eJournals körper tanz bewegung 7/2

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2019.art10d
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2019
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Fachbeitrag: Raumstation Kinderhaus

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Astrid Nuca
In einem Bonner Montessori-Kindergarten wurde der 5-jährige David mit der Diagnose Asperger-Syndrom über einen Zeitraum von einem Jahr tanztherapeutisch begleitet. In wöchentlichen Einzelsitzungen entdeckte David seine Liebe zur Musik, zum Tanz und zu kreativen Rollenspielen und erweiterte dadurch seine Beziehungsfähigkeit. Die Ergebnisse des vorgelegten Einzel­falls mit theoretischen Bezügen sind nicht repräsentativ, bieten jedoch eine Basis für weiterführende Studien zu dem bisher wenig erforschten Gebiet der Tanztherapie in Verbindung mit dem Asperger-Syndrom.
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Fachbeitrag 54 körper-- tanz-- bewegung 7. Jg., S. 54-62 (2019) DOI 10.2378 / ktb2019.art10d © Ernst Reinhardt Verlag Raumstation Kinderhaus Tanztherapie, Rollenspiele und Improvisation bei einem Kind mit Asperger-Syndrom Astrid Nuca In einem Bonner Montessori-Kindergarten wurde der 5-jährige David mit der Diagnose Asperger-Syndrom über einen Zeitraum von einem Jahr tanztherapeutisch begleitet. In wöchentlichen Einzelsitzungen entdeckte David seine Liebe zur Musik, zum Tanz und zu kreativen Rollenspielen und erweiterte dadurch seine Beziehungsfähigkeit. Die Ergebnisse des vorgelegten Einzelfalls mit theoretischen Bezügen sind nicht repräsentativ, bieten jedoch eine Basis für weiterführende Studien zu dem bisher wenig erforschten Gebiet der Tanztherapie in Verbindung mit dem Asperger-Syndrom. Schlüsselbegriffe tanztherapeutische Methoden, Asperger- Syndrom, Wirkfaktoren Space Station Kindergarten. Dance Therapeutic Creative Role Play and Improvisation in Connection with Asperger’s Syndrome In a Montessori kindergarten in Bonn, five-year old David, diagnosed with Asperger’s syndrome has been treated with dance therapy over a period of one year. In his weekly sessions, David discovered his love for music, dancing and creative role playing. In addition, he developed, among others, his relationship skills. The results of this single case study with David are not representative as such. However, they constitute the basis for further studies on the scantily researched field of dance therapy in the context of Asperger’s syndrome. Key words methods of dance therapy, Asperger’s Syndrome, impact factors E rzieherinnen eines Montessori-Kindergartens in Bonn baten mich, mit dem 5-jährigen David zu arbeiten, da er in Gruppensituationen scheinbar grundlos schrie, seine Kleider auszog und in langen, unverständlichen Monologen sprach. David verweigerte die Teilnahme an pädagogischen Angeboten häufig, reagierte nicht auf Ansprachen und blieb lieber für sich allein. Im Alter von drei Jahren wurde bei ihm von neurologischen Spezialisten eines Fachzentrums das Asperger-Syndrom (AS) diagnostiziert. Theoretischer Hintergrund Das AS wurde 1944 durch Hans Asperger als „eine einheitliche Grundstörung, die sich ganz typisch im Körperlichen, in den Ausdruckserscheinungen, im gesamten Verhalten äußert“, Raumstation Kinderhaus 2 | 2019 55 beschrieben (Asperger 1943, 9). Laut Tony Attwood liegt die aktuelle Prävalenz zwischen 1: 210 und 1: 280 (Attwood 2012). Die Ursachen des AS werden vor allem den genetischen Faktoren zugeschrieben. Umweltfaktoren werden eher als Auslöser verstanden und können sowohl protektiver als auch destruktiver Natur sein. Neben Vererbungsfaktoren sind aber auch Schädigungen des Gehirns nicht auszuschließen. Die Auswirkungen des Asperger-Syndroms auf verschiedene Lebensbereiche Die Wahrnehmung der vom AS betroffenen Menschen ist von der Schwierigkeit geprägt, mehrere Reize auf einmal zu verarbeiten und diese korrekt einzuordnen. Auch die Denkweise der Betroffenen ist eher eindimensional. Die Konzentration auf ein besonderes oder auf wenige Interessengebiete ist kennzeichnend. Auch die Verhaftung in der eigenen Herangehensweise beziehungsweise die Inflexibilität, einen Lösungsweg zu verändern, ist typisch. Kindern mit AS fällt es schwer, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, für die sie sich nicht interessieren, und sie haben Schwierigkeiten mit sozialen Beziehungen und der Empathiefähigkeit. Die „Theory of Mind“ beschreibt die Fähigkeit, „Gedanken, Überzeugungen, Wünsche und Absichten anderer Menschen zu erkennen und zu verstehen, um deren Verhalten einzuschätzen und um vorhersagen zu können, was sie als Nächstes tun werden“ (Attwood 2012, 143). Was nicht-autistische Menschen aufