eJournals körper tanz bewegung 7/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Forum: Zukunft geht nicht ohne Herkunft

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Ulrich Sollmann
Das Bemühen der Arbeitsgemeinschaft für Humanistische Psychotherapie (AGHPT) um Anerkennung als wissenschaftliches Verfahren trägt Züge eines Wettbewerbs zwischen zwei unterschiedlichen Paradigmata. Der hiermit verbundene wissenschaftliche Schlagabtausch ist weniger durch allgemeingültige, wissenschaftliche Kriterien gekennzeichnet, als durch eine (politische) Machtdynamik. Der vorliegende Beitrag spiegelt einige wesentliche Positionen in dieser Dynamik. Der Artikel erinnert zudem an den historischen Hintergrund der Entstehung des humanistisch-psychologischen Weltbilds und bezieht sich dabei auf die Entwicklung am Esalen-Institut und das Human-Growth-Movement. Der Bezug auf die spezifische Situation in der Deutschen Gesellschaft für Körperpsychotherapie (DGK) verdeutlicht die Notwendigkeit eines unterschiedlichen berufspolitischen Vorgehens, was aber stets auf der Grundlage eines humanistisch-psychologischen Weltbilds fußt.
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129 Forum: Debatte „Quo vadis Körperpsychotherapie“ körper-- tanz-- bewegung 7. Jg., S. 129-136 (2019) DOI 10.2378 / ktb2019.art19d © Ernst Reinhardt Verlag Zukunft geht nicht ohne Herkunft Kommentar zu Heft 1/ 2019 und Plädoyer für einen herausfordernden Diskurs zur Entwicklung von „sensed knowing“ zu „rational knowing“ im körperpsychotherapeutischen Feld Ulrich Sollmann Das Bemühen der Arbeitsgemeinschaft für Humanistische Psychotherapie (AGHPT) um Anerkennung als wissenschaftliches Verfahren trägt Züge eines Wettbewerbs zwischen zwei unterschiedlichen Paradigmata. Der hiermit verbundene wissenschaftliche Schlagabtausch ist weniger durch allgemeingültige, wissenschaftliche Kriterien gekennzeichnet, als durch eine (politische) Machtdynamik. Der vorliegende Beitrag spiegelt einige wesentliche Positionen in dieser Dynamik. Der Artikel erinnert zudem an den historischen Hintergrund der Entstehung des humanistisch-psychologischen Weltbilds und bezieht sich dabei auf die Entwicklung am Esalen-Institut und das Human-Growth-Movement. Der Bezug auf die spezifische Situation in der Deutschen Gesellschaft für Körperpsychotherapie (DGK) verdeutlicht die Notwendigkeit eines unterschiedlichen berufspolitischen Vorgehens, was aber stets auf der Grundlage eines humanistisch-psychologischen Weltbilds fußt. Schlüsselbegriffe Körperpsychotherapie, Humanistische Psychologie, Paradigmenwechsel, Macht, Ambiguitätstoleranz, Human Growth Movement No Future Without Origin. Comment to Issue 1 / 2019 and Plea for a Challenging Discourse on the Development from “Sensed Knowing” to “Rational Knowing” in the Body Psychotherapeutic Field The efforts of the Taskforce for Humanistic Psychotherapy (Arbeitsgemeinschaft für Humanistische Psychotherapie, AGHPT) to gain recognition as a scientific procedure show characteristics of a competition between two different paradigms. The associated scientific exchange of blows is characterized less by generally valid scientific criteria than by (political) power dynamics. This article reflects some of the key positions in this dynamic. The article also recalls the historical background of the emergence of the humanistic-psychological worldview and refers to developments at the Esalen Institute and the Human Growth Movement. The reference to the specific situation of the German Society for Body Psychotherapy (DGK) illustrates the necessity of a different professional politics approach, which, however, is always based on a humanistic-psychological world view. Key words body psychotherapy, humanistic psychology, paradigm shift, power, ambiguity tolerance, Human Growth Movement 130 3 | 2019 Ulrich Sollmann ● Fakt ist, dass der Antrag der Arbeitsgemeinschaft für Humanistische Psychotherapie (AGHPT) auf Anerkennung als wissenschaftliches Verfahren von einer deutschen offiziellen politischen Instanz abgewiesen wurde. ● Fakt ist, dass die AGHPT eine wissenschaftliche Community sowie deren Geisteshaltung und wissenschaftliche Kompetenz vertritt, die weltweit anerkannt ist. ● Fakt ist, dass die AGHPT auch eine soziale Bewegung ist mit Wurzeln, die zumindest bis in die späten 1950er Jahre zurückreichen. ● Fakt ist, dass man an der durch diese Community verkörperten Geisteshaltung, psychotherapeutischen Praxis und wissenschaftlichen Seriosität nicht mehr vorbei kann. ● Fakt ist schließlich auch, dass unzählige Menschen Vertreter dieser Community aufsuchen, um sich kompetent behandeln zu lassen. ● Und Fakt ist: Dies geschieht mit Erfolg. Wissenschaftlicher Schlagabtausch Im Heft 1 / 2019 der Zeitschrift körper-- tanz-- bewegung ging man unter dem Motto „Quo vadis Körperpsychotherapie? “ der Frage nach, wie die berufspolitische Entwicklung der Körperpsychotherapie (KPT) zu charakterisieren sei. Ausgelöst durch die Ablehnung des Antrags der AGHPT beim wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) ist eine heftige Diskussion um die Wissenschaftlichkeit von Körperpsychotherapie, aber auch um die wissenschaftliche Anerkennung der KPT sowie gesellschaftlicher, d. h. auch sozialrechtlicher Akzeptanz entbrannt. DER Kritiker hat das Wort Jürgen Kriz, selbst vor einigen Jahren Mitglied im WBP, kritisiert wesentliche Mängel des Gutachtens. Zu beanstanden seien die Kriterien von Wissenschaftlichkeit, die der Entscheidung des WBP zugrunde gelegt werden. Kriz ist der Auffassung, dass der WBP seine Wissenschaftskriterien selbst definiert habe, statt sich die wissenschaftliche Community anzuschauen und diese zur zentralen Richtschnur der eigenen Prüfung zu machen. Wissenschaft ist dann sozusagen selbstgestrickte, also parteiliche Wissenschaft. Kriz bemängelt ebenso zu Recht die Art der Kommunikation, die des fachlichen Diskurses, und beklagt die, man könnte sagen, wissenschaftlich-kollegiale Arroganz des WBP. Die im WBP vertretenen Richtungen (verhaltensorientierte und psychodynamische Verfahren) vertreten zudem nicht nur (ausschließlich) den Mainstream der akademischen und im universitären Raum angesiedelten Psychotherapie, sondern profitieren selbst praktisch, d. h. ökonomisch, auch von ihrer eigenen, durch die Politik ermöglichten Machtposition. Ganz nach dem Motto: Andere lassen wir nicht rein. Andere sollen nichts vom ökonomischen Kuchen abhaben. Oder: Wir wollen unter uns bleiben. Dies kommt einer eigenmächtigen, ausgrenzenden und diffamierenden Kollegialität gleich. Dies wiederum untergräbt den eigenen Anspruch des WBP auf Seriosität und „Meta- Kompetenz“ in der Rolle als gutachterliche Instanz. Macht macht Wissenschaft Thomas Fydrich als aktuelles Mitglied des WBP will durch seine Ausführungen zur inneren Logik des gesamten Verfahrens einen Kontrapunkt zu der Kritik von Kriz setzen. Fydrich betont die Unterscheidung psychotherapeutischer Interventionen in Technik, Methode und Verfahren, um als ein wesentliches Kriterium der wissenschaftlichen Lauterkeit die Forderung nach einer ausreichenden Anzahl empirischer Nachweise über die Wirksamkeit der Zukunft geht nicht ohne Herkunft 3 | 2019 131 jeweiligen Methode / des Verfahrens zu fordern. Die humanistischen Psychotherapie-Verfahren würden jedoch nicht die Kriterien für die wissenschaftliche Anerkennung erfüllen. Er geht dabei mit keiner Silbe auf die gesellschaftliche, politische Zuschreibung seiner eigenen, selbst bestimmten Machtposition ein- - und spart dies aus dem weiteren Diskurs aus, indem er das Thema der eigenen Machtposition schlichtweg