eJournals körper tanz bewegung 7/2

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aus der Praxis: Frustriert, unsicher und auf der Suche nach der eigenen Identität

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Maren Meinold
Betrachtet man die gesamte Jugend als eine Phase des Übergangs, so gehört dazu ein über Jahre andauernder Zustand von Chaos und Unsicherheit. Dies ist alleine kaum zu bewältigen. Methoden und Interventionen der Tanztherapie können Jugendliche bei ihrer Selbstfindung unterstützen. Im tanztherapeutischen Setting besteht für junge Menschen die Möglichkeit, sich mit sich selbst sowie mit anderen Jugendlichen und den gemeinsamen Themen wie Ablösung und beginnende Verantwortungsübernahme auseinanderzusetzen. In diesem Artikel werden Übergangsrituale im Rahmen der Tanztherapie als Entwicklungsbegleitung von Jugendlichen in Pflegefamilien näher beleuchtet.
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Forum: Aus der Praxis 63 körper-- tanz-- bewegung 7. Jg., S. 63-75 (2019) DOI 10.2378 / ktb2019.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Frustriert, unsicher und auf der Suche nach der eigenen Identität Jugendliche in besonderen Lebenslagen und Möglichkeiten der tanztherapeutischen Begleitung Maren Meinhold Betrachtet man die gesamte Jugend als eine Phase des Übergangs, so gehört dazu ein über Jahre andauernder Zustand von Chaos und Unsicherheit. Dies ist alleine kaum zu bewältigen. Methoden und Interventionen der Tanztherapie können Jugendliche bei ihrer Selbstfindung unterstützen. Im tanztherapeutischen Setting besteht für junge Menschen die Möglichkeit, sich mit sich selbst sowie mit anderen Jugendlichen und den gemeinsamen Themen wie Ablösung und beginnende Verantwortungsübernahme auseinanderzusetzen. In diesem Artikel werden Übergangsrituale im Rahmen der Tanztherapie als Entwicklungsbegleitung von Jugendlichen in Pflegefamilien näher beleuchtet. Schlüsselbegriffe Jugend, Transition, Übergangsbegleitung, Rituale, Beziehungsarbeit Frustrated, Insecure and Searching for Personal Identity. Dance Therapeutic Support for Young People in Special Circumstances If youth is regarded as a phase of transition, it represents an enduring state of chaos and uncertainty and is impossible to cope with alone. The methods and interventions that dance / movement therapy has to offer can help adolescents in the process of finding themselves. In the dance / movement therapy setting, young people are given the opportunity to deal with issues related to themselves as well as other adolescents and common themes such as detachment and assuming responsibility. In this article, transitional rituals in the context of dance / movement therapy are considered as developmental support for adolescents in foster families. Key words Youth, transition, transitional accompaniment, rituals, relationship work „I ch hatte Angst, dass, wenn das Licht wieder angeht, ich mein Bild voll blöd finde.“ Das berichtete Y. bei der gemeinsamen Auswertung einer tanztherapeutischen Stunde. Die TeilnehmerInnen hatten die Aufgabe, die Erlebnisse der Stunde, den Tanz mit Tüchern, mit Ölkreiden auf einem Blatt Papier wiederzugeben. Hierbei wurden sie mit 64 2 | 2019 Maren Meinhold Jugendlichen sich in positiven Zusammenhängen erleben, dies praktisch ausprobieren und ihre erworbenen Erfahrungen in ihren Alltag integrieren. Phasen und Entwicklungsthemen von Jugendlichen bei ihren Übergangsprozessen Die Jugendphase umfasst eine Spanne von mindestens zehn, wenn nicht sogar fünfzehn Jahren. Jugend wird als die Zeit zwischen der körperlichen Geschlechtsreife und der sozialemotionalen und finanziellen Autonomie verstanden. Sie umfasst in etwa die Spanne zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr (Wietasch 2007, 125; Deutscher Bundestag 2013, 135). Die Phase der Pubertät beschreibt im engeren Sinne die sexuelle Reifung des Körpers. Die Ausschüttung der Geschlechtshormone im Gehirn definiert den Beginn und prägt die sekundären Geschlechtsmerkmale aus (Wietasch 2007, 125). Dies führt, begleitet durch sogenannte Wachstumsschübe, zum Gestaltwandel des jungen Menschen. Mit dem Einsetzen der Pubertät nehmen die Geschlechtshormone Einfluss auf die subkortikalen Strukturen, die unter anderem die neuronale Basis für den Ausdruck, die Dekodierung und Regulation von Emotionen bilden. Die Intensität des emotionalen Erlebens steigt in dieser Phase (Wietasch 2007). Neben den hirnphysiologischen Veränderungen ergeben sich auch Veränderungen auf sozialer, emotionaler und gesellschaftlicher Ebene. Der Wert sozialer Beziehungen steigt. Die Fähigkeit, soziale und emotionale Ausdrucksformen zu lesen und darauf angemessen zu reagieren, wird ausgeprägt. Hierbei lernt der junge Mensch, andere Sichtweisen anzunehmen, sich in andere hineinzuversetzen und toleranter gegenüber anderen Perspektiven zu werden (Wietasch 2007). Die gesellschaftlichen und kulturellen Erwartungen sowie das jeweilige Bild der Gederselben Musik wie zuvor im Bewegungsteil begleitet. Die TeilnehmerInnen hatten den Wunsch, ihre Erfahrungen im Dunkeln aufzuzeichnen. Nach Absprache mit allen TeilnehmerInnen wurde das Licht gelöscht. Alle saßen am Boden, das Blatt und die ausgewählten Kreiden vor sich. Der Raum wurde von einer Straßenlaterne in ein schummriges Licht getaucht, die Musik spielte leise im Hintergrund. Die Ausgangssituation Fünf Jugendliche im Alter von 13-16 Jahren kommen alle zwei Wochen zum Tanzen und Theaterspielen in einer Gruppe mit tanz- und theatertherapeutischer Begleitung zusammen. Die Jugendlichen leben in Pflegefamilien. Das Projekt wird über das Pflegekindersystem des Jugendamtes finanziert und organisiert. Die Pflegeeltern und Jugendlichen wurden durch das Jugendamt über das Projekt informiert und eingeladen. Der Fokus der therapeutischen Arbeit liegt bei den Jugendlichen. Gespräche mit den Pflegeeltern finden lediglich in der Bring- und Abholsituation sowie bei regelmäßigen Präsentationen der be- und erarbeiteten Inhalte statt. In der Gruppe werden durch unterschiedliche Methoden der Körper- und Rollenarbeit neue Zugänge zur eigenen Biographie geschaffen und die Rollenfähigkeit für das soziale Miteinander erweitert. Die Jugendlichen probieren sich in verschiedenen Rollen spielerisch aus, können in der Interaktion mit den anderen TeilnehmerInnen Rollenerwartungen und Verhaltensweisen abgleichen und in verschiedenen Szenen eigene Erfahrungen nachspielen bzw. -erleben. Die bewegungsorientierte Begleitung kann sie meiner Erfahrung nach bei der eigenen Identitätsfindung unterstützen. Sie lernen sich und ihren Körper kennen und erfahren neue Möglichkeiten im Umgang mit sich selbst und anderen. Ein Ziel der Gruppenarbeit ist, die eigenen Ressourcen und Stärken herauszuarbeiten und zu festigen. So können die Jugendliche in besonderen Lebenslagen 2 | 2019 65 sellschaft/ Kultur von Jugend spielen bei der Entwicklung sowie den unterschiedlichen Übergängen in der Jugendphase eine große Rolle. Die verfügbaren Ressourcen sowie die individuelle Lebensführung bzw. die Bewältigung des Alltags haben eine große Bedeutung für das Heranwachsen (Keupp 2013, 21). Der junge Mensch wird selbstständiger, er löst sich von seinen Eltern und setzt sich mit dem Staat und der Gesellschaft auseinander. Hier prallen die unterschiedlichen Erwartungen von Erwachsenen auf der einen Seite und der Peergroup auf der anderen Seite aufeinander. Nach Keupp befasst sich die Jugendphase mit drei wichtigen Themen: den Körper spüren, Grenzen suchen und die eigene Identität finden. Diese drei Kernthemen fassen mehrere spezifische Thematiken von Jugendlichen zusammen. Die Auseinandersetzung mit dem Körper nimmt hierbei einen besonders wichtigen Stellenwert ein. Er dient unter anderem als „Objekt bewusster Gestaltung, zum Teil aber auch bewusster Negierung“ (Keupp 2013, 21). Zum einen wird der junge Mensch mit einem hormondurchfluteten und neugeformten Körper konfrontiert, zum anderen beeinflusst die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schönheitsideal, der Körperästhetik sowie der Inszenierung und Präsentation des eigenen Ichs das Auftreten und den Blick auf sich selbst. Im Zusammenhang mit der sexuellen Reifung steigt das sexuelle Interesse am eigenen sowie am anderen Geschlecht ebenso wie das Ausprobieren der verschiedenen Geschlechterrollen und der ersten sexuellen Annäherungen. Um eine eigene Position in der Welt zu finden, testet der Jugendliche sich selbst sowie die Haltungen und Handlungen seiner Mitmenschen aus. Grenzen werden hier zum Versuchsraum des eigenen Verhaltens und der Auseinandersetzung mit den Normen und Werten des eigenen Umfeldes. In der Betrachtung, vor welcher großen Herausforderung die jungen Menschen bei der Bewältigung der Jugendphase stehen, wird die Aussage bekräftigt, dass dies alleine kaum zu meistern ist. Transitionsprozesse Vom Säugling bis zum Jugendlichen durchwandern wir in unserem Leben viele Übergänge. Der Mensch bewegt sich vom Bekannten, seiner sicheren Basis aus, zum unbekannten Neuen. So lernen wir schon von klein auf den Umgang mit neuen Situationen. Wir entwickeln Mechanismen, welche uns helfen, uns im ungewohnten Terrain zurechtzufinden. Im Jugendalter werden diese Mechanismen hinterfragt, überarbeitet und weiterentwickelt. Anhand neuer Aufgaben erweitert der Mensch sein Rollen- und Verhaltensrepertoire. Im fachlichen Diskurs über Transitionsprozesse werden dem Menschen verschiedene Entwicklungsaufgaben zugeschrieben. Auf der individuellen Ebene geht es dabei um Identität, den Kompetenzerwerb und die Bewältigung starker Emotionen (Griebel 2013). Für alle Beteiligten, wie z. B. Eltern, Geschwister, die Peergroup usw., kommt es zu einem Rollenwandel. Es werden neue Rollen angenommen, doch mit der Übernahme dieser müssen auch die Menschen in der Umgebung neue Rollen und Aufgaben übernehmen. Dies bedeutet z. B. für Eltern und PädagogInnen eine erweiterte Verantwortungsübergabe an den jungen Menschen, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Alter, das „Gehenlassen“ und bis zu einem gewissen Grad das „Außen-vor-Sein“. Je positiver vorherige Übergänge erlebt wurden, desto leichter fällt es dem Menschen, sich auf neue Prozesse einzulassen und diese positiv zu durchwandern. Bei negativen Erfahrungen in Übergangsprozessen können Gefühle des Unbehagens und der Angst ausgelöst werden. Hier spielt die Begleitung sowie die Durchführung des Übergangs eine wichtige Rolle (Griebel 2011). Es herrscht ein emotionales und soziales Ungleichgewicht sowie 66 2 | 2019 Maren Meinhold starke Gegensätze im Seelenleben der Jugendlichen. Es entstehen viele Fragen, und es beginnt eine Suche nach dem Umgang mit den emotionalen, körperlichen und sozialen Veränderungen. Auf der einen Seite sind sie sehr auf sich bezogen, egoistisch und sehen „sich selbst als den Mittelpunkt der Welt, auf