, welche die neurotischen Eltern zum Teil mitzuverantworten oder aber in der Wirkung ungünstig chronifiziert hatten. Der Junge hatte durch die Ausbildung von entsprechenden Übertragungen und Introjektionen diese traumatischen und neurotischen Prägungen zunehmend selbst durch Angstfantasien und Vermeidungsverhalten im späteren Jugend- und Erwachsenenalter verstärkt. In der Familiendynamik war die Oma ein besonders ausgesparter Störungsherd, da die Eltern offenbar zeitlebens ihre pubertäre Abgrenzung zu den eigenen Eltern wie auch Hubert bis vor Kurzem nie vollzogen hatten. Die Oma wurde daher in ihrer tyrannischen Art nie gestoppt. Die kriegstraumatisierte Täterin massakrierte den Jungen an den Stellen, wo sie es selbst als unschuldiges Kind erlebt hatte und nun ausagieren musste. Außerdem setzte sie überstrenge Erziehungsregeln ihrer alten Zeit ohne Veto der Eltern durch, mit denen sie obendrein in Konkurrenz- und Neidgefühlen stand. Sie gönnte den jüngeren Leuten keine friedliche Entwicklung, da sie zu oft an die eigenen Beschränkungen ihrer verlorenen Kindheit und Jugend erinnert wurde. Diese differenzierten Zusammenhänge konnte Hubert nun ableiten und so die familiären Wechselwirkungen, in denen auch seine psychotraumatischen Ereignisse eingeordnet waren, verstehen. Jetzt konnte Hubert seine Psychotherapie zufriedenstellend beenden. Er war grundsätzlich ruhiger und ausgeglichener geworden und hatte seine diffuse Körperfurcht verloren. Körperstresserscheinungen blieben aber kleine seismografische Erinnerungstrigger, wenn er sich von Menschen bedroht fühlte. Da er diese Körpersprache jetzt lesen konnte, war das für ihn kein Problem mehr. Resümee Im Fallbeispiel des Hubert L. wurde eine sehr durchschnittlich-allgemeine Fallgeschichte in kurzen Ausschnitten dargestellt. Die meisten Klienten kommen wegen ganz ähnlicher verschachtelter Symptomatiken zur Psychotherapie und haben gar keine besondere Traumapsychotherapie im Sinn. Ihnen sind zwar einige theoretisch qualvolle Lebensepisoden bekannt, diesen wird jedoch in der Regel keine übergroße Bedeutung beigemessen. Erst im Laufe der intensiven psychotherapeutischen Arbeit eröffnen sich tiefere, ernste Thematiken. Sehr oft sind dabei körperliche Erinnerungssymptome die Leitschnur der Diagnostik. Der Der elternabhängige Hubert 3 | 2018 125 Körper vergisst auch dann nicht, wenn Geist und Seele bereits dissoziativ abgeschaltet haben. Es ist mir fachlich zum Teil unerklärlich, weshalb einige Kollegen heute noch körperpsychotherapeutische Arbeit als eine Sondertherapieform bezeichnen oder ganz aus einer Richtlinienpsychotherapiemethodik ausklammern wollen. Das Fallbeispiel zeigt meines Erachtens deutlich, dass die Körpersymptome so lange in stärkerer Form auftraten, wie die Schwere einer konkreten Traumasymptomatik oder die mit dieser verbundenen anderen verwandten Traumaszenen anhielten. Gleichwohl musste Hubert nochmals eine Mischung aus ursächlichen Traumaepisoden in der frühen Kindheit und verstärkenden Traumaszenen zur späteren Zeit (kumulative Komplextraumatisierung) verarbeiten. Hinzu kamen eine Reihe von neurotisierenden, traumaverstärkenden Einflüssen aus Familie und Umwelt, inklusive der durch wichtige Bindungspersonen sekundär traumatisch übernommenen Szenen. Komplettiert wurde das Bild durch chronifizierte Fehlhaltungen vom Jungen Hubert selbst, weil er mit seinen Symptomen nicht umzugehen wusste und sich durch panische Erwartungshaltungen zusätzliche Belastungsprobleme ergeben hatten, die heute zu einer chronifizierten Dysregulation führten. Wir haben im SPIM-30-Konzept eine solche Modellvorstellung, diese spezifischen Regulationszustände als Ganzes anzusehen und zu behandeln. Die Etappen werden dabei von der Motivation der KlientInnen und seiner/ ihrer jeweiligen Verarbeitungskapazität bestimmt. Für Hubert wurden mit Hilfe beseelter Therapiemedien-- wie dem Tonnengeburtskanalsymbol-- analoge Assoziationsräume geschaffen,welchedasimpliziteKörpergedächtnis aktivierten. Dadurch konnten wesentliche mentale Erinnerungsfragmente der Traumaszene einsichtsfähig vervollständigt werden. Gleichzeitig wurde das Traumaschockerleben des Steckenbleibens jetzt durch die intuitive Bewegungskraft des Körpers eigenständig und mit bewusster Reflexion zu Ende gebracht. Erst danach konnten die Körperängste des Patienten zufriedenstellend nachlassen. Literatur Vogt, R. (Hrsg.) (2016): Täterbindung. Gruppentherapie und Soziale Neurobiologie. Asanger, Kröning Vogt, R. (Hrsg.) (2014): Verleumdung und Verrat. Dissoziative Störungen bei schwer traumatisierten Menschen als Folge von Vertrauensbrüchen. Asanger, Kröning Vogt, R. (2013): SPIM 30. Behandlungsmodell für dissoziative Störungen. Asanger, Kröning Vogt, R. (Hrsg.) (2012): Täterintrojekte. Diagnostik und Behandlungsmodelle dissoziativer Strukturen. Asanger, Kröning Vogt, R. (Hrsg.) (2010): Ekel als Folge traumatischer Erfahrungen. Psychodynamische Grundlagen und Studien, psychotherapeutische Settings, Fallbeispiele. Psychosozial, Gießen Vogt, R. (2007): Psychotrauma, State, Setting. Psychoanalytisch-handlungsaktives Modell zur Behandlung von Komplex-Traumatisierten u. a. Störungen (SPIM-20-KT). Psychosozial, Gießen Vogt, R. (2004): Beseelbare Therapieobjekte. Strukturelle Handlungsinszenierungen in einer körper- und traumaorientierten Psychotherapie. Psychosozial, Gießen Dr. rer.nat., Dipl.-Psych. Ralf Vogt Psychotraumatologe, Psychoanalytiker, analytischer Körperpsychotherapeut und psychologischer Psychotherapeut. Leiter des Trauma-Institut-Leipzig und Entwicklung des SPIM-30-Behandlungskonzepts für dissoziative Traumanachfolgestörungen. ✉ Trauma-Institut-Leipzig und Psychotherapeutische Gemeinschaftspraxis Vogt Leipziger Str. 36a | D-04178 Leipzig info@traumainstitutleipzig.de www.traumainstitutleipzig.de