körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Stichwort: Achtsamkeit
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Ulfried Geuter
Der Begriff der Achtsamkeit hat die Psychotherapie in jüngerer Zeit überschwemmt wie kaum ein anderer (Geuter 2016). In der kognitiv-behavioralen Therapie sind Achtsamkeit und Akzeptanz seit Anfang des Jahrtausends zu dem Thema geworden (Heidenreich / Michalak 2006). Achtsamkeit wird dabei durchweg als ein Konzept der buddhistischen Philosophie dargestellt. Dort steht das Wort Sati für Aufmerksamkeit, Bewusstheit oder Achtsamkeit. Der Buddhismus lehrt, von den Dingen und den eigenen Gefühlen zurückzutreten und meditativ das Kommen und Gehen geistiger Inhalte zu beobachten, statt ihnen nachzugeben. Im Daoismus gibt es das Prinzip des Tuns durch bewusstes Nicht-Tun, Wu-Wei genannt. Hier verändert man etwas, indem man sich konzentriert und es nicht durch Handeln zu verändern sucht. Der Verhaltensmediziner Kabat-Zinn (1999) lässt auf diese Weise PatientInnen mit Herzerkrankungen, Schmerzen oder Ängsten meditieren und eine Haltung des achtsamen Beobachtens einüben. Seine Methode nennt er Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). [...]
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137 körper-- tanz-- bewegung 7. Jg., S. 137-140 (2019) DOI 10.2378 / ktb2019.art20d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Stichwort Stichwort: Achtsamkeit Mindfulness ist Bodyfulness Ulfried Geuter D er Begriff der Achtsamkeit hat die Psychotherapie in jüngerer Zeit überschwemmt wie kaum ein anderer (Geuter 2016). In der kognitiv-behavioralen Therapie sind Achtsamkeit und Akzeptanz seit Anfang des Jahrtausends zu dem Thema geworden (Heidenreich / Michalak 2006). Achtsamkeit wird dabei durchweg als ein Konzept der buddhistischen Philosophie dargestellt. Dort steht das Wort Sati für Aufmerksamkeit, Bewusstheit oder Achtsamkeit. Der Buddhismus lehrt, von den Dingen und den eigenen Gefühlen zurückzutreten und meditativ das Kommen und Gehen geistiger Inhalte zu beobachten, statt ihnen nachzugeben. Im Daoismus gibt es das Prinzip des Tuns durch bewusstes Nicht-Tun, Wu-Wei genannt. Hier verändert man etwas, indem man sich konzentriert und es nicht durch Handeln zu verändern sucht. Der Verhaltensmediziner Kabat-Zinn (1999) lässt auf diese Weise PatientInnen mit Herzerkrankungen, Schmerzen oder Ängsten meditieren und eine Haltung des achtsamen Beobachtens einüben. Seine Methode nennt er Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). Oft wird Achtsamkeit allein als eine geistige Einstellung verstanden, wie es der Begriff mindfulness nahelegt. Aber schon für die kognitive Therapie halten Michalak et al. (2012, 190) fest, „alle Achtsamkeitsübungen“ beruhten darauf, „die Aufmerksamkeit für den eigenen Körper zu entwickeln und zu erweitern“. So wundert es nicht, dass in der Körperpsychotherapie Kurtz (1986, 1994) schon in den 1970er Jahren in seiner Schule des Hakomi die Achtsamkeit ins Zentrum der Therapie rückte. Unter Rückgriff auf die buddhistische Philosophie bezeichnete er sie als eine Meditation mit Beistand durch einen anderen. Der Therapeut sollte dem Patienten helfen, sein Innenleben achtsam und ohne zu werten zu erkunden. Die Haltung der Achtsamkeit sollte auch den Therapeuten leiten, der von Moment zu Moment in einem tracking genannten Prozess die körperlichen Anzeichen des inneren Erlebens beim Patienten beobachtet. Weder Therapeut noch Klient sollten aktiv nach Lösungen streben, sondern Lösungen aus einem Prozess des inneren Beobachtens entstehen lassen. Harrer und Weiss (2016) nennen das eine achtsamkeitszentrierte Psychotherapie im Unterschied zu achtsamkeitsbasierten Methoden wie MBSR. In der neuen Achtsamkeitswelle wird die europäische Tradition kaum zur Kenntnis genommen. Zenon, der Begründer der Stoa, vertrat im 3. Jahrhundert v. Chr. das Ideal der Gelassenheit, der Apatheia. Der antike Philosoph Epikur wollte Lebensfreude in der Ruhe von Körper und Seele gewinnen. Bis hin zu Kaiser Marc Aurel lehrte die stoische Philosophie, sich selbst zu beobachten und durch Aufmerksamkeit für das eigene Tun und Lassen von Leidenschaften und Affekten frei zu werden. In der neuzeitlichen Philosophie lehrte Husserl, dass Spüren bedeute, sich des Leibes für das Bewusstsein gewahr zu werden (Böhme 2003). 138 3 | 2019 Ulfried Geuter In diesem Geist vertrat die Körperlehrerin Elsa Gindler in einem Vortrag von 1931, man solle sich selbst gegenüber „forschend und interessiert“ verhalten und Zustandsveränderungen im Organismus bewusst verfolgen (Ludwig 2002, 110 f ). Spannungen im Körper wollte sie nicht lösen, indem man an der Spannung arbeitet, sondern indem man aufmerksam beobachtet, wie man sie herstellt. So könnte die Spannung sich von innen her selbst lösen. Gindler unterrichtete die Methode der Körperreise, bei der man den Körper in allen seinen Teilen mit wacher Aufmerksamkeit von innen wahrnehmend geistig abtastet. Mit dem Sensory Awareness von Selver gelangte ihre Methode aufmerksamer Selbstbeobachtung in die US-amerikanische Psychotherapie. Selver verknüpfte sie schon in den 1950er Jahren mit Gedanken des Zen-Buddhismus. Kabat-Zinn führt die Körperreise mit einer Metapher der medizinischen Moderne unter dem Namen Body Scan fort. Perls übernahm von Selver für die Gestalttherapie das Konzept der Aufmerksamkeit und schuf damit für die Humanistische Psychotherapie eine Arbeitsweise, die nicht muskuläre Spannungen des Körpers willentlich verstärkt, sondern sie auf dem Weg einer Konzentration in den Blick nimmt (Geuter 2015, 50). Wie Husserl von einem Erlebnisstrom sprach Perls von einem Aufmerksamkeitsstrom, in dem Psychotherapie erfolgen solle. Die Begriffe Aufmerksamkeit (awareness) und Achtsamkeit (mindfulness) lassen sich nur schwer voneinander trennen. Achtsamkeit wird ohnehin vielfach so definiert, dass man die Aufmerksamkeit auf körperliche und geistige Prozesse richtet (Heidenreich / Michalak 2003, 264; Johanson 2006, 178; Weiss et al. 2010, 19). In der Meditation, ein Bestandteil achtsamkeitsbasierter Therapieprogramme, übt man, die Aufmerksamkeit zu richten und Wahrnehmungen wertfrei zu beobachten. Insofern kann man auch von einer Praktik der Achtsamkeit sprechen, nicht nur von einer Haltung. Selver bezeichnete Sensory Awareness als eine der Meditation vergleichbare Praktik (Brooks 1986, 14). Achtsamkeit ist aber nicht einfach ein mentales Training, wie sie leider auch verstanden wird (Bishop et al. 2004). Sie ist ein ganzheitlicher Prozess des inneren Beobachtens, zu dem das Gewahrsein des eigenen Körpers notwendig dazugehört, was Fogel (2013) „verkörperte Selbstwahrnehmung“ nennt. Dieses Gewahrsein zu fördern, ist ein zentrales Prinzip körperpsychotherapeutischer Praxis (Geuter 2019). Gewahrsein kann sowohl helfen, von überbordenden Gefühlen oder Gedanken zurückzutreten, als auch dabei, inneres Wissen im Spüren zu erschließen (Huppertz 2015, 18). Die kognitive Psychotherapie, in deren Theorien psychische Vorgänge nicht als verkörpert begriffen werden, benutzt den englischen Begriff mindfulness. Dieser wird dem Verständnis der Achtsamkeit in den Traditionen asiatischer Philosophie nicht ganz gerecht. Hier hat Achtsamkeit mit Atmung, Körperhaltung oder Bewegung zu tun, aber nicht nur mit der Materialität des Körpers, sondern mit seiner inneren Aneignung in der Harmonie von Körper und Geist. Dem wird der Begriff bodyfulness mehr gerecht (Sugamura et al. 2006; Sugamura / Warren 2006). Bodyfulness meint im Unterschied zu mindfulness nicht nur, geistig aufmerksam für den Körper zu sein, sondern auch sinnlich im Körper zu sein. Dieses Verständnis von Achtsamkeit passt mehr zur Körperpsychotherapie als ein allein kognitives Verständnis. Dementsprechend spricht auch Caldwell (2014) von bodyfulness. Im Körper zu sein, sich mit seinen Empfindungen und Impulsen zu verbinden und diese gleichzeitig als etwas zu beobachten, das ich habe und nicht bin, ist eine wichtige Fähigkeit, die traumatisierte Patienten benötigen, um sich wieder wohler fühlen zu können. Inneres Beobachten hilft der Distanzierung und Desidentifizierung und damit der Affektregulation (Linehan 1996; Reddemann 2000). Bass (2014) bezeichnet es als therapeutische Dissoziation, Stichwort: Achtsamkeit 3 | 2019 139 wenn es gelingt, dass ein traumatisierter Patient als Beobachter von einem Geschehen zurücktritt und sich so vor einer Überflutung durch Erinnerungen bewahrt. Achtsamkeit fördert ein duales Bewusstsein, in dem man gleichzeitig etwas erlebt und dieses Erleben beobachtet (Weiss 2006). In der Rückfallprophylaxe bei Depressionen bedeutet eine Arbeit mit der Achtsamkeit, Gedanken als Gedanken und Gefühle als Gefühle zu identifizieren, die kommen und gehen können, sich ihrer gewahr zu sein und zu akzeptieren, dass sie da sind (Segal et al. 2008). Kabat-Zinn drückt das so aus: „Haben Sie schon einmal bemerkt, dass Ihr Gewahrsein der Furcht sich nicht fürchtet, wenn Sie sich fürchten? Oder dass Ihr Gewahrsein von Depression nicht deprimiert ist…? “ (Kabat-Zinn 2005, 100) In der Position des Beobachters wird das eigene Sein nicht von den Gedanken und Gefühlen übernommen. Der Weg der Achtsamkeit kann urteilsfreies Wahrnehmen unterstützen. Doch beinhaltet die neue Achtsamkeitswelle auch Gefahren: Bedürfnisse und Gefühle unter einem Achtsamkeitsgetue zuzudecken oder zu verleugnen, im Grübeln nicht auch die Kraft des Nachdenkens zu erkennen oder eine autistische Selbstzufriedenheit in einer Welt zu pflegen, mit der man eigentlich unzufrieden sein muss (Purser 2015). Achtsamkeit wird in der New Economy schon länger als Mittel zum produktiven Umgang mit Stress genutzt. Google bietet Achtsamkeitskurse für die gestressten Mitarbeiter an, damit sie konzentrierter, zufriedener und effizienter ihre Aufgaben bewältigen. In Deutschland hat SAP das Programm Search Inside Yourself übernommen. Achtsamkeit dient hier ganz offen auch der Profiterhöhung. Das ist aber nicht der einzige Einsatz entsprechender Trainings. Im Mind Fitness Training Institute in Washington wird achtsamkeitsbasierte Stressregulation gar für Agenten und Militärs unterrichtet, um sie für Einsätze besser tauglich zu machen (Chisholm 2015). In der Psychotherapie gewinnt daher Achtsamkeit ihren Wert nur im Rahmen einer Ethik des Handelns, die sich am Wohl des Patienten und seiner Mitwelt und an der Verringerung von Leid orientiert (Grossman / Reddemann 2016). Literatur Bass, G. (2014): Sweet are the uses of adversity: psychic integration through body-centered work. In: Anderson, F. S. (Hrsg.): Bodies in treatment. The unspoken dimension. Routledge, New York, 151-167 Bishop, S. R., Lau, M., Shapiro, S., Carlson, L., Anderson, N. D., Carmody, J., Segal, Z. V., Abbey, S., Speca, M., Velting, D., Devins, G. (2004): Mindfulness: a proposed operational definition. Clinical Psychology: Science and Practice 11, 230-241, https: / / doi.org/ 10.1093/ clipsy.bph077 Böhme, G. (2003): Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht. Die graue Edition, Kusterdingen Brooks, C. V. W. (1986): Erleben durch die Sinne. Sensory Awareness. Junfermann, Paderborn Caldwell, C. (2014): Mindfulness & bodyfulness: A new paradigm. The Journal of Contemplative Inquiry 1, 77-96 Chisholm, R. J. (2015): Mindfulness now. Self & Society 43, 30-34, https: / / doi.org/ 10.1080/ 0306 0497.2015.1018689 Fogel, A. (2013): Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart (engl. 2009: The psychophysiology of self-awareness. 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(2002): Elsa Gindler-- von ihrem Leben und Wirken. „Wahrnehmen, was wir empfinden“. Hans Christians, Hamburg Hachmeier, C. (2018): Mastering digital transformation with mindfulness. In: news.sap. com/ 2018/ 09/ mindfulness-training-masterdigital-transformation (5.3.2019) Michalak, J., Burg, J., Heidenreich, T. (2012): Don’t forget your body: mindfulness, embodiment, and the treatment of depression. Mindfulness 3, 190-199 Purser, R. E. (2015): Confessions of a mind-wandering MBSR student: Remembering social amnesia. Self & Society 43, 6-14, https: / / doi.org/ 10. 1080/ 03060497.2015.1018668 Reddemann, L. (2000): Angst. In: Bronisch, T., Bohus, M., Dose, M., Reddemann, L., Unckel, C. (Hrsg.): Krisenintervention bei Persönlichkeitsstörungen. Pfeiffer, Stuttgart, 122-144 Segal, Z. V., Williams, J. M. G., Teasdale, J. D. (2008): Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie der Depression. Ein neuer Ansatz zur Rückfallprävention. dgvt-Verlag, Tübingen Sugamura, G., Haruki, Y., Koshikawa, F. (2006): Mindfulness and bodyfulness in the practices of meditation: A comparison of Western and Eastern theories of mind-body. Poster presented at the 1st convention of the Asian Psychological Association, Bali, Indonesien Sugamura, G., Warren, E. S. (2006): Conjoining paradigms: A dissolution-oriented approach to psychotherapy. In: Kwee, M. G. T., Gergen, K. J., Koshikawa, F. (Hrsg.): Horizons in Buddhist psychology: Practice, research and theory. Taos Institute, Chagrin Falls, 379-397 Weiss, H. (2006): Bewusstsein, Gewahrsein und Achtsamkeit. In: Marlock, G., Weiss, H. (Hrsg.): Handbuch der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 406-413 Weiss, H., Harrer, M. E., Dietz, T. (2010): Das Achtsamkeitsbuch. Klett Cotta, Stuttgart Prof. Dr. Ulfried Geuter Psychologischer Psychotherapeut in Berlin, Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut, a. pl. Prof. im Masterstudiengang Motologie der Universität Marburg, Studienschwerpunkt Körperpsychotherapie. Lehrtherapeut, Lehranalytiker und Dozent in der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung. ✉ Prof. Dr. Ulfried Geuter Otto-von-Wollank-Str. 57 | D-14089 Berlin u.geuter@gmx.de