den das ganze eigene Interesse konzentriert ist, und [sind] doch wie nie mehr im späteren Leben opferfähig und zur Hingabe bereit“ (Freud 2012, 135). In diesem konfusen Bild bzw. einem Zustand von Ungleichgewicht und Gegensätzen gilt es für Eltern / Pflegeeltern und pädagogische bzw. therapeutische Fachkräfte, einen stabilen Part zu bieten, einen sicheren Hafen, an dem die jungen Menschen Kraft und Selbstsicherheit tanken können. Im Laufe der Zeit haben Menschen verschiedene Varianten entwickelt, Übergänge so zu gestalten, so dass diese positiv erlebt werden können. Neuen Lebensaufgaben kann dann gestärkt entgegengetreten werden. Der Einsatz von sogenannten Übergangsritualen ist hierbei ein wichtiger Wirkfaktor. Bedeutung von Ritualen Rituale begleiten uns unser ganzes Leben lang und sind von Kultur zu Kultur, von Land zu Land, aber auch von Familie zu Familie unterschiedlich (Röttger-Rössler 2011, 37). Rituale sind die kollektive Bezeichnung von Riten, welche sich wiederum auf Bräuche und Zeremonien beziehen (Kluge 2011, 768). Sie umfassen sich wiederholende Handlungen, welche als fester Bestandteil gemeinsamer Interaktion dienen können. Übergangsrituale können bestimmte neurobiologische Voraussetzungen schaffen, die dem Menschen helfen, einschneidende Veränderungen in ihrem Lebenslauf zu bewältigen (Röttger-Rössler 2011). Rituale dienen dazu, Vertrauen in bestehende Verhältnisse zu schaffen. Sie helfen uns, „die nur indirekt erfahrbaren sozialen Realitäten mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt zu verknüpfen“ (Singer 2011, 15). Dies zeigt sich unter anderem bei den neurobiologischen Effekten in Zusammenhang mit Tanz und Musik: Deutlich wird dies bei der Hauttemperatur, der Muskelspannung, der Schweißbildung, der Herzkreislauffunktion, aber auch der Ausschüttung von Neurotransmittern wie Noradrenalin. Durch Rituale werden Gehirn und Körper stimuliert, um so eine besondere Stimmung oder ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen (Singer 2011). In unserem Gehirn entwickeln sich hierbei sogenannte Primärwahrnehmungen, die uns über die vorgefundene Welt Auskunft geben. Diese entstehen durch die Verarbeitung relevanter Signale aus der Umwelt und unterstützen unter anderem die Steuerung unseres Verhaltens. Zusätzlich wird die funktionelle Architektur des Gehirns nachhaltig durch Erfahrungen beeinflusst. Nach dieser Theorie unterstützen Ritualen nicht nur das Erleben abstrakter Bezüge, sondern auch der emotionalen Bezugspunkte. So ermöglicht die symbolische Verdichtung von sinnlich erfahrbarer und von vielen Menschen gleichzeitig erlebbarer, kulturell erzeugter Wirklichkeit, diese anhand von Ritualen zu begreifen, zu erfassen und zu benennen. Rituale dienen hier als Rückbindung sozialer Realitäten an die sinnlichen Primärwahrnehmungen (Singer 2011). Tanztherapie und Übergänge Sowohl im gruppenals auch im einzeltherapeutischen Kontext einer Tanztherapie sind die unterschiedlichen Phasen des Therapieverlaufs von Übergängen geprägt. Einerseits geht es um persönliche Übergänge des Klienten, andererseits gehen TherapeutIn und KlientIn über verschiedene Schwellen. Übergangsrituale können helfen, Schwellen gemeinsam zu betreten bzw. den Klienten beim Übergang seiner Schwelle zu unterstützen. Rituale, wie zum Beispiel der Kreis als feste Einstiegs- oder Jugendliche in besonderen Lebenslagen 2 | 2019 67 Abschlussform, ein bestimmtes Lied oder eine Bewegungsreihenfolge, strukturieren den Therapieverlauf. Durch den Einsatz von Ritualen wird der Beziehungsaufbau erleichtert und weiter gefestigt. Damit der schützende Rahmen nicht jedes Mal neu aufgebaut werden muss, helfen die sich wiederholenden Rituale dem Einzelnen, bei sich, im Raum, in der Gruppe und dem gemeinsamen bzw. individuellen Prozess anzukommen, sich den Themen zu öffnen und auf neue Erfahrungen einzulassen (Bender 2014, 236). Weiter können Rituale die Trennungsgestaltung unterstützen. Trennung zeichnet sich dadurch aus, dass jemand oder etwas nicht mehr da ist (Bender 2014). Rollen, Aufgaben, Tagesabläufe verändern sich. Neue Verantwortungen müssen übernommen werden, die eigene sowie die Erwartungshaltung der Mitmenschen werden neu geformt. „Damit Trennung als Teil des Lebens in die Psyche integriert werden kann, braucht sie eine Form und ein Ritual, um die Trennung zu gestalten.“ (Bender 2014, 236) So können der Einsatz individueller Tänze, die Methode des Verraumens (Baer / Frick-Baer 2008, 219 ff ) oder Darstellungen dazu dienen, sich von der Kindheit zu verabschieden bzw. im Jugend- oder später Erwachsenenalter willkommen geheißen zu werden. Hierbei setzen sich KlientInnen wie TherapeutInnen unter anderem mit den Themen des Loslassens und Festhaltens auseinander. Rituale zur Trennung helfen der psychischen Verarbeitung und Vorbereitung auf die neue und veränderte Situation. Sie unterstützen die innere Stabilisierung (Baer / Frick-Baer 2008). Das sogenannte Verraumen beinhaltet verschiedene Unterkategorien und Umsetzungsmöglichkeiten. Beispielhaft kann der Raum in drei Felder aufgeteilt werden. Das mittlere Feld symbolisiert den Übergang bzw. den Zwischenraum. Das linke Feld kann zum Beispiel die Kindheit sein, von der sich der junge Mensch loslöst, das rechte Feld würde somit die Jugendphase oder das Erwachsensein darstellen. Die KlientInnen werden nun anhand verschiedener Fragestellungen begleitet, den Übergang räumlich darzustellen, die Bereiche zu benennen und die Gefühlswelten körperlich auszudrücken. So können die KlientInnen im Übergangs- oder Zwischenraum verschiedene Wege finden, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. In manchen Fällen kann der Zwischenraum auch für ein eigenes Thema stehen, welches sich vorher im Hintergrund verborgen hat. In diesem Fall wird auch der Zwischenraum als Ort des Erlebens genutzt, um so versteckten Themen Raum zu geben (Baer / Frick-Baer 2008, 219 ff ). Darstellungen können als kleinere oder größere Präsentationsfelder genutzt werden. Es können verschiedene Methoden und Materialien der Tanztherapie eingesetzt werden. Beispielhaft können hier selbst entwickelte Tänze und Bewegungsmuster oder Skulpturen genannt werden. Spezifische Faktoren von Jugendlichen in besonderen Lebenslagen Kinder und Jugendliche haben verschiedene Grundbedürfnisse. Um sich gut entwickeln zu können, müssen diese weitestgehend befriedigt werden. Brazelton und Greenspan (2002) nennen sieben Grundbedürfnisse von Kindern. Diese umfassen das Bedürfnis danach, dass Beziehungen beständig und liebevoll gestaltet werden, ihr Körper unversehrt bleibt, sie Sicherheit erfahren und sich regulieren können, dass sie individuelle und entwicklungsgerechte Erfahrungen machen können und dabei adäquate Grenzen und Strukturen erfahren, weiter, dass sie in der Gemeinschaft unterstützt und hierbei kontinuierlich auf dem Weg in eine sichere Zukunft begleitet werden. Aufgabe der Bezugspersonen ist es, diese Bedürfnisse zu stillen. Sollte dies nicht möglich sein, benötigen sowohl Kinder bzw. Jugendliche als auch deren Bezugsperson dringend Unterstützung. 68 2 | 2019 Maren Meinhold Kinder und Jugendliche, die aufgrund traumatisierender Erfahrungen aus der Herkunftsfamilie geholt, von den leiblichen Eltern getrennt und in einer neuen Familie untergebracht werden, konnten häufig ihre Grundbedürfnisse nicht ausreichend befriedigen. Pflegefamilien können aufgenommenen Kindern und Jugendlichen helfen, indem sie den jungen Menschen in seiner aktuellen Situation und seinem Sein annehmen, ihn einfühlend verstehen, ihm einen Raum geben, in dem er sich sicher und geborgen fühlt, und beständig an seiner Seite stehen, eine Beziehung aufbauen und ihm so ein stabiler Partner für die kommenden Entwicklungsschritte sind. Der Integrationsprozess der Kinder / Jugendlichen in die Pflegefamilie kann in drei charakteristische, jedoch nicht immer voneinander abgrenzbare Phasen unterteilt werden. In der ersten Phase passt sich das Pflegekind eher passiv an den Alltag sowie an Wünsche und Erwartungen der Pflegeeltern an. Öffnen sich die Pflegeeltern dem neuen Menschen in ihrem Kreise und lassen sich von ihm an die Hand nehmen, erfährt dieser dadurch nach und nach seinen Einfluss in der Beziehungsgestaltung und fühlt sich in seinem Sein angenommen. In der zweiten Phase stehen die neu entstandenen Beziehungen im Fokus. Es entsteht eine Verzerrung der Beziehung zu Pflegemutter und Pflegevater durch die frühere Beziehungserfahrung mit den leiblichen Eltern: sogenannte Übertragungsbeziehungen. Alle in der Beziehung zu den leiblichen Eltern entwickelten Beziehungsstörungen werden erneut mobilisiert und treten mit voller Kraft zutage. In der Konfrontation mit dem Beziehungsverhalten der Pflegeeltern setzt sich das Pflegekind mit alten Beziehungsmustern auseinander, kann diese durch neue Muster hinterfragen und korrigieren. Dies ist zwar ein für alle Beteiligten aufreibender, aber auch wichtiger Schritt für die dritte Phase. Diese nennt sich die Phase der Regression und wird durch die Rückkehr in frühkindliche Entwicklungsstufen geprägt. Diese Rückkehr ermöglicht dem Kind die Einwicklung einer neuen Eltern-Kind-Beziehung und damit einhergehend neuen Entwicklungsschritten sowie die Chance, Entwicklungsaufgaben nachzuholen (Nienstedt/ Westermann 2011, 26). Die Eltern-Kind-Beziehung ist aus bindungstheoretischer Sicht für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern von zentraler Bedeutung. Der Aufbau dieser Beziehung ist ein langwieriger Prozess, der sich unter anderem durch die tägliche Bedürfnisbefriedigung im alltäglichen Zusammenleben entwickelt (Nienstedt/ Westermann 2011, 19). Dieser Aufbau dient weiter auch der Identitätsentwicklung des jungen Menschen. Kinder identifizieren sich auf mehreren Ebenen mit ihren Eltern. In der Jugend wird diese Identifikation auf die Probe gestellt. Der junge Mensch beginnt, sich von seinen Eltern zu lösen, eigene und neue Erfahrungen zu machen. Die vorherige Orientierung an den Werten und Normen der Eltern verändert sich, die Eltern werden nicht mehr als Ideale und Vorbilder angesehen. Dies verunsichert und verursacht auf der Suche nach neuer Sicherheit die Identifikation mit neuen Idealen und Vorbildern. Häufig sehen Eltern die Beziehung zu ihrem Kind als gefährdet, wenn sich ihr Kind nicht mehr an ihnen orientiert und seine Wünsche und Träume nicht mehr mit ihnen teilt. Diese entwicklungspsychologisch konforme Entfremdung ist für Pflegeeltern, besonders dann, wenn sie das Kind erst als älteres Kind oder Jugendlichen aufgenommen haben, stark beunruhigend. Sie können sich nicht wie leibliche Eltern auf eine sichere Beziehung bzw. Bindung der frühen Kindheit stützen. Auch zeigen Jugendliche in ihrer Identitätskrise aufgrund der Selbstunsicherheit häufig ähnliche Abwehrmechanismen, die sie schon bei der Bewältigung früherer Einsamkeit und Schutzlosigkeit benötigten. Pflegeeltern sehen sich so einem Verhalten gegenüber, das sie sich zwar erklären, aber auf emotionaler Ebene schwer nachempfinden können. Das abwehrende Ver- Jugendliche in besonderen Lebenslagen 2 | 2019 69 halten des jungen Menschen aus seiner Unsicherheit heraus sowie die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und die Suche nach den eigenen Wurzeln lösen auch bei den Pflegeeltern ein gewisses Abwehrverhalten aus. Das Gefühl, dass der junge Mensch nie ihr eigenes Kind geworden sei, verursacht, dass gewöhnliche Verhaltensweisen der Adoleszenz mit der frühkindlichen Sozialisation in Verbindung gebracht werden, auf die die Pflegeeltern aber keinen Einfluss hatten. So führen die Ablösungsverhaltensweisen der Jugendlichen Ausstoßungstendenzen der Pflegeeltern herbei. Sie erleben die Identifikations- und Ablösungskrise als eine Krise der Pflegebeziehung und fühlen sich in ihrer Elternrolle verunsichert-- obgleich doch die Beziehung auf Grund der Krise einer neuen Definierung bedarf (Nienstedt/ Westermann 2011, 259 ff ). Um eine elternunabhängige Selbstdefinition zu finden, ist die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte unabdingbar. Die Frage nach dem eigenen Sein und dem zukünftigen Ich kann nur beantwortet werden, wenn man weiß, woher man kommt. Pflegekinder bzw. Jugendliche in Pflegefamilien empfinden häufig ein sehr ausgeprägtes Bedürfnis, die eigenen Wurzeln kennenzulernen. So müssen sie sich zeitgleich mit den psychologischen Eltern wie auch mit der Ursprungsfamilie und den Gründen bzw. Motiven der Unterbringung auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung wird dadurch erschwert, dass, wie oben beschrieben, Jugendliche ihre Themen und Angelegenheiten gerne als ihr Privates sehen und eine Einmischung nicht wünschen. Sie möchten sich alleine mit dem Teil ihrer Geschichte auseinandersetzen, der vor der Zeit in der Pflegefamilie stattgefunden hat. Ein Austausch mit den Pflegeeltern ist zumeist nicht gewünscht. Jedoch ist die alleinige Auseinandersetzung mit Themen, die eine Vielzahl unterschiedlicher Emotionen und Erinnerungen hervorrufen, nicht immer leicht zu bewältigen. Die eigene Konfrontation mit negativen Gefühlen und eventuell gut verborgenen Erfahrungen ist für eine Bearbeitung der eigenen Geschichte sowie einem eventuellen Aussöhnen wichtig (Nienstedt/ Westermann 2011, 262). Hierbei kann die real erlebte Familienbeziehung mit den Pflegeeltern als negativ und die Beziehung zur Ursprungsfamilie idealisiert und als positiv gesehen werden. Aktuelle Probleme in der Beziehung zu den Pflegeeltern vertiefen dabei die Sehnsucht nach der leiblichen Familie und verstärken die erlebte Identitätskrise. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte beinhaltet die frühe Beziehungserfahrung und muss verarbeitet werden. Der Wunsch, die eigene Geschichte zu rekonstruieren und anderen von sich und seinem Leben erzählen zu können, benötigt hier eine Ansammlung von Daten und Fakten. Nicht in jedem Fall ist der direkte Kontakt mit der Herkunftsfamilie notwendig. Informationen können auch vom Sozialarbeiter des Jugendamtes, von anderen Familienangehörigen und auch von der Pflegefamilie eingeholt werden. Dies ist für die Bewältigung sehr wichtig, damit die eigene Geschichte sich nicht in der Phantasie abspielt, sondern reale Gestalt annimmt. (Nienstedt/ Westermann 2011, 262). Die Hilfe und Unterstützung durch die Pflegefamilie und weitere Fachkräfte ist hierbei unabdingbar. Der Jugendliche sollte trotz aller Abwehr nicht mit den unterschiedlichen Emotionen, Bildern, Eindrücken und Erlebnissen allein gelassen werden. Somit erhält der junge Mensch die Chance, sich mit seinen Wurzeln auseinanderzusetzen, sich eventuell auf die eine oder andere Weise damit zu identifizieren und einen weiteren Schritt auf dem Weg zur eigenen Identität und dem zukünftigen Sein als Erwachsender zu gehen. Pflegeeltern werden vor hohe Anforderungen sowohl von Seiten der Kinder / Jugendlichen, vom Jugendamt als auch von sich selbst gestellt. Sie haben die Aufgabe, Entwicklungsberichte zu schreiben und an den das jeweilige Kind/ den jeweiligen Jugendlichen betreffenden Konferenzen des Jugendamtes teilzunehmen. 70 2 | 2019 Maren Meinhold Des Weiteren sind sie verpflichtet, den Kontakt zu den leiblichen Eltern aufrechtzuerhalten und, sofern ein Umgangsrecht besteht, mit ihnen zu kooperieren. Sie benötigen Fachwissen über kindliche Traumafolgestörungen, die kindliche Entwicklung, einen guten Umgang mit Kindern in besonderen Lebenslagen, über den Umgang mit den leiblichen Eltern sowie den Formen der gemeinsamen Kooperation (Garbe 2015, 153). Alltägliche Gefühlsregungen sowie Bedürfnisse und Phantasien sollten von Pflegeeltern begleitet, verstanden und eventuell spielerisch beantwortet werden. Mit einer sorgfältigen Vorbereitung und Beratung der Pflegeeltern sowie eine entsprechende Nachbereitung können Kinder / Jugendliche heilende Erfahrungen machen (Nienstedt/ Westermann 2011, 25). Wie oben beschrieben, benötigt unser Gehirn nach Zeiten des Chaos und der Unordnung aufgrund neuer Erfahrungen eine Zeit der Ordnung, in der sortiert und eingeordnet werden kann. Die Integration in die Pflegefamilie ist dann gelungen, wenn das Kind sich „in geschlechtsspezifischer Weise mit den Pflegeeltern identifiziert und seine Selbstdefinition als Kind durch die Zugehörigkeit zu diesen Eltern geprägt ist“ (Nienstedt/ Westermann 2011, 25). Fühlt sich der junge Mensch in die Familie integriert, wird das Erleben neuer Beziehungsmuster erleichtert, frühere Erfahrungen können be- und verarbeitet werden. Neben den alltäglichen Prozessen und der Begleitung der jungen Menschen bei der Bearbeitung alter und neuer Themen wird es mit dem Eintritt in die Jugendphase erneut turbulent. Viele Verhaltensweisen von jungen Menschen, wie oben beschrieben, sind für Eltern und so auch für die Pflegeeltern unverständlich und undurchsichtig. So scheint es allzu leicht, eine Verbindung zur Vergangenheit zu ziehen und das Verhalten der Jugendlichen aufgrund der frühkindlichen bzw. kindlichen Erfahrungen zu pathologisieren, um so die aktuellen Umstände zu erklären (Streeck- Fischer 2009, 43). Die Erfahrungen in der frühen Kindheit sind jedoch nicht allein ausschlaggebend für einen krisenhaften Entwicklungsverlauf. Sie sind lediglich ein Faktor, der auf die jungen Menschen einwirkt und ihr Verhalten beeinflussen kann. Wichtig ist die Verbindung des jungen Menschen zu seinen haltgebenden Strukturen, d. h. auch dem bisherigen Bezugssystem (Streeck-Fischer 2009, 43). So spielen sowohl die Pflegeeltern als auch die leiblichen Eltern eine wichtige Rolle. Die Suche nach den eigenen Wurzeln ist ein ausschlaggebender Faktor bei der Entwicklung der eigenen Identität. Die Auseinandersetzung mit Normen, Werten, Vorbildern und Bezugspersonen aus zwei verschiedenen Familien sowie die unterschiedlich geprägte Identifikation mit diesen können hierbei den Prozess erschweren. Erst der Aufbau einer guten, stabilen und vor allem sicheren Beziehung ermöglicht den Kindern und Jugendlichen, sich mit sich, ihren Themen und Erlebnissen auseinanderzusetzen. Therapeutische Bezugssysteme können hierbei begleiten. Tanztherapeutische Übergangsbegleitung von Jugendlichen in Pflegefamilien: eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis In der therapeutischen Arbeit mit Jugendlichen in besonderen Lebenslagen, wie dem Pflegekinderwesen, ist ein besonderes Feingefühl gefragt. Die ganzheitliche Betrachtung des jungen Menschen ist hierfür unabdingbar. Jeder Mensch vereinigt in sich mehrere Ebenen (biologische, persönliche, interpersönliche, situative und soziokulturelle Ebene; nach Rudolf und Henningsen 2013), die es alle, auch in ihrer Verbundenheit, zu beachten gilt (Eberhard- Kaechele 2016, 18). Die Arbeit mit Menschen mit eventuellen Traumafolgestörungen birgt für TanztherapeutInnen eine Herausforderung, da unklar ist, welche Methoden, Zugänge und Verhaltensweisen ein Trigger für die Re-Aktualisierung von traumatischen Ereignissen sein können (Eberhard-Kaechele 2016). Die körperliche Jugendliche in besonderen Lebenslagen 2 | 2019 71 Darstellung und Ausprägung von traumatischen Erlebnissen sowie von stressigen, einengenden Situationen oder Erfahrungen, in denen eigene Grenzen überschritten wurden, sind sehr unterschiedlich ausgeprägt und weisen Auswirkungen im körperlichen, seelischen, affektiven und auch kognitiven Erleben vor. Tanztherapeutische Diagnostik-Methoden, wie etwa die Bewegungsanalyse, dienen dem Auffinden von Anhaltspunkten für die Auswahl und den Einsatz der Interventionen. Ein wesentlicher Punkt bei der Arbeit mit Jugendlichen ist die Beziehung bzw. die Beziehungsgestaltung. Der gemeinsame Umgang und die weiterführenden Handlungen unterliegen dem Grad der Beziehung bzw. dem Vertrauen, welches KlientIn und TherapeutIn beiderseits aufbauen. Jeder Einzelne setzt sich im Prozess mit der Beziehung zu sich selbst, zur Gruppe und auch zum Therapeuten auseinander. Hierbei spielen die Themen Vertrauen / Selbstvertrauen, Verlässlichkeit und Stabilität eine wichtige Rolle. Die professionelle Haltung der TanztherapeutInnen dem einzelnen Menschen, seiner individuellen Geschichte gegenüber sowie der gezielte und individuelle Einsatz tanztherapeutischer Methoden und Interventionen (wie zum Beispiel das Spiegeln) kann den Klienten bei der Selbstfindung und dem Beziehungsaufbau zu sich selbst unterstützen. Unterstützt wird dies unter anderem durch den tänzerischen Dialog, verschiedene Medien und Materialien sowie Gesprächsrunden zwischen und nach den unterschiedlichen Übungen. Durch das Erproben neuer Beziehungserfahrungen im geschützten Kontext (u. a. durch Übungen zu Nähe und Distanz) können die jungen Menschen ggf. ältere Erfahrungen zu Bezugspersonen bzw. eine eventuelle Generalisierung der bisherigen Erfahrungen auf andere Kontexte und Beziehungen relativieren (Gahleitner 2013, 141). Die Auseinandersetzung mit anderen und gemeinsamen Themen in tanztherapeutischen Gruppen lässt die Klienten als Experten in eigener Sache, als gegenseitige Berater und Unterstützer fungieren. Methoden zur Stabilisierung und Begleitung der Entwicklung der Ich-Identität (wie zum Beispiel die Körper- und Körperbildarbeit) können Jugendlichen helfen, eigene Ressourcen zu erkennen und sich selbst auf dem Weg durch die Jugendphase zu vertrauen (Gahleitner 2013). Beispiel aus der Praxis: „Ich hatte Angst, dass wenn das Licht wieder angeht, ich mein Bild voll blöd finde“ Die dargestellte Stunde wurde aus einem dreijährigen Prozess der gemeinsamen therapeutischen Gruppenarbeit ausgewählt. Wie in der Einleitung beschrieben, kommen die jungen Menschen alle zwei Wochen zusammen, um für 1,5 Stunden gemeinsam zu tanzen und Theater zu spielen. Hierbei werden sie von einer Tanztherapeutin begleitet. Die Jugendlichen sind zwischen 13 und 16 Jahren alt und befinden sich mitten in der Jugendphase bzw. in der Pubertät. Alle TeilnehmerInnen leben in Pflegefamilien, der Kontakt zu den leiblichen Eltern ist unterschiedlich ausgeprägt. Die Gruppenstärke umfasst fünf Mädchen und einen Jungen. Im Laufe der drei Jahre hat sich diese gering verändert. Zwei Mädchen haben die Gruppe verlassen, eine davon hatte zwischenzeitlich für ein paar Monate erneut teilgenommen. Die einzelnen Einheiten werden anhand der aktuellen Bedürfnisse der Jugendlichen gestaltet. Die Methoden und Interventionen werden danach ausgewählt, welche Themen mitgebracht werden bzw. welche in einer der vorherigen Einheiten entstanden sind. Die ausgewählten und eingesetzten Methoden beziehen sich unter anderem auf die oben beschriebenen drei Kernthemen der Jugendphase nach Keupp (2013): den Körper spüren, Grenzen suchen und die eigenen Identität finden sowie das Austesten der eigenen Haltungen und Handlungen im geschützten Kontext. 72 2 | 2019 Maren Meinhold Die Jugendlichen betreten den Raum, begrüßen sich und tauschen sich über ihren Alltag aus. Zum Stundenbeginn finden sich alle in einem Kreis zusammen. Der Kreis als Sicherheit gebende Struktur ist ein festes Ritual und markiert den Start sowie das Ende der gemeinsamen Einheit. Einzeln stellt jeder in einer Bewegung oder Form die aktuelle Befindlichkeit dar. Die anderen gehen mit in die Bewegung und versuchen nachzuempfinden, welche Stimmung bei jedem Einzelnen im Vordergrund steht. Die Stimmungen werden von den Gruppenmitgliedern oder der Therapeutin verbalisiert und von dem Vorstellenden bestätigt oder korrigiert. Diese Übung dient einerseits dem Abfragen der aktuellen Stimmung und so der weiteren Methodenwahl, andererseits können die TeilnehmerInnen sich selbst wahrnehmen und ihre aktuelle Stimmung reflektieren sowie sich in die anderen hineinversetzen. Es entsteht ein Abgleich mit der gemeinsamen Realität. Einige berichten von Ereignissen der vergangenen Tage, um ihre Stimmung bzw. Bewegung näher zu erläutern. Die Gruppe ist müde und erschöpft von der Woche, einige sind frustriert von Ereignissen in der Schule. Aus diesem Grund wird eine Regentropfenmassage angeboten. Hierfür trippeln die Finger über Kopf, Gesicht und Nacken, um dann in einem leichten Trommeln den gesamten weiteren Körper bis zu den Füßen entlang zu gehen. Anschließend bleiben alle kurz stehen, um den Körper und die Veränderungen durch die Regentropfenmassage wahrzunehmen. Die Veränderungen können verbalisiert und benannt werden. Die Regentropfenmassage hilft, im Körper und im Raum anzukommen, den Alltag wegzuspülen, sich zu erden und die eigenen Körpergrenzen wahrzunehmen. Anschließend werden in der Mitte des Kreises bunte Chiffon-Tücher verteilt. Jeder wählt sich ein Tuch aus, um dieses im ersten Schritt zu begutachten und zu befühlen. Im Hintergrund wird Musik eingespielt. Die TeilnehmerInnen gehen nun langsam durch den Raum und beschäftigen sich mit dem Tuch. In freier Improvisation probieren sie Bewegungsmöglichkeiten aus und erfahren sich mit dem Medium Tuch. Diese Übung erfordert von den Jugendlichen viel Vertrauen zu sich und der Gruppe. Durch die der Pubertät innewohnende Unsicherheit wird der freie Bewegungsfluss erschwert und ist von Schamgefühlen geprägt. Die Musik schafft einen Orientierungsraum für die eigene Bewegungsqualität, das Tuch als Medium bietet eine erleichterte Entfaltung, da sich die Jugendlichen daran festhalten können und die Wahrnehmung erstmal vom Körper weg gelenkt wird. Es fällt den jungen Menschen schwer, bei sich zu bleiben. Sie nehmen Kontakt zu den anderen Gruppenmitgliedern auf, albern herum, um Unsicherheiten zu überspielen. Die Bewegungsqualitäten sind eher klein und gebunden. Die Therapeutin bewegt sich mit durch den Raum, geht spielerisch mit dem Tuch um und gibt unterschiedliche Bewegungsmöglichkeiten ein. Durch die Wahrnehmung der anderen Gruppenmitglieder können Bewegungen übernommen und so das eigene Bewegungsrepertoire erweitert werden. Die Eingabe verschiedener Impulse unterstützt die Auseinandersetzung mit dem Tuch und erweitert den Ausdruck sowie das affektive Erleben. Der Bezug zu den TherapeutInnen gibt Sicherheit. Durch ihr Mitwirken am Erleben halten sie den Bezugs- und Bewegungsrahmen und ermöglichen so ein freieres Bewegungsspektrum. Jugendliche in besonderen Lebenslagen 2 | 2019 73 Die Gruppe trifft sich in einem Chace-Kreis, hier zeigt jeder Teilnehmer seine Lieblingsbewegung mit dem Tuch. Mittels der Wiederholung der Bewegung durch die anderen TeilnehmerInnen kann sich der Einzelne gesehen und im eigenen Ausdruck bestätigt fühlen, das Bewegungsrepertoire erweitert sich. Es entsteht ein Raum des Austausches und der Reflexion über den affektiven Ausdruck mit dem Tuch. Die Leichtigkeit des Tuches ermöglicht den Jugendlichen einen spielerischen Umgang mit dem Medium. Der Austausch dient unter anderem der Verbalisierung innerer Prozesse sowie der Festigung der gegenseitigen Vertrauensbasis und Beziehung. Anschließend erleben sich die TeilnehmerInnen mit den Tüchern paarweise in gemeinsamen Bewegungsmöglichkeiten. Sie spiegeln den anderen in seiner Bewegung, nehmen ihn so wahr und zeigen ihm den eigenen Ausdruck. Durch den Einsatz unterschiedlicher Rhythmen in der musikalischen Begleitung verändert sich die Dynamik der Tänze mit dem Tuch. Die Paare wechseln, neue Erfahrungen werden gemacht. Sie müssen sich auf