übergeht und Einwände dagegen ignoriert. Fydrich weckt daher den Eindruck, als gäbe es eine absolute Wissenschaft mit allgemeingültigen Kriterien und Qualitätsstandards, die es grundsätzlich nicht zu hinterfragen gilt. Er konzediert, dass sie wohl ab und an neu überarbeitet werden müssten. Indem er sich auf die aktuelle Version 2.8 des Methodenpapiers bezieht, suggeriert er analog zu einem Kernelement der digitalen Welt, dass eine Version 2.8 eine Weiterentwicklung von vorausgegangenen Versionen sei. Wer kennt diese Art der Logik nicht aus seinem eigenen beruflichen und persönlichen Alltag? Freut man sich doch in der Regel, wenn eine im eigenen Gebrauch befindliche Software durch eine neue Version / Update weiterentwickelt wird und somit besser ist. Der WBP handelt insoweit logisch in seinem eigenen digitalen Denksystem, aber auch selbstgefällig aus seiner durch sich selbst nicht zu reflektierenden und zu hinterfragenden Machtposition. Eine solche Geisteshaltung korreliert nicht mit humanistischen Werten. Den Spiegel vorgehalten Marianne Eberhard-Kaechele diskutiert die Auswirkungen der Ablehnung des Antrags auf die berufspraktische und berufspolitische Situation von KörperpsychotherapeutInnen, sei es im klinischen Bereich, sei es in freier Praxis, mit Approbation, ohne Approbation bzw. mit der Erlaubnis zur Ausübung von Psychotherapie nach dem Heilpraktiker-Gesetz. Wissenschaftliche Entwicklung und berufspolitisches Überleben seien zwei Seiten der gleichen Medaille. Sie fordert daher für die Zukunft erstens ein gemeinsames Ausbildungscurriculum als Grundlage politischen Verhandelns, zweitens Grundlagenforschung und Wirksamkeitsnachweise, schließlich drittens die Akademisierung der Ausbildung von KPT. Eberhard-Kaechele weist deutlich auf den Unterschied zwischen approbierten und nichtapprobierten TherapeutInnen hin, ebenso auf die hierauf bezogene unterschiedliche politische Vertretung besagter Gruppen innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Körperpsychotherapie (DGK). Die Ablehnung des Antrags habe diesen Unterschied deutlich ins Bewusstsein aller gehoben. Sich dieser besonderen Situation zu stellen, könnte, so verstehe ich die Ausführungen Eberhard-Kaecheles, mehr berufspolitische Konkurrenz und Rivalität bzw. Neid zu Tage fördern. Diese hiermit verbundene emotionale Grundstimmung im Feld der KPT ist meines Erachtens ein nicht zu unterschätzender Faktor im aktuellen Geschehen um die Anerkennung der AGHPT, insbesondere der KPT, im gesellschaftlichen Raum. Geht es doch auch um die Ökonomie, d. h. die Teilhabe am Gesamtkuchen der Finanzierung durch die Krankenkassen. Und geht es doch auch um den Erhalt der eigenen Lebenssituation, der Sicherung des beruflichen Überlebens. Pragmatik und Heuristik als Alternative? Frank Röhricht wendet sich dem Thema insoweit zu, als er deutlich zwischen der berufspolitischen Situation und der inhaltlich-methodischen Verortung von KPT unterscheidet. Er fordert eine Überlegung dahingehend, KPT neu in die Psychotherapie-Landschaft einzuordnen. Dies erfolgt durch einen nachvollzieh- 132 3 | 2019 Ulrich Sollmann baren, aktualisierten und spezifizierten Bezug auf neuere, wissenschaftliche Erkenntnisse wie die Neurowissenschaft. Wird einer solchen Forderung nicht bereits nachgekommen, frage ich mich, und denke dabei an die Integration neuer Forschungsergebnisse aus Säuglingsforschung, Affektforschung usw. Zweitens durchdenkt er die Möglichkeit, ob, und wenn ja, wie sich KPT nicht auch im Rahmen der Richtlinien-Verfahren einordnen könnte bzw. sollte. Dies wirft natürlich eine Grundsatzfrage auf, inwieweit die KPT dann überhaupt noch humanistisch sei. Schließlich fordert er verstärkt die Entwicklung von wissenschaftlichem Nachwuchs im Bereich KPT. Röhricht scheint eine eher pragmatische