körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aus der Einengung in die Begegnung
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Ingrid Braunbarth
Klara Kreidner-Salashour
Ängste und Stress engen uns ein, begrenzen neue Erfahrungen. Ein Praxis-Beispiel für ein Gruppenangebot der Integrativen Bewegungstherapie (IBT) zeigt Möglichkeiten zum Erforschen: Wie finden wir den Kontakt zu uns selbst? Was trennt uns von uns selbst – welche Gefühle, Konstrukte, idealisierte Selbstdefinitionen oder Unachtsamkeit und zu starke Fokussierung nach außen? Wie öffnen wir unsere Einengungen und lassen uns ein auf Begegnungen mit anderen und der Welt? Wie transformieren wir Angst und Stress zu Offenheit und Neugierde? Wie können wir gleichzeitig verbunden sein mit uns selbst, den anderen und der Situation? In leiblichen und zwischenleiblichen Experimenten werden Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis angeregt. Mit Zwischenleiblichkeit wird Bezug genommen auf ein theoretisches Konzept der IBT.
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Forum: Aus der Praxis 160 körper-- tanz-- bewegung 7. Jg., S. 160-168 (2019) DOI 10.2378 / ktb2019.art25d © Ernst Reinhardt Verlag Aus der Einengung in die Begegnung Ingrid Braunbarth, Klara Kreidner-Salahshour Ängste und Stress engen uns ein, begrenzen neue Erfahrungen. Ein Praxis- Beispiel für ein Gruppenangebot der Integrativen Bewegungstherapie (IBT) zeigt Möglichkeiten zum Erforschen: Wie finden wir den Kontakt zu uns selbst? Was trennt uns von uns selbst-- welche Gefühle, Konstrukte, idealisierte Selbstdefinitionen oder Unachtsamkeit und zu starke Fokussierung nach außen? Wie öffnen wir unsere Einengungen und lassen uns ein auf Begegnungen mit anderen und der Welt? Wie transformieren wir Angst und Stress zu Offenheit und Neugierde? Wie können wir gleichzeitig verbunden sein mit uns selbst, den anderen und der Situation? In leiblichen und zwischenleiblichen Experimenten werden Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis angeregt. Mit Zwischenleiblichkeit wird Bezug genommen auf ein theoretisches Konzept der IBT. Schlüsselbegriffe Integrative Leib- und Bewegungstherapie, Grenzen, Einengung, Begegnung, Zwischenleiblichkeit, Flow, Komplexes Lernen From Restriction to Encounter Fears and stress restrict us and limit new experiences. A practical example of group work in Integrative Movement Therapy (IBT) points towards opportunities for research: How do we connect to ourselves? What separates us from ourselves-- which feelings, constructs, idealized self-definitions or inattentiveness and externally directed focusing? How do we loosen our restrictions, and how do we engage in encounters with others and the world? How do we transform fear and stress into openness and curiosity? How can we be connected to ourselves, others and the situation at the same time? Self-perception and self-knowledge are stimulated in bodily and inter-personal experiments. “Embodied communication” refers to a theoretical concept of IBT. Key words integrative body and movement therapy, boundaries, restriction, encounter, embodied communication, flow, complex learning Herausforderungen der postmodernen Gesellschaft A uf dem 16. europäischen Kongress für Körperpsychotherapie 2018 in Berlin zum Thema „Entfremdung, Vitalität, Flow“ wurden die großen Herausforderungen deutlich, die die postmoderne Gesellschaft an uns stellt. U.a. kommt es zu negativen Grenzüberschreitungen im Sinne von Überlastung und Überforderung, denn heute scheint alles möglich und machbar. Selbstoptimierung ist gefragt. Durch die neuen Medien und die virtuelle Welt können wir von Reizen überflutet werden. Stuppigia (2018) stellte dar, dass die zunehmende Geschwindigkeit von Interaktionen- - z. B. im Internet- - die Erfahrungen von Raum Aus der Einengung in die Begegnung 4 | 2019 161 und Zeit verändert und ein abstrakteres gedankliches Niveau fördert. Das wirke sich nachteilig auf die Integration von körperlichen und geistigen Prozessen aus, verändere die Beziehung zur Realität und zu anderen Menschen. In der Folge treten dissoziative Prozesse vermehrt in den Vordergrund. Stupiggia berichtete aber auch, dass die virtuelle Ebene es erleichtern kann, sich überhaupt auf Begegnungen einzulassen, wenn dies auf realer Ebene aufgrund von Traumata und Ängsten eingeschränkt ist. Insgesamt hat unser Leben deutlich an Geschwindigkeit zugenommen (Rosa 2010). Im häufig hektischen Alltag vernachlässigen wir unsere Selbstwahrnehmung- - im Sinne von Erfahren und Erleben (Geuter 2015)- - als Grundlage für Selbstfürsorge entsprechend eines bewussten förderlichen Umgangs mit den Grenzen unserer Belastbarkeit. Selbstüberforderung durch zu hohe Betriebsamkeit überlagert oft in tieferen Schichten verborgene Ängste, latente Depressionen sowie fehlenden Kontakt zu sich selbst. Dies wird in der Krankheit sichtbar und zeigt sich zunächst als Erschöpfung, zeitextendiert dann häufig als Burn-Out, Depression und Angststörungen. Als unwillkürlicher Ausgleich kann dann ein Rückzug aus der Welt der Anforderungen geschehen, oft gepaart mit Antriebslosigkeit. Die Einengung, das Verschließen der Sinne, ist eine Antwort auf Überforderung und Entfremdung von sich selbst. Dies kann als Selbstschutz verstanden werden, um zu regenerieren oder zu überleben. Diesen Sinn erkennen Betroffene manchmal im Nachhinein und können sich vornehmen, bewusst aktiv für sich zu sorgen und Grenzen zu setzen. Neben den von Spitzer (2012) beschriebenen negativen Folgen der Digitalisierung ist das oft verstärkte Entfremdungserleben vom eigenen Körper mangels Grounding zu erwähnen, was in der körperorientierten Psychotherapie ein wichtiges Arbeits- / Bezugsfeld ist. Auch stellt sich die Frage, ob diese Entfremdung vom körperlichen Erleben eine Folge der Digitalisierung ist oder ob hier einem romantisch idealisierten Körperbild nachgetrauert wird- - siehe Schippberges in seiner historischen Analyse von Körperwahrnehmungen seit der Antike (1986, 133 ff ). Als aktuelle Phase der soziokulturellen Evolution tritt „der Aufstieg der Netzwerk-Gesellschaft“ in Erscheinung, „des postmodernen, aperspektivischen, im Internet verbundenen globalen Dorfes. Evolution in allen Formen hat begonnen, sich ihrer selbst bewusst zu werden (…), beginnt auf einer kollektiveren Ebene zu erwachen.“ (Wilber 2016, 215) Einengungen als Folge von Entfremdung, Ängsten und Stress begrenzen uns in unserer Hinwendung zu neuen Erfahrungen. So fühlen wir uns innerhalb unserer Grenzen zwar geschützt, doch gleichzeitig entfremden wir uns von der möglichen Vielfalt unseres sinnlichen Erlebens. Dies ist auch der Zustand von „cognitive overload“ (siehe Lerntheorien), nur ausgedehnt auf das ganze Leben. Es fällt uns häufig schwer, uns für Begegnungen mit anderen zu öffnen und ganz darauf einzulassen (Braunbarth 2013). Workshop: Aus der Einengung in die Begegnung Wir haben auf dem Kongress in Berlin den Workshop „Aus der Einengung in den Flow der Begegnung“ angeboten, um ein Praxisbeispiel für ein Gruppenangebot der Integrativen Bewegungstherapie (IBT) zu geben. Hier konnte ausprobiert werden, wie man auf unterschiedlichen Wegen aus dem sicheren Rückzug hin zu einem lustvollen Miteinander im Rahmen einer Gruppe kommt-- ob als Angrenzung (Petzold 2017) oder als „Beziehung (…) im Aushandeln von Grenzen und Positionen“ (Petzold 2012). Erst dann, wenn ich ein Gespür für mich selbst habe, kann ich mich in den konstruktiven Außenbezug wagen. Hier setzte auch der 162 4 | 2019 Braunbarth, Kreidner-Salahshour ● Wie bist du heute hier/ auf diesem Kongress? ● Was hast du heute schon alles erlebt, aufgenommen, wahrgenommen? ● Wie bist du jetzt hier in diesem Raum? ● Wie ist der Kontakt deiner Füße zum Boden? ● Wo spürst du muskuläre Anspannungen im Körper? ● Wo nimmst du deine Atmung wahr? ● Wie fühlst du dich jetzt? Ausdruck des eigenleiblichen Empfindens Die weitere Arbeit im Stehen erfolgte unter folgenden Aufgaben: ● Drücke deine Befindlichkeit durch eine Körperhaltung aus. ● Verstärke deine wahrgenommene Einengung, um sie deutlicher zu fühlen. ● Finde einen Satz zu deiner aktuellen Befindlichkeit und schreibe ihn auf. ● Sensibilisierung für die eigenen Grenzen Grenzen zeigen sich u. a. als Grenzen von Kraft, Wahrnehmung, Möglichkeiten, Bereitschaft oder Toleranz. Im Sinne der Abwendung oder Abwehr ziehen, zeigen und verteidigen wir Grenzen. Wir grenzen uns ab, ein und andere aus, um uns zu schützen und sicher zu fühlen. Gleichzeitig begrenzen und engen wir uns dadurch ein. Wahrnehmen der eigenen Grenzen Die aufgeführten Anregungen zielten darauf ab, dass die TeilnehmerInnen ihre eigenen Grenzen wahrnehmen, um sich dieser Grenzen bewusst zu werden. Taste, streiche oder klopfe deine Haut als physiologische Außengrenze ab. Richte dabei zunächst die Wahrnehmung darauf, dass die berührende Hand deine Haut als Außengrenze berührt. Richte dann die Wahrnehmung auf die durch die Stimulation erzeugten Empfindungen der Außengrenze deines Körpers. Lege eine Hand unterhalb des Bauchnabels mittig auf den Bauch und die andere entsprechend am Workshop an. Dieser enthielt folgende Schwerpunkte: ● Sensibilisierung der Selbstwahrnehmung ● Sensibilisierung für die eigenen Grenzen ● Positive leibliche Grenzerweiterung (Spielräume erkunden) ● Positive Grenzüberschreitungen zum sozialen Umfeld ● Reflexion ● Theoretischer Bezug Berger (2018) zielt mit ihrem Workshop „Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow“ über 10 Einheiten auf die Selbstregulation als Werkzeug für Stressprophylaxe ab (Berger 2014). Im Unterschied dazu haben wir unseren Workshop zum selben Thema für die TeilnehmerInnen des Kongresses entsprechend der Rahmenbedingungen für den Zeitraum von 90 Minuten konzipiert, um Fachleuten einen kompakten Einblick und Überblick zur Bewegungsarbeit zu geben, wie wir sie im klinischen Setting auf mehrere Therapieeinheiten verteilt anbieten. Sensibilisierung für die Selbstwahrnehmung Zum bewegten, aktivierenden Einstieg in das Thema sollte der schnelle Rhythmus eines Musikstückes ins Gehen umgesetzt werden. Unmittelbar erfasst Hektik den Raum, es gilt, Zusammenstößen mit anderen auszuweichen, Konfrontationen auszuhalten, schnelle Entscheidungen zu treffen. Das Tempo ist fremdgesteuert. In einem nächsten Schritt sollten die TeilnehmerInnen für die leibliche Selbstwahrnehmung sensibilisiert werden, um nach der Außenorientierung nun den Blick und das Gespür auf sich selbst zu richten. Über Impulsfragen wurden Wahrnehmung und Bewegung angeregt. Wahrnehmen und Erfassen des eigenleiblichen Empfindens Während des Gehens eigener Wege im Raum sollten die TeilnehmerInnen den Fokus ihrer Wahrnehmung auf folgende Aspekte richten: Aus der Einengung in die Begegnung 4 | 2019 163 unteren Rücken auf die gleiche Höhe. Richte deine Wahrnehmung auf den Raum zwischen deinen Händen. Nimm auch andere Bereiche deines Körpers zwischen deine Hände und richte deine Wahrnehmung auf den Raum zwischen deinen Händen. Spüre bewusst zu deinem inneren Raum und zu deiner Grenze hin. Fühlst du dich innerhalb deiner körperlichen Grenze wohl? Richte deine Wahrnehmung auf deine Körperhaltung. Nimmst du Bereiche deines Körpers wahr, die du anspannst-- z. B. deinen Schulterbereich? Erlebst du dich in dieser Körperhaltung geschützt oder eingeengt? Verstärke nun diese Körperhaltung und spüre, ob dein Schutz auch gleichzeitig eine Einengung ist. Überwiegt in deinem Selbsterleben der Rückzug oder die Einengung? Frage dich, ob du aus dieser Haltung heraus zu selbstbestimmtem, dynamischem Wechsel von Einengung und Weitung fähig wärst. Oder leidest du an der Erstarrung? Diese Fragen wurden im Workshop als Impulsfragen an die TeilnehmerInnen als Fachleute mit der Fähigkeit zur differenzierten Selbstwahrnehmung gestellt. In der Arbeit mit PatientInnen mit Schwierigkeiten der Selbstwahrnehmung sind an dieser Stelle ausführliche Reflexionen und ggf. Angebote zur Verstärkung der Wahrnehmung erforderlich. Positive leibliche Grenzerweiterung In der Bewegungsarbeit kann z. B. durch einen markierten, sicheren Raum oder gutes Grounding und gute Zentrierung Sicherheit erarbeitet werden. Ausreichende Sicherheit ermöglicht durch Interesse, Neugier, Offenheit und Hinwendung eine Angrenzung an die Welt außerhalb unserer sicheren Grenzen. Bei positiven Grenzüberschreitungen erweitere ich bewusst und selbstbestimmt meine eigene Grenze, z. B. im Sinne einer leiblichen Grenzerweiterung. ● Gib dir aus dem spürenden Dialog mit dir selbst Raum und überschreite deine Grenzen positiv. ● Auf der funktionalen Ebene: Welches Gelenk lässt sich wie bewegen? ● Auf der erlebnisorientierten Ebene: Was empfindest du im Bewegen? Welche Art der Bewegung brauchst du? ● Bewege zunächst die rechte Körperseite, vergleiche dann die rechte Seite mit der linken. ● Bewege danach deine linke Seite. ● Richte deine Aufmerksamkeit auf den begrenzten Innenraum deines Körpers. ● Erprobe deine Reichweite und nehme dir Raum. Probiere etwas Neues aus. ● Wie stehst du jetzt da? Positive Grenzüberschreitungen hin zum sozialen Umfeld Um eine sichere Basis für die Kontaktaufnahme zu schaffen, wird am eigenleiblichen Spüren festgehalten. Die Aufmerksamkeit pendelt zwischen innen und außen. Diese „doppelte“ Achtsamkeit fällt vielen schwer, deshalb dosieren wir die Kontaktaufnahme zu anderen zunächst niedrig. Im Gehen spüren wir uns selbst deutlicher, gleichzeitig richten wir uns aktiver auf die Umgebung. Der Kontakt zu anderen bleibt dabei noch flüchtig. Zu sich kommen und in vorübergehenden Blickkontakt gehen ● Geh umher, lass dich gehen, komm zu dir, richte deine Wahrnehmung auf dich, spüre deine Füße und den Boden- - deine untere Grenze. ● Spüre deine Bewegungen, wie gehst du, wie atmest du? ● Geh aus dir heraus, schau dich um, was siehst du? ● Wen siehst du im Vorübergehen? 164 4 | 2019 Braunbarth, Kreidner-Salahshour ● Spüre deine Füße, während du dich umschaust. ● Schau und fühle gleichzeitig deine Bewegungen und dein Atmen. ● Gibt es Blickkontakt? ● Wie fühlt sich das an? Wie reagierst du (Mimik, Spannung, Atmung)? ● Welche Bewegungsimpulse entstehen? ● Bleib stehen, komm wieder ganz zurück zu dir, indem du die Augen schließt, spüre nach. ● Vergleiche: Was verändert sich im Körpergefühl, wenn du die Augen schließt? ● Konntest du bei dir und gleichzeitig im Kontakt mit „draußen“ sein? Annäherung im Blickkontakt Blickkontakt ohne Reden ist ungewohnt und wirkt schnell intensiv. Selbstunsichere Menschen halten die entstehende Spannung kaum aus. Wir betonen deshalb das Pendeln der Aufmerksamkeit, um die evtl. stressige und anstrengende Begegnung „flüssiger“ werden zu lassen und Erstarrung im Bann des Blicks zu lösen. Die Workshop-TeilnehmerInnen beim Kongress hatten natürlich viel Erfahrung mit dieser Art direkter Begegnung, in therapeutischen Gruppen muss mit Blickkontaktübungen dagegen sehr sorgfältig umgegangen werden. Wenn es gelingt, sich selbst zu spüren und zu regulieren (Spannung und Atmung zu lösen), gelingt auch das Einlassen auf die Begegnung und die empathische Wahrnehmung des Gegenübers leichter. ● Möchtest du deinen Blick jemandem zuwenden? ● Entsteht ein Aufeinander-zu-Bewegen? ● Welche räumliche Nähe entsteht- - welche Distanz bleibt? Ist es für dich stimmig oder nicht? Woran merkst du das? ● Wie lange lässt du das zu / lässt die andere Person das zu? Abb. 1: Grenzen Aus der Einengung in die Begegnung 4 | 2019 165 ● Was spürst du von dir, wenn du im Blickkontakt bist? ● Was nimmst du beim Gegenüber wahr? ● Pendle zwischen eigenleiblichem Spüren und Wahrnehmen des Gegenübers. ● Was entwickelt sich zwischen euch? ● Wann spürst du das Bedürfnis, die Begegnung zu beenden? Wann willst du weitergehen? ● Wenn du dich aus dem Kontakt lösen willst, wozu? Um dich zu schützen? Oder weil es dir ausreicht und du neugierig auf anderes bist? Austausch ● Tausch dich mit dem Gegenüber aus: Was hast du mit dir und ihm erlebt? ● Wie ist es jetzt, wenn ihr miteinander sprecht? ● Welche Impulse in Bezug auf den anderen sind jetzt da? ● Wollt ihr euch gemeinsam bewegen? Euch synchronisieren und entsynchronisieren? ● Wollt ihr Materialien, z. B. Wollfäden, Tücher, Luftballons, Federn, nutzen? ● Wie wollt ihr sie nutzen? Offenheit für Gruppenerleben schaffen Die Begegnung zu zweit kann sich öffnen, andere zulassen und/ oder andere einbeziehen. Dafür wird die Aufmerksamkeit vom bisherigen Gegenüber etwas abgewendet. Das wird durch die Anleitung angeregt und „erlaubt“. Dabei entsteht ein weitwinkliges Schauen, eine periphere zwischenleibliche Wahrnehmung und Verständigung. ● Lass deinen Blick weiterwandern zu anderen um dich herum. ● Kann aus dem Blickkontakt eine Gestik, eine Bewegung der Annäherung werden? ● Kannst du den Kontakt zu deinem bisherigen Gegenüber halten oder wiederherstellen? ● Wie kannst du alle Beteiligten wahrnehmen, wie könnt ihr euch gleichzeitig selbstzentriert und zusammen bewegen? ● Entsteht eine gemeinsame Aktivität in Kleingruppen, vielleicht in der gesamten Gruppe? ● Lasst euch überraschen, was sich zwischen euch entwickelt. ● Geh mit deiner Aufmerksamkeit nun wieder zurück zu dir. ● Wie fühlst du dich jetzt? ● Finde einen Satz zu deiner Befindlichkeit und schreibe ihn auf. Zum Ausklang laden wir die TeilnehmerInnen zum „Schlendern“ im Rhythmus einer ruhigen Musik ein. Theoretischer Bezug Zwischenleiblichkeit Als theoretischen Bezugsrahmen für unsere Interventionen nutzen wir hier Aspekte von Zwischenleiblichkeit (Petzold 1996; Fuchs 2008): ● In leiblicher Kommunikation verknüpfen sich wechselseitige Wahrnehmung, Ausdrucksbewegung und Gefühlsempfindung. ● Muster des Umgangs mit sich, den Menschen und der Welt werden „einverleibt“, also im Leibgedächtnis gespeichert. ● Das zwischenleibliche Gedächtnis gestaltet als Möglichkeitsfeld die aktuellen Beziehungserfahrungen. ● Negative Erfahrungen erzeugen implizit negative Erwartungen und engen die gegenwärtige Wahrnehmung ein. ● Probleme entstehen in Zwischenleiblichkeit, zeigen sich dort und können in Zwischenleiblichkeit verändert werden, wenn wir uns für neue gute Erfahrungen öffnen. Dies ist ein wesentliches Konzept der Integrativen Therapie. Im zwischenleiblichen Miteinander zeigen sich Muster elementarer Bezogenheit und deren Blockaden in Form von Angst und Unachtsamkeit. In der Gruppenarbeit kann der Weg aus dem Rückzug hin zum 166 4 | 2019 Braunbarth, Kreidner-Salahshour Mitmenschen, zur Welt und wieder zurück zu sich selbst ausprobiert werden. In der Begegnung können sich Bewegungsmuster synchronisieren, was als stimmige Verständigung erlebt wird (Storch / Tschacher 2014). In der Begegnung kann Resonanz entstehen, auch im Sinne der Konfrontation mit der Fremdheit des Gegenübers. Sich zu öffnen ist nicht ohne Risiko (Rosa 2016). Flow Dieser Begriff war ein Schlüsselbegriff für den Kongress 2018. Wir nahmen im Titel unseres Workshops darauf Bezug. Flow (nach Csikszentmihaly 2008; Nakamura 2018) wird als beglückender Zustand von Vertiefung und Aufgehen in einer Tätigkeit, die wie von selbst geschieht, erlebt, z. B. beim Tanzen, Spielen, beim Extremklettern usw. Im Alltag, z. B. beim Arbeiten, ist Mikroflow möglich, der weniger intensiv und kürzer ist. Mikroflow ist auch erlebbar in direkter Begegnung und in körpersprachlicher Kommunikation, wenn die Bedingungen günstig sind, z. B.: ● wenn wir durch eigenleibliches Spüren in der Gegenwart geborgen sind ● wenn wir ein klares Ziel haben: uns selbst, die anderen und die Situation wahrzunehmen ● wenn wir klaren Regeln folgen: für uns selbst sorgen, eigene Grenzen respektieren ● wenn wir angemessen herausgefordert sind (zwischen Angst und Langeweile) ● wenn wir Autonomie und Kontrolle erleben, z. B. indem wir gute Bedingungen für uns schaffen ● wenn wir im Spielmodus sind: uns einlassen, uns überraschen lassen, ergebnisoffen werden ● wenn wir besorgte Distanz loslassen und von der Angst zur Neugier wechseln ● wenn wir uns nicht fragen: „Wie wirke ich? “ ● wenn wir erleben: „Hier bin ich, so wie ich jetzt bin! -- Und wie bist du? “ ● wenn wir die Einengung durch Gedanken, Erinnerungen und Erwartungen wahrnehmen und lösen können Solche günstigen Voraussetzungen für Mikroflow versuchten wir, im Workshop zu fördern. Flow in der Integrativen Therapie (IT) bzw. IBT geht dabei über das Flow-Konzept hinaus. So wurde in der Integrativen Therapie schon vor Csikszentmihalyis Flow-Konzept von „Conflux“ gesprochen, worunter das Zusammenfließen von Impulsen verstanden wird-- intrapsychisch im Mentalen, interpsychisch in Interaktionen von Gruppen (Petzold 1998). Komplexes Lernen Im Komplexen Lernen wird der Mensch als Ganzes angesprochen. Neuronale Erregungsmuster werden über Lernen auf der kognitiven, emotionalen, somatomotorischen, volitiven und sozialökologischen Leib-Ebene gekoppelt (Sieper/ Petzold 2002). Bei vorhandener Motivation und Volition bietet die bewegungsbezogene Gruppenarbeit eine sehr gute Möglichkeit, auf der Grundlage des bewussten eigenleiblichen Spürens neue intersubjektive Verhaltensweisen auszuprobieren und einzuüben, um Wege der Begegnung zu erforschen, zu erproben und dann in den Alltag zu integrieren. Beispiele