neue Ideen und Bewegungen einlassen. Unsicherheiten können entstehen. Die TherapeutInnen sind präsent, halten sich aber bei den Bewegungserfahrungen und dem bewegten Austausch unter den TeilnehmerInnen zurück. Die TeilnehmerInnen setzen sich mit sich, ihrem eigenen Körper sowie den Körpern der anderen TeilnehmerInnen auseinander. Sie erleben sich in ihrem eigenen Ausdruck sowie ihre Wirkung auf andere und können so eigene Verhaltensweisen reflektieren, hinterfragen bzw. festigen. Abschließend halten die TeilnehmerInnen die gemachten Erfahrungen mit dem Medium Tuch in einem Bild fest. Hierfür liegen Blätter und Ölkreiden bereit. Das Mittel der künstlerischen Darstellung auf dem Papier dient als weitere Form, den Erlebnissen und Emotionen einen Ausdruck zu verleihen. Die TeilnehmerInnen liegen im Kreis am Boden und suchen sich verschiedenfarbige Kreiden aus. Sie äußern den Wunsch, das Licht zu löschen und nur im Schein der Straßenlaterne zu malen. Die inneren Unsicherheiten werden deutlich, Scham und Zweifel am eigenen Ausdruck beinträchtigen das selbstbewusste Darstellen. Die TherapeutInnen setzen sich zu den TeilnehmerInnen, beobachten und geben durch ihre Nähe Halt und Stabilität im Dämmerlicht. Im Hintergrund wird die Musik von der vorher bewegten Erfahrungsphase wiederholt. Die TeilnehmerInnen malen. Einige kichern und tauschen sich aus, andere sind ruhig und auf ihr Werk konzentriert. Das Licht wird wieder eingeschaltet, und sitzend im Kreis werden die Bilder und die darauf dargestellten Erlebnisse der Stunde reflektiert. Die Unsicherheiten können benannt und geteilt werden. Im gemeinsamen Austausch entstehen Stabilität und Bewusstsein für das eigene affektive Erleben sowie den emotionalen Ausdruck der anderen. Eine Teilnehmerin äußerte sich: „Ich hatte Angst, dass wenn das Licht wieder angeht, ich mein Bild voll blöd finde. Als das Licht wieder anging, war ich erstaunt, wie schön mein Bild geworden ist.“ Fazit Die Jugendphase ist ein weitreichendes Thema mit Querverbindungen zu vielen psychologischen, pädagogischen, soziologischen und therapeutischen Bezugswissenschaften. Die Wirkungsweisen der Tanztherapie mit ihren 74 2 | 2019 Maren Meinhold Methoden, Interventionen sowie ihrer Haltung dem Leben und dem Menschen gegenüber ermöglichen hier, den Jugendlichen in ihrer Vielfalt zu begegnen. Es gibt in der Begleitung von Menschen keinen Handlungsleitfaden, in dem der richtige Umgang nachgeschlagen werden kann. Für jeden Menschen, dem wir begegnen und den wir therapeutisch ein Stück seines Weges begleiten, müssen wir eine individuelle Therapie kreieren, den Menschen und sein Leben ganzheitlich wahrnehmen und immer wieder neue Methoden, Interventionen und Möglichkeiten finden, die zu der jeweiligen Situation und dem Menschen passen. So geht es in der Arbeit mit Jugendlichen in besonderen Lebenslagen und somit in deren Begleitung zum Erwachsenwerden weniger um besondere Interventionen und Methoden, sondern vielmehr um eine intensive Beziehungsarbeit, eine vertrauensvolle Basis, einen gut strukturierten Rahmen und viel Offenheit für die spezifischen, altersbedingten und biografischen Themen. Die Arbeit mit den Pflegeeltern sollte mehr Raum erhalten. Bei der ganzheitlichen Betrachtung der jungen Menschen spielt deren Lebenswelt eine wichtige Rolle. Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien sehen sich mit dem Umstand konfrontiert, sich quasi mit vier Elternteilen auseinandersetzen zu müssen. Dies erfordert Feinfühligkeit und viel Zeit in der individuellen Auseinandersetzung. Eine Idee wäre eine kombinierte Gruppenarbeit nicht nur für Pflegekinder, sondern auch für Pflegeeltern, um die spezifischen Belange wahrzunehmen und Schritt für Schritt gemeinsam zu bearbeiten. Bislang scheiterte dies an den Finanzierungsmöglichkeiten. Eine gute Mischung aus Fachtheorie, Methodenwissen, Selbstkompetenz, Selbstreflexion und Neugierde dem Menschen gegenüber ermöglicht es uns, Jugendliche in ihrem Übergang vom Kind zum Erwachsenen zu begleiten, alle wichtigen und individuellen Themen aufzunehmen und mit ihnen gemeinsam zu bearbeiten. Literatur Baer, U., Frick-Baer G. (2008): Leibbewegungen, Herzkreise und der Tanz der Würde. Methoden und Modelle der Tanz- und Bewegungstherapie. Affenkönig, Neukirchen-Vluyn Bender, S. (2014): Systemische Tanztherapie. Ernst Reinhardt Verlag, München Brazelton, T. B., Greenspan, S. I. (2002): Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern. Beltz, Weinheim Deutscher Bundestag (2013): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. 14. Kinder- und Jugendbericht. BMFSFJ, Berlin Eberhard-Kaechele, M. (2016): Mögliche Bewegungsmerkmale von Traumafolgen. körper-- tanz-- bewegung 4 (1), 17-28, https: / / doi. org/ 10.2378/ ktb2016.art03d Freud, A. (2012): Das Ich und die Abwehrmechanismen. 22. Aufl. Fischer, Frankfurt/ M. Gahleitner, S. B. (2013): „Ob man denen vertrauen kann …? “ Traumatisierte und sozial benachteiligte Jugendliche verstehen und erreichen. In: Trautmann-Voigt, S., Voigt, B.: Jugend heute. Zwischen Leistungsdruck und virtueller Freiheit. Psychosozial-Verlag, Gießen, 139-152 Garbe, E. (2015): Das kindliche Entwicklungstrauma. Verstehen und bewältigen. Klett-Cotta, Stuttgart Griebel, W. (2013): Brücken von der Kita in die Schule bauen sich nicht von selber-- die Rolle von naturwissenschaftlichem Verständnis beim Übergang. 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