bzw. heuristische Position zu vertreten, die mit den KollegInnen im Feld der KPT kollidieren könnte, die nämlich Sorge haben, die eigene Identität als KörperpsychotherapeutIn zu verlieren. Oder gar zentrale Werte und humanistische Ideale aufgeben zu müssen. Nicht nur über den Tellerrand, sondern auch über den Grenzzaun schauen Judith Biberstein schildert schließlich aus Sicht der Situation in der Schweiz, dass es auch anders gehen kann. Gibt es doch im Akkreditierungsverfahren, das zurzeit in der Schweiz praktiziert wird, ein anderes Wissenschaftsverständnis sowie eine andere Form / Verfahren der Akkreditierung / Auditierung. Dies hat in jüngster Vergangenheit zur teilweisen Anerkennung im Bereich humanistische Psychotherapie bzw. KPT geführt. Biberstein mahnt jedoch, sich nicht auf dem Erreichten auszuruhen-- weiß sie doch um die unvorhersehbare, fluide Entwicklung von Wissenschaft und Entwicklung von Macht im psychotherapeutischen Feld. Das zurzeit in der Schweiz favorisierte Modell der interkollegialen Überprüfung des jeweiligen Stands der Ausbildungsqualität durch wechselnde ExpertInnen bildet einen deutlichen Kontrast zum eher nicht-demokratischen Verfahren des WBP in Deutschland. Ulfried Geuter weist in seinem Vorwort zu Recht darauf hin, dass in der jetzigen Situation, wenn auch emotional nachvollziehbar, Empörung über die Ablehnung des WBP allein nicht ausreichen würde. Kann diese doch auch ein deutlicher Impuls / Anstoß sein, sich neu und anders im kollegialen, wissenschaftspraktischen Diskurs sowie im gesellschaftlichen Großraum der humanistischen Psychotherapie zu engagieren. Mit gesellschaftlichem Großraum ist der gesellschaftliche Raum gemeint, in dem es Interesse an der Körperperspektive im Allgemeinen (neues allgemeines Körperbewusstsein) und im Besonderen (Körperpsychotherapie) gibt. „Unde venis Körperpsychotherapie? “ Hieß es im Heft 1 / 2019 „Quo vadis Körperpsychotherapie? “, so möchte ich mich auch der Frage zuwenden: „Unde venis Körperpsychotherapie? “ (für die Nicht-Lateiner unter uns: „Woher kommt die Körperpsychotherapie? “). Die Entwicklung von (Körper-)Psychotherapie sowie die hiermit verbundene gesellschaftliche Rolle und Funktion entstehen nicht einfach so. Sie sind nicht die Erfindung einer Berufsgruppe oder einer gesellschaftlichen Population, sondern sind Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen, historischen Situation, die zu Beginn der Entwicklung vorherrschte. Ich möchte an dieser Stelle an die Entwicklung des Human-Growth / Potential-Movement (HGM) in den 1960er Jahren in Esalen in den USA erinnern (Esalen 2019). Das Esalen-Institut in Kalifornien ist ein Ort, der alle Sinne anspricht. Er lud und lädt ein, sich seiner eigenen Sinneserfahrung hinzugeben, im erlebten Miteinander als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Von Anfang an war Esalen ein Ort des persönlichen und gemeinsamen Lebens, Arbeitens, Zukunft geht nicht ohne Herkunft 3 | 2019 133 Studierens sowie Lernens. Das Leben dort wird- - heute noch- - verstanden als Bildung von Körper, Sinn und Emotion, aber auch als Experiment mit dem „nonverbalen Menschsein“ nach Aldous Huxley (2014). Das Esalen- Institut ist, man könnte fast sagen, Geburtshelfer für die humanistische Psychologie, auch der unterschiedlichen (körper-)psychotherapeutischen Schulen geworden. Die Wertlegung auf den Prozess der persönlichen Erfahrung, die Individualität des Erlebens sowie die gefühlte Gemeinsamkeit im Kreis anderer Menschen, solche Erfahrungen zu machen, prägte deren Ethik. Die dort entwickelten sogenannten Erfahrungsworkshops, Sensitivity-Trainings, eroberten bald weltweit diejenigen, die an Psychologie, Humanismus, bewusster Erfahrung und persönlicher Entwicklung, aber auch an gefühlt-gelebter Gemeinsamkeit interessiert waren. Später