eJournals körper tanz bewegung 6/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2018.art24d
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2018
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Das Choreografische Porträt

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2018
Claire Gunther
Dieser Artikel gibt Einblick in einen strukturierten tanztherapeutischen Prozess, den die Autorin im Verlauf ihrer langjährigen Tätigkeit mit klinischen und privaten psychotherapeutisch ausgerichteten Tanztherapiegruppen entwickelt hat. Im Rahmen eines Choreografischen Porträts werden ausgewählte Charakterzüge einer Person in einer kleinen Tanztheater-Performance von anderen Gruppenmitgliedern choreografisch zum Ausdruck gebracht. Zum Abschluss findet eine Reflektion statt. Das hier dargestellte Verfahren intendiert sowohl die Ich-Stärkung als auch eine konstruktive Auseinandersetzung mit konfliktbehafteten Charakterzügen.
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Forum: Aus der Praxis 167 körper-- tanz-- bewegung 6. Jg., S. 167-173 (2018) DOI 10.2378 / ktb2018.art24d © Ernst Reinhardt Verlag D as Choreographische Porträt ist eine Herangehensweise, die auf Erfahrungen aus meiner therapeutischen Tätigkeit beruht. Es zielt darauf ab, das Ich sowie das Selbstwertgefühl von PatientInnen mittels spielerisch-darstellerischer Spiegelungen wesentlicher Eigenschaften ihrer Persönlichkeit grundsätzlich zu stärken. Die stete Suche nach dem „Einzigartigen“ in uns, unserem „Ich“, beschäftigt jeden von uns. Die menschliche Identität entwickelt sich im Spannungsfeld zwischen genetischer Prägung, sozialer Beeinflussung und Selbstbestimmung: „Gemäß dem Mythos der Erfahrung entwickelt sich menschliches Verstehen aus der Interaktion, d. h. aus dem kontinuierli- Das Choreografische Porträt Ein tanztherapeutisch-darstellerischer Gruppenprozess zur Förderung des Selbstwerts Claire Gunther Dieser Artikel gibt Einblick in einen strukturierten tanztherapeutischen Prozess, den die Autorin im Verlauf ihrer langjährigen Tätigkeit mit klinischen und privaten psychotherapeutisch ausgerichteten Tanztherapiegruppen entwickelt hat. Im Rahmen eines Choreografischen Porträts werden ausgewählte Charakterzüge einer Person in einer kleinen Tanztheater-Performance von anderen Gruppenmitgliedern choreografisch zum Ausdruck gebracht. Zum Abschluss findet eine Reflektion statt. Das hier dargestellte Verfahren intendiert sowohl die Ich-Stärkung als auch eine konstruktive Auseinandersetzung mit konfliktbehafteten Charakterzügen. Schlüsselbegriffe Choreografie, Porträt, Charakter, Gruppenprozess, Selbstwert, Identität, Wertschätzung The Choreographic Portrait. A Dance Therapeutic Performative Group Process to Enhance Self-Worth This article introduces a structured dance therapy process which the author has developed during her many years of clinical experience with in-patient as well as private groups. Within the framework of a choreographic portrait, group members perform a movement expression of perceived essential personal traits of a member of the dance therapy group. Subsequently, a reflection of the experience takes place. The method aims to promote ego-strength and resources as well as a constructive engagement with conflictual personality traits. Key words choreography, portrait, character, group process, self-esteem, identity, appreciation 168 4 | 2018 Claire Gunther chen Aushandlungsprozess des Menschen mit seiner Umwelt und mit anderen Menschen.“ (Lakoff/ Johnson 2008, 263) Das Selbst-Bewusstsein wird laut Potreck-Rose und Jacob (2015) als die Gesamtheit des Wissens um die eigene Person durch soziale Rückmeldungen erworben. Das Selbst ist die Spiegelung dessen, was eine Person aus den Reaktionen ihrer sozialen Umgebung über sich selbst erfährt. Die Akzeptanz des Selbst schließt auch die Akzeptanz eigener Schwächen, also negativer Aspekte des Selbst, ein. Der fehlende Selbstwert korreliert außer mit der Depressivität auch mit nahezu allen psychischen Störungen bzw. Symptomen. Menschen mit einem hohen Selbstwert setzen sich hohe, aber realistische Ziele, dagegen stecken sich Personen mit einem niedrigen Selbstwert oft zu niedrige Ziele. Der Selbstwert korreliert stark mit dem körperlichen Selbstbild. Menschen, die in sozialen Bezügen leben, beliebt sind, in einer Partnerschaft leben und sich kompetent durchzusetzen wissen, haben üblicherweise auch einen hohen Selbstwert und erleben selbstwertbelastende Situationen als weniger selbstwertmindernd als Menschen mit niedrigem Selbstwert. Ein stabiler Selbstwert macht grundsätzlich ausgeglichener und zufriedener (Potrek-Rose / Jacob 2015). Ich machte wiederholt die Erfahrung, dass viele meiner PatientenInnen meistens zum Ende eines gruppenpsychotherapeutischen Prozesses sehr neugierig wurden, mittels der Performance eines Choreografischen Porträts zu erfahren und zu erleben, wie ihre MitpatientInnen sie konkret wahrgenommen haben. Susanne Bender postuliert in ihrer Darstellung des Phasenmodells der systemischen Tanztherapie, dass KlientenInnen im Rahmen der „Offenheitsphase“ bereit werden, sich mit denjenigen Anteilen ihrer Persönlichkeit auseinanderzusetzen, die sie bisher nicht wahrhaben wollten, weil sie noch nicht in ihr Selbstkonzept passten. „Das Konstrukt des Selbst ist nicht nur aus kognitiven Prozessen der Selbstentwicklung entstanden (‚wer bin ich? ‘), sondern braucht die soziale Reflexion (‚Wie findet ihr mich, und wie finde ich, wie ihr mich findet? ‘).“ (Bender 2014, 299) Die Menschen entwickeln demzufolge aus der Reflexion der anderen ein Konstrukt, das stets affektiv neu bewertet wird. Dieses Selbstkonzept und der Selbstwert sind zentrale Elemente der personalen Identität. Eine positive Bewertung dieses Selbstkonzepts führt entsprechend zu positiven Gefühlen, die auf die Lebensgestaltung einwirken (Bender 2014). Unabhängig von spezifischen Diagnosen bietet das Choreografische Porträt Menschen, die in Selbstwert- und Identitätskrisen geraten sind, die Möglichkeit, sich im spielerisch-wertschätzenden tanztherapeutischen Abb. 1: Darstellung von Offenheit, Fairness und Zuverlässigkeit Das Choreografische Porträt 4 | 2018 169 Prozess mit eigenen Stärken und Schwächen auseinanderzusetzen. Durch die Darstellung von Stärken und Defiziten einer Person wird sowohl die Integration bewusster mit unbewussten Selbst-Anteilen im Selbstbild der porträtierten Person als auch der beteiligten Gruppenmitglieder gefördert, weil sich Letztere oft wie in einem Spiegelbild in diversen Aspekten der Darstellung wiedererkennen. Der kreative Prozess des Choreografischen Porträts unterstützt zudem die Achtsamkeit sowie die Teamfähigkeit und Gruppenkohäsion. „Performances (…) stellen Gemeinschaften des Augenblicks her.“ (Klein / Sting 2005, 17) Charaktereigenschaften „Offenheit, Fairness und/ oder Zuverlässigkeit“ wurden in diversen Choreografischen Porträts dargestellt (siehe Abb. 1). Verfahrensweise Setting Folgende Voraussetzungen sind für ein Choreographisches Porträt erforderlich: ● Das Choreographische Porträt hat sich bisher mit Tanztherapiegruppen mit ca. 4-10 Mitgliedern bewährt, die ein ausreichendes Maß an Selbstreflektion und Vertrauen zur Gruppenleitung sowie untereinander haben. Da es um psychotherapeutische Gruppen geht, werden zu Beginn der Behandlung selbstverständlich Anamnese, Diagnostik und Therapiezieldefinition vorgenommen. ● Der Raum sollte möglichst frei von Mobiliar sein, damit die Tanztheater-Performance auf einer vorgestellten „Bühne“ improvisiert und von mindestens zwei Zuschauern betrachtet werden kann. ● Requisiten wie Tücher, Seile, Bälle, Reifen, Stäbe, Musikinstrumente u. v. m. sind hilfreich, aber nicht zwingend notwendig. Beginn mit Selbstreflektion Die zu porträtierende Person verlässt den Gruppenraum für ca. 20-30 Minuten und bekommt in dieser Zeit die Aufgabe, sich Notizen zu den eigenen Stärken und Schwächen sowie zu persönlichen Veränderungen im Rahmen der laufenden psychotherapeutischen Behandlung oder des Selbsterfahrungsprozesses zu machen. Brainstorming der Gruppe zum porträtierten Gruppenmitglied Während sich das Gruppenmitglied, welches von der Tanztherapiegruppe choreografisch porträtiert werden möchte, in einem Nebenraum Notizen zu eigenen Stärken und Defiziten macht, führt die Gruppe ebenfalls ein Brainstorming zur Frage „Was ist einzigartig, typisch und besonders an oben genannter Person? “ durch. Ein / e SchriftführerIn notiert das Gesagte. Dann werden drei bis fünf wesentliche Persönlichkeitsmerkmale und Charaktereigenschaften der zu porträtierenden Person ausgewählt, die im choreografischen Gestaltungsprozess in ca. drei bis fünf Szenen dargestellt werden. Der / die TanztherapeutIn gibt Hilfestellung bei der Szenen-Konzeptionierung, damit mehr positive als kritische Eigenschaften dargestellt werden. Zudem wird die Umsetzung erläutert, indem wesentliche Grundregeln des Choreografierens improvisierter Tanztheater- Performances erklärt werden, wie z. B.: 1. Es gibt Zuschauerplätze und eine angedeutete oder gedachte Bühne mit Zugängen. Kulissen können eventuell durch vorhandenes Material (z. B. eine große, als Mauer aufgestellte Sportmatte) gebildet werden. 2. Damit die porträtierte Person die dargestellten Charaktereigenschaften erkennen kann, sollten die Darstellenden ihr Gesicht frontal oder im Profil möglichst oft zeigen (außer wenn das Absenken des Kopfes oder die Abwendung des Körpers zur Dar- 170 4 | 2018 Claire Gunther stellung gehört), stets laut und deutlich sprechen bzw. die choreografischen Mittel der Wiederholung und Akzentuierung von Bewegungen, Gestik und Mimik nutzen. 3. Damit die Aufgaben des Darstellens auf mehreren Schultern verteilt werden und schüchterne TeilnehmerInnen ihre Hemmungen überwinden, hat es sich bewährt, dass die ausgewählten Charaktereigenschaften von verschiedenen Personen dargestellt werden. Meistens lassen sich die Gruppenmitglieder, die beim Brainstorming Charaktereigenschaften genannt haben, dazu motivieren, deren Darstellung zu übernehmen. Die anderen TeilnehmerInnen übernehmen jeweils ergänzende Nebenrollen. Eine Nebenrolle wäre zum Beispiel erforderlich, wenn die Hilfsbereitschaft der porträtierten Person dargestellt wird, da hier eine weitere Person die dargestellte Hilfe annimmt. 4. Damit die porträtierte Person möglichst schnell erkennen kann, wer sie als HauptdarstellerIn in den jeweiligen Szenen darstellt, wird ein (ggf. symbolträchtiges) Objekt ausgewählt, das der / die jeweilige HauptdarstellerIn als Erkennungszeichen zur Schau trägt und von Szene zu Szene, wie ein Stab beim Staffellauf, weitergeben kann. Dies kann z. B. ein buntes Tuch sein, das in den Hosenbund gesteckt wird. Ein Fallbeispiel Die Neigung zu grenzüberschreitendem Verhalten einer Patientin mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wurde im Rahmen eines Choreografischen Porträts so dargestellt, dass mehrere DarstellerInnen jeweils innerhalb eines am Boden liegenden Reifens (Symbol der persönlichen Raumgrenzen) standen, sich darin entspannt bewegten oder tanzten, während die Hauptdarstellerin entweder nur mit einem Fuß diverse Reifen überschritt oder sich sogar in verdrängender Weise in eines der „bewohnten“ Reifen stellte und dadurch unterschiedliche Reaktionen bei den Betroffenen wie Irritation, Rückzug, Flucht oder Kampf hervorrief. Im Feedback überlegte die Porträtierte lange, was diese Szene bedeuten sollte. Ich bat sie, sachlich zu schildern, was sie konkret gesehen hatte, bis sie selbst das Wort „Grenzüberschreitung“ formulierte. In diesem Moment erhellte sich ihr Gesicht, und sie verstand erstmalig, was ihr immer wieder vorgeworfen worden war. Die spielerisch-plastische Darstellung des grenzüberschreitenden Charakterzugs hatte diesem zum einen den bedrohlichen Aspekt genommen, und zum anderen war er durch die nachvollziehbare Darstellung anderer, positiv besetzter Charakterzüge im Gesamtbild annehmbar geworden. Abb. 2: Darstellung von Grenzüberschreitung und Raumübernahme Das Choreografische Porträt 4 | 2018 171 Kreativer Prozess Als nächstes überlegt die Gruppe, wie die ausgewählten Charakterzüge und Besonderheiten der porträtierten Person über Bewegungen dargestellt werden können (als ob sie sie z. B. einem taubstummen Menschen erklären wollten) und ob sie musikalische Begleitung oder Requisiten dazu benötigen (wobei lediglich auf vorhandenes Material zurückgegriffen wird). Viele Gruppen benötigen beim Kreieren eines ersten Chorografischen Porträts Ideen und dramaturgische Strukturierungshilfe des / der TanztherapeutIn. Die Szenen werden geprobt und deren Reihenfolge festgelegt. „Psychische Heilungsprozesse brauchen Spontaneität, um wirksam zu sein.