aus dem Workshop Während sich mittlerweile fast alle TeilnehmerInnen im spielerischen Partnerbezug aktiv bewegten, hockte eine Frau mit zum Fenster gewandtem Blick am Boden. Diesbezüglich angesprochen, antwortete sie mir, dass sie sich nicht getraut habe, auf jemanden zuzugehen aus Angst davor, abgewiesen zu werden. Das sei ihr heute auf dem Kongress bereits an anderer Stelle in der Form passiert, dass eine ihr wichtige Frage nicht beantwortet worden sei. Im weiteren Gespräch wurde schnell deutlich, Aus der Einengung in die Begegnung 4 | 2019 167 dass sie Erfahrungen dieser Art auch aus ihrem Alltag kannte und nun nach Wegen und Lösungen aus ihrem Rückzugsverhalten suchte, da sie hierunter litt. Aus diesem Grund sei sie als „Nichtprofessionelle“ zu diesem Kongress gekommen. Von mir gesehen und auf ihre Gefühle angesprochen worden zu sein, sei für sie eine neue Erfahrung gewesen. Hier tritt in der aktuellen Gruppensituation ein dysfunktionales Verhaltensmuster sehr schnell in den Vordergrund. Die therapeutische Intervention der Zuwendung und des Interesses ermöglicht der Teilnehmerin eine neue zwischenmenschliche Erfahrung. Im Rahmen eines therapeutischen Prozesses könnten, je nach Zielsetzung, sowohl die Ursachen für dieses Muster aufgespürt als auch neue Wege des Verhaltens erforscht und eingeübt werden. Ein Mann, der am Rande blieb und zuschaute, meinte dazu, er sei übrig geblieben und traue sich nicht mehr. Als er gefragt wurde, was er befürchte, meinte er, er wolle nicht stören. Er ließ sich ermutigen, es doch noch zu probieren und auf zwei andere zuzugehen, mit denen er in anregenden Kontakt kam. Eine Frau, die am Rande für sich geblieben war, bemerkte in der Abschlussrunde, das sei neu für sie: einfach mal ihren Rückzug zu genießen und gleichzeitig andere machen zu lassen und zuzuschauen. Allerdings fühle sich das gleichzeitig unbehaglich an, sich das zu erlauben. Resümee In ihrer abschließenden Reflexion des Workshops wurde den Autorinnen vor dem Hintergrund der postmodernen Gesellschaft mit ihrer Entfremdung und Vereinzelung in einer zunehmend digitalisierten und virtuellen Welt der Wert der vielfältigen Erfahrungsmöglichkeiten durch komplexes Lernen und Zwischenleiblichkeit in der erlebnisorientierten, bewegungstherapeutischen Gruppenarbeit (Waibel 2015; Waibel/ Braunbarth 2019) noch einmal sehr bewusst. Literatur Berger, K. (2014): Vom Stress zum Flow. Die Lösung von Stress-Zuständen mit den Methoden der Tanz-Bewegungstherapie. Forschungsarbeit zur Qualifizierung als BTD-anerkannte Tanztherapie am Tanztherapie Zentrum Berlin Berger, K. (2018): Achtsamkeit, Entschleunigung, Flow! Theorie und Methodik eines wirksamen Workshops für die Stressbewältigung. körper-- tanz-- bewegung 6 (4), 150-158, https: / / doi. org/ 10.2378/ ktb2018.art22d Braunbarth, I. (2013): Aus der Einengung in die Bewegungsfreiheit. körper-- tanz-- bewegung 1 (4), 153-160, https: / / doi.org/ 10.2378/ ktb2013. art14d Csikzentmihalyi, M. (2008): Flow. Klett-Cotta, Stuttgart Fuchs, T. (2008): Das Gehirn-- ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. W. Kohlhammer, Stuttgart, https: / / doi.org/ 10.4414/ sanp.2008.01984 Geuter, U. (2015): Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg, https: / / doi. org/ 10.1007/ s00278-015-0029-4 Nakamura, J. (2018): On the experience of flow. Vortrag auf dem 16. europäischen Kongress für Körperpsychotherapie, Berlin Petzold H. G. (2017): Intersubjektive, „konnektivierende Hermeneutik“, Transversale Metahermeneutik, „multiple Resonanzen“ und die „komplexe Achtsamkeit“ der Integrativen Therapie und Kulturarbeit. In: Petzold, H. G., Leeser, B., Klempnauer, E.: Wenn Sprache heilt. Handbuch für Poesie- und Bibliotherapie, Biographiearbeit, Kreatives Schreiben. Festschrift für Ilse Orth. Aistheis, Bielefeld, 131-184, sowie in: www.fpi-publikation.de/ polyloge/ alle-ausgaben/ 19-2017-petzold-h-g-2017fintersubjektive-konnektivierende-hermeneutiktransversale.html, 6.7.2019, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-531-90230-2_17 168 4 | 2019 Braunbarth, Kreidner-Salahshour Petzold, H. G. (2012): Psychotherapie-- Arbeitsbündnis oder „Sprache der Zärtlichkeit“ und gelebte Konvivialität? Intersubjektive Nahraumbeziehungen als Prozesse affilialer „Angrenzung“ statt abgrenzender „Arbeitsbeziehungen“. Integrative Therapie 1, 73-94. In: www.fpi-publikation.de/ artikel/ textarchivh-g-petzold-et-al-/ petzold-h-g-2012cpsychotherapie-arbeitsbuendnis-oder-spracheder-zaertlichkeit-und.html, 6.7.2019, https: / / doi. org/ 10.30820/ 9783837968965-297 Petzold, H. G. (1998): Integrative Supervision, Meta-Consulting & Organisationsentwicklung. Modelle und Methoden reflexiver Praxis Ein Handbuch. Bd. 1. Junfermann, Paderborn, https: / / doi.org/ 10.1007/ bf03088696 Petzold, H. G. (1996): Integrative Leib- und Bewegungstherapie in der Praxis. 2 Bde. 3. Aufl. Junfermann, Paderborn Rosa, H. (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp, Berlin Rosa, H. (2010): Beschleunigung und Entfremdung. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Schipperges, H. (1986): Das Konzept der Leiblichkeit bei Friedrich Nietzsche. In: Petzold, H. G.: Leiblichkeit. 2. Aufl. Junfermann, Paderborn, 133-148 Sieper, J., Petzold, H. G. (2002): „Komplexes Lernen“ in der Integrativen Therapie-- Seine neurowissenschaftlichen, psychologischen und behavioralen Dimensionen. In: www.fpi-publikation.de/ polyloge/ alle-ausgaben/ 10-2002sieper-j-petzold-h-g-komplexes-lernen-in-derintegrativen-therapie.html, 10.3.2019, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-90230-2_17 Spitzer, M. (2012): Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Droemer, München Storch, M., Tschacher, W. (2014): Embodied Communication. Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf. Hans Huber, Bern Stuppigia, M. (2018): The pain in the virtual world: a new challenge for body psychotherapy. Vortrag auf dem 16. europäischen Kongress für Körperpsychotherapie, Berlin Waibel, M. (2015): Homo zappiens und Selbstregulation. körper-- tanz-- bewegung 3 (2), https: / / doi.org/ 10.2378/ ktb2015.art09d Waibel, M., Braunbarth, I. (2019): Herausforderungen, Chancen und Probleme der Körper- und Bewegungspsychotherapie in der Gruppentherapie. körper-- tanz-- bewegung 7 (3), 106-116, https: / / doi.org/ 10.2378/ ktb2019.art17d Wilber, K. (2016): Integrale Psychologie. Geist-- Bewusstsein-- Psychologie-- Therapie. 5. Aufl. Arbor, Freiburg Ingrid Braunbarth Seit 1996 Integrative Bewegungstherapeutin in der Hardtwaldklinik 2 (Psychosomatische Reha) in Bad Zwesten, seit 2018 in der Habichtswaldklinik (Psychosomatische Akut) in Kassel. Integrative Paartherapeutin und Systemische Coach in freier Praxis. Klara Kreidner-Salahshour Integrative Bewegungstherapeutin, seit 1993 als Bewegungstherapeutin in der LWL-Klinik Dortmund, seit 2013 überwiegend in der Tagesklinik Unna tätig. Seit 1999 Lehrtätigkeit in der Ausbildung von Motopäden und in der Erwachsenenbildung. ✉ Ingrid Braunbarth ibraunbarth@t-online.de www.bewegte-beziehungen.de