wurde auch explizit gesellschaftspolitisch oder auch international politisch gearbeitet. Ein z. B. 1979 begründetes sowjetisch-amerikanisches Austauschprogramm thematisierte Alternativen zu den feindseligen Beziehungen zwischen den Nationen, die sich damals noch im sogenannten Kalten Krieg gegenüberstanden. Die Wurzeln der Humanistischen Psychotherapie liegen dort. Was und wie wir als KörperpsychotherapeutInnen denken, fühlen, arbeiten und forschen, findet dort seinen wesentlichen Ursprung. Die von dort ausgehende Bewegung ist Quelle, Inspiration, Ort, sowie praktische und wissenschaftliche Orientierung für die Zukunft. Für unsere Zukunft. Humanistische Psychotherapie-- ein Paradigmenwechsel Man kann die gegenwärtige Zeit und heutige Debatte um wissenschaftliche Psychotherapie mit Thomas S. Kuhn (1976) als Beginn eines Paradigmenwechsels vergleichen. Kuhn beschreibt die Entwicklung der Wissenschaften als eine Abfolge von ruhigeren Phasen, die durch ein bestimmtes normatives Paradigma geprägt sind, und revolutionären Umbrüchen, die durch einen radikalen Paradigmenwechsel gekennzeichnet sind. Man kann die Haltung des WBP im Sinne des normativen Paradigmas verstehen, die Haltung der AGHPT als Ausdruck einer radikalen Umwälzung und hiermit verbundenen, grundsätzlichen Neuorientierung. Wie aber entstehen Paradigmata, und wie kommt es zu wissenschaftlichen Revolutionen? Forschung beginnt mit einer unkoordinierten, zufälligen Sammlung bloßer Fakten, wobei verschiedene Forscher, die mit den gleichen Phänomenen konfrontiert werden, diese verschieden beschreiben und interpretieren. Mit der Zeit jedoch bildet sich eine „pre-paradigmatic school“ heraus, die einen bestimmten Teil gesammelter und zu sammelnder Fakten favorisiert. Verschiedene vorparadigmatische Schulen wetteifern um Ansehen. Nach einem Konkurrenzkampf etabliert sich eine dieser Schulen und schafft ein Paradigma. Das Paradigma, das sich gegen das alte Paradigma durchsetzen kann, findet dabei Akzeptanz in der wissenschaftlichen Community. Die Akzeptanz fußt nicht primär auf einer Überzeugung, die von Fakten, Daten und Zahlen getragen ist. Sie ist vielmehr Ausdruck von kommunikativer Durchsetzungsstärke. Diese wiederum kann eher dann gelingen, wenn sie gleichzeitig den wissenschaftlichen Geist der Zeit spiegelt. Wenn ein Paradigma an Stärke und Anhängern gewinnt, schwindet die Bedeutung der anderen vorparadigmatischen Schulen. Paradigma bildet aus Gruppen Wissenschaftsdisziplinen, Gesellschaften, Institutionen und Fachzeitschriften. Ich verstehe die AGHPT vor dem Hintergrund der hier kurz skizzierten Entwicklung in einem solchen Licht, sozusagen als eine Community, die sich im Prozess des Entstehens eines neuen Paradigmas befindet. Das Human Growth Movement hat sich von Anfang an als gesellschaftliche Bewegung 134 3 | 2019 Ulrich Sollmann und politischen Ausdruck eines humanistischen Weltbilds verstanden. Die Bewegung verkörperte sich kreativ in einer völlig neuen Lebenspraxis, wobei das eigene Verhalten sowohl Selbstverwirklichung war als auch Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Einflussnahme. Damals hatten die Begründer vieler humanistisch-psychologischer Denk- und Praxisschulen in Esalen zu einem Wirkungskreis zusammengefunden, um sowohl ihre Methoden vorzustellen als auch kreativ gemeinsam zu entwickeln und als Bestandteil besagten humanistischen Bewusstseins wissenschaftspraktisch zu begründen. Dies geschah in einem Gemeinsamkeitsraum, einem Raum gemeinsamen Erlebens, Verwerfens, Entwickelns, fruchtbaren Reibens und wissenschaftlicher Festigung. Die hiermit verknüpfte erlebte und gelebte Überzeugung breitete sich rasant in Nordamerika und Europa aus. Sie war weniger am herkömmlichen Wissenschaftsdiskurs interessiert bzw. einer wissenschaftstheoretischen Abgrenzung. Man lebte, man erlebte, man handelte. Man publizierte, und man wuchs, im wahrsten Sinne des Wortes, sowohl persönlich als auch als Community / Bewegung. Jede der in Esalen bzw. im Human-Growth- Movement vertretenen psychologischen Denkschulen und therapeutischen Praxisschulen hatte ein „gutes Auskommen“, eine Selbstberechtigung sowie Akzeptanz im bunten Spektrum des Angebots. Heute spiegelt sich diese Vielfalt der (oftmals recht kleinen) körperpsychotherapeutischen Schulen in der Deutschen Gesellschaft für Körperpsychotherapie (DGK). Einige der Schulen haben eine größere Popularität und wissenschaftspraktische Bedeutung erlangt, wie z. B. die Bioenergetische Analyse, Biodynamik usw. Viele der kleineren Schulen leiden unter Nachwuchsmangel. Sie besitzen, man könnte fast sagen, eine eher familienähnliche (Überlebens-) Struktur. Die größeren Schulen nehmen jeweils individuell teil am therapietheoretischen, konzeptionellen und / oder wissenschaftlichen Diskurs. Die DGK hat es im Rahmen der Mitgliedschaft in der AGHPT geschafft, dass man innerhalb der DGK trotz der hohen Vielfalt, aber auch Konkurrenz gemeinsame curriculare Bedingungen vorfindet. Doch kann dieser Umstand nicht über die vielfach vorhandene, implizite oder auch ausgesprochene Sorge hinwegtäuschen, dass gerade die VertreterInnen der kleineren Schulen ihre spezifische Schulen-Identität aufgeben (müssen). Hinzu kommen besagte Rivalität, Konkurrenz und Machtdynamik. Dieses Geschehen ist vor dem Hintergrund des Kuhn’schen Modells von paradigmatischer Entwicklung nicht überraschend-- ist es doch sozusagen ein notwendiges Durchgangsstadium und sollte daher nicht unbedingt zur Verzweiflung führen. Die DGK vertritt zudem Berufsgruppen mit sehr unterschiedlicher, gesellschaftlicher Akzeptanz, wie z. B. die psychologischen PsychotherapeutInnen, die nach dem Heilpraktiker-Gesetz anerkannten psychotherapeutisch Tätigen sowie diejenigen, die in Kliniken eingebunden sind. Ganz zu schweigen von denjenigen, die weder institutionelle Akzeptanz, noch rechtliche Anerkennung haben, die also in freier Praxis arbeiten. Die Quadratur des Kreises für die DGK Es scheint mir, als würde die DGK, d. h. der körperpsychotherapeutische Ansatz innerhalb der AGHPT, eine besondere Konstellation darstellen. Dieser genügend Rechnung zu tragen, ist berufspolitisch gewiss eine enorme Herausforderung, ein Drahtseilakt, eine nicht einfach zu handhabende, ambivalente Gemengelage. Jeder will Teilhabe an der gesellschaftspolitischen Einflussnahme haben. Aber wie kann dies geschehen, wie kann den ganz unterschiedlichen Interessengruppen, Identifikationen und Lebensentwürfen genügend Rechnung getragen werden? Zukunft geht nicht ohne Herkunft 3 | 2019 135 Die Ablehnung des Antrags der AGHPT beim WBP wirft die VertreterInnen der unterschiedlichen KPT-Schulen jeweils auf sich selber zurück bzw. auf die DGK als die organisationale Klammer. So muss sie die unterschiedlichen Formen und Räume von Verberuflichung bzw. Professionalisierung ausgewogen genug, aber auch konkret parteilich genug und mit den hiermit verbundenen unterschiedlichen Interessenlagen nach außen vertreten. Zentrale unterschiedliche Räume von Verberuflichung sind z. B.: ● Die approbierten psychologischen PsychotherapeutInnen (eventuell mit sozialrechtlicher Anerkennung) ● Die im klinischen Kontext arbeitenden KörperpsychotherapeutInnen ● Die körperpsychotherapeutisch nach dem Heilpraktiker-Gesetz tätigen KollegInnen ● Die in freier Praxis ohne spezielle psychotherapeutisch-rechtliche Anerkennung arbeitenden KollegInnen, die dann ihrer Tätigkeit zumeist eine andere Bezeichnung geben aus Sorge, sie würden gegen geltendes Recht verstoßen (wie z. B. psychotherapeutische Beratung, Lebensberatung usw.) ● Dann gibt es die Unterscheidung zwischen den praktisch tätigen PsychotherapeutInnen und den in der Aus- und Weiterbildung tätigen KollegInnen. ● Zu berücksichtigen ist natürlich auch der Unterschied zwischen Vollzeit-KörperpsychotherapeutInnen und denen, die einen anderen Broterwerb haben und zusätzlich, in welchem Umfang auch immer, körperpsychotherapeutisch tätig sind. ● Ferner ist da noch die Unterscheidung zwischen therapeutisch tätigen KörperpsychotherapeutInnen und denen, die gestützt auf eine körperpsychotherapeutische Ausbildung im nicht-therapeutischen Kontext arbeiten. ● Schließlich gibt es noch die Gruppe der im universitären Kontext ausgebildeten KörperpsychotherapeutInnen (vgl. Universität Marburg). Die DGK wird all diesen sehr unterschiedlichen Interessen nicht gleichzeitig gerecht werden können: hat man doch einerseits (ich denke dabei an die offiziellen Vertreter bzw. Funktionäre der DGK) nur beschränkte Ressourcen, und ist es doch andererseits auch gerade für diejenigen notwendig, die sich unterrepräsentiert erleben, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, um sich an der Vertretung der eigenen Interessen zu beteiligen. Hierfür sind natürlich persönliche Vertretungsbereitschaft sowie politische Vertretungskompetenz notwendig. Oftmals mangelt es aber an der Übernahme einer derartigen Vertretungsfunktion. Epilog Noch einmal zurück zum Blick auf den Prozess der paradigmatischen Entwicklung. Diese entsteht nicht einfach aus dem Nichts. Neue Theorien (wie sie z. B. durch die AGHPT vertreten werden) werden dann entwickelt, wenn die Rätsel der normalen Wissenschaft nicht mehr so gelöst werden können, wie sie sollten. Ich verstehe die Haltung des WBP als Ausdruck einer solchen (beginnenden? ) Krise im psychotherapeutischen Raum. Noch einmal zurück zur Historie der Wurzeln und zur Entwicklung von humanistischpsychologischer Praxis sowie vom Human- Growth-Movement. Erinnern möchte ich an einen wesentlichen Aspekt, nämlich den der Selbst-Definition, eine Lebensbewegung zu sein, diese aktiv zu verkörpern und als solche zu kommunizieren. Vorrangig war damals nicht die Beteiligung an einem wissenschaftspraktischen und wissenschaftstheoretischen Diskurs, sondern die Selbstverwirklichung als Prinzip der eigenen Lebensgestaltung, der Gestaltung von Gemeinschaften sowie gesell- 136 3 | 2019 Ulrich Sollmann schaftspolitischer Einflussnahme. Meines Erachtens befinden wir uns mittendrin in diesem Entwicklungsprozess, nämlich der Entwicklung eines neuen psychotherapeutischen Paradigmas. Ich will nicht das Motto „Eile mit Weile“ predigen, sondern daran erinnern, dass wir Teil einer Entwicklung sind, die ganz im Sinne des alten chinesischen Sprichworts „Don’t push the river, it flows by itself“ zu verstehen ist (Artress 2006, 92). Es bedarf aber auch einer gehörigen Portion Mut und Selbstvertrauen in eine offene, noch unbekannte Zukunft. Dies könnte der Kompetenz zur Ambiguitätstoleranz entsprechen, die die Fähigkeit meint, Spannung in der Schwebe halten zu können. Fakt ist (ganz im Sinne der chinesischen Tradition, auf die man sich im Human Growth Movement gerne bezieht), dass der Weg das Ziel ist. Literatur Artress, L. (2006): Walking on a sacred path. Rediscovering the labyrinth as a spiritual practice. Penguin, London Esalen (2019): Homepage. In: www.esalen.org (5.4.2019) Huxley, A. (2014): Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft. Fischer, Frankfurt/ M. Kuhn, T. (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Dipl. rer. soc. Ulrich Sollmann Körperpsychotherapeut in Bochum, Coach / Berater in Wirtschaft und Politik, Gast-Professor (Shanghai University of Political Science and Law), Vortrags- und Lehrtätigkeit, Buchautor, Publizist, Blogger und Kolumnist. ✉ Dipl. rer. soc. Ulrich Sollmann Höfestr. 87 | D-44801 Bochum info@sollmann-online.de