“ (Moreno, zitiert nach Krüger 1997, 20) Da die einzelnen Szenen im Vorfeld nur grob einstudiert oder teils nur besprochen werden, wird die gesamte Performance überwiegend improvisiert. Dies fördert die Spontaneität und Kreativität aller Mitwirkenden. Dadurch werden oft Phänomene unbewusst ausgedrückt, die sich in der Rückschau als wichtig und stimmig herausstellen. Das Choreografische Porträt kann auch einen Titel bekommen. Einladung Nach dieser oft zügigen Probe wird die zu porträtierende Person in den Raum gebeten und bekommt einen Zuschauerplatz neben dem / der TanztherapeutIn angeboten, die / der eine kurze Einführung (z. B. „Sie werden in drei Szenen jeweils zwei sich ergänzende Charakterzüge Ihrer Person sehen.“) gibt. Performance Nun werden die ausgewählten Charakterzüge, Wesens- und Persönlichkeitsmerkmale der porträtierten Person mit den Mitteln des Tanzes, der Pantomime und/ oder des Theaters (ggf. mit musikalischer Untermalung) in wertschätzender Atmosphäre von anderen Tanztherapiegruppenmitgliedern choreografisch zum Ausdruck gebracht. Abschlussreflektion Die porträtierte Person kann ihre dargestellten Charaktereigenschaften sowohl von Szene zu Szene als auch erst nach der gesamten improvisierten Darbietung (wie bei einer Scharade) erraten. Hilfreich ist es, wenn sie im Gesamtfeedback genau beschreibt, was sie in den einzelnen Szenen gesehen, gehört und wahrgenommen hat, und mitteilt, inwieweit sie sich selbst darin erkannt hat oder nicht. Dabei kann ein Bezug zu den persönlichen Notizen „eigene Stärken und Schwächen“ genommen werden. Sowohl die aktiven als auch passiven Gruppenmitglieder (die z. B. nur am Brainstorming, aber nicht aktiv an der Gestaltung teilgenommen haben) werden gebeten zu reflektieren, wie sie sich selbst und die anderen während des Gestaltungsprozesses und der Darstellung wahrgenommen haben. Sie werden auch gebeten, darüber nachzudenken, in welchen der dargestellten Szenen sie sich selbst wiedergefunden haben. Die Fähigkeit zu emotionaler oder praktischer Hilfsbereitschaft wird immer wieder gerne z. B. durch Trösten und Aufstehhilfe sowie durch das Helfen beim Zusammenfalten eines Berges an zerknüllten Tüchern dargestellt. Die Darstellungen einzelner Charaktereigenschaften schärfen immer wieder das Bewusstsein dafür, dass das Maß bestimmter Verhaltensweisen darüber entscheidet, ob Charakterzüge gesund ausgelebt werden. Die in Abb. 3 dargestellte Szene regte die TeilnehmerInnen z. B. zu folgenden Gedanken an: „Ich bin sozial, wenn ich anderen helfe, aber muss auch mal Nein sagen können, um nicht ausgenutzt zu werden bzw. sollte anderen meine Hilfe nicht aufdrängen, damit sie „auf die Beine kommen“ bzw. „eigen-ständig“ werden. 172 4 | 2018 Claire Gunther Hinweise Die Darstellung einer anderen Person bringt häufig eigene Schattenseiten oder schlummernde Sehnsüchte zum Vorschein, die im Rahmen der abschließenden Reflektion mit therapeutischer Unterstützung klarifiziert werden. Sowohl passive als auch aktive Gruppenmitglieder sehen sich oft in den Darstellungen gespiegelt, sodass alle Anwesenden von einem Choreografischen Porträt profitieren können. Bis zur Reflektion erinnert die Gestaltung des Choreografischen Porträts an Kinderspiele. Dieser Ablauf generiert meistens Spielfreude und Neugierde, kann aber bei manchen Menschen unangenehme Kindheitserinnerungen wecken, die in der therapeutischen Abschlussreflektion besprochen werden sollten. Davon ausgehend, dass psychisch kranke Menschen oft ein niedriges Selbstwertgefühl haben, ist es als TanztherapeutIn wichtig, während der Entwicklung eines Choreografischen Porträts darauf zu achten, dass die Auswahl, Reihenfolge und Ausgestaltung der inszenierten Stärken und Schwächen der porträtierten Person gut dosiert erfolgen, um deren Ich einerseits ausreichend zu stärken und es andererseits durch dosierte Konfrontation zu ausreichend neuen Erkenntnissen anzuregen. Als TanztherapeutInnen übernehmen wir in diesem kreativtherapeutischen Verfahren vom Brainstorming bis zur abschließenden Reflexion sowohl eine anregende, steuernde als auch regulierende Rolle. Wirkfaktoren Distanzierung und Humor Durch den Prozess der Gestaltung, Darstellung und Betrachtung des Choreografischen Porträts entsteht sowohl bei den Darstellenden als auch beim Porträtierten eine heilsame Distanzierung zur eigenen Person, die Humor, Verspieltheit, wohlwollendes Annehmen, Validierung und vor allem das Integrieren bisher unliebsamer oder negativ besetzter individueller Charakterzüge und Fähigkeiten ermöglicht. Ausblick Die Autorin macht immer wieder die Erfahrung, dass selbstunsichere und ängstlich-vermeidende Menschen (z. B. PatientInnen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung) ihre Hemmungen und / oder Schamgefühle überwinden können, wenn ihnen bewusst gemacht Abb. 3: Darstellung von Hilfsbereitschaft Das Choreografische Porträt 4 | 2018 173 wird, dass sie damit dem porträtierten Gruppenmitglied ein Geschenk machen. Die künstlerische Darstellung gibt ihnen die Möglichkeit, in Rollen zu schlüpfen und dadurch zu erfahren, dass Im-Mittelpunkt-Sein, Sich-Zeigen und Gesehen-Werden nicht so gefährlich ist, wie oft befürchtet, und sogar Spaß machen kann. PatientInnen, die an der Gestaltung mehrerer Choreografischer Porträts mitgewirkt haben, spürten, dass sie zunehmend mutiger wurden. Diejenigen, die ein Choreographisches Porträt geschenkt bekamen, erzählten der Autorin nach Jahren begeistert, dass sie hilfreiche Bilder mancher Szenen immer noch lebhaft im Kopf hätten. PatientenInnen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung berichteten sogar, dass sie die überreichte Brainstorming-Liste ihrer persönlichen Eigenschaften in ihrem Skills-Täschchen aufbewahren und in Krisen hineinschauen würden, um sich selbst wieder aufzubauen. Natürlich handelt es sich hier um Einzelfälle, aber ich hoffe, dass diese Herangehensweise auch von KollegInnen in Betracht gezogen und zukünftig näher erforscht wird. Literatur Alexander, G. (1976): Eutonie. Ein Weg der körperlichen Selbsterfahrung. Kösel, München Bender, S. (2014): Systemische Tanztherapie. Ernst Reinhardt, München Bohus, M., Wolf-Arehult, M. (2012): Interaktives Skillstraining für Borderline-Patienten. Das Therapeutenmanual. Schattauer, Stuttgart Franzke, E. (1977): Der Mensch und sein Gestaltungserleben. Psychotherapeutische Nutzung kreativer Arbeitsweisen. Hans Huber, Bern u. a. Kappert, D. (1997): Archetypen, Innere Bilder und Körpersymbolik. Ein Weg zu Selbstheilungskraft und persönlichem Wachstum. Verlag für Ästhetische Bildung, Essen Kappert, D. (1993): Tanz zwischen Kunst & Therapie. Brandes & Apsel, Frankfurt/ M. Klein, G., Sting, W. (2005): Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. transript, Bielefeld, https: / / doi. org / 10.14361 / 9783839403792 Krüger, R. T. (1997): Kreative Interaktionen. Tiefenpsychologische Theorie und Methoden des klassischen Psychodramas. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Lakoff, G., Johnson, M. (2008): Leben in Metaphern. Konstruktion von Sprachbildern. Carl Auer, Heidelberg Potreck-Rose, F., Jacob, G. (2015): Selbstzuwendung, Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen. Psychotherapeutische Interventionen zum Aufbau von Selbstwertgefühl. Klett-Cotta, Stuttgart Claire Gunther Seit 1995 klinische Tanztherapeutin, Ausbilderin, Lehrtherapeutin, Supervisorin BTD, ECP. Psychotherapie HeilprG. Trauma-adaptierte Tanztherapie in Privatpraxis. ✉ Claire Gunther Am Kreuzfeld 16 | D-41468 Neuss www.praxis-gunther.de mail@praxis-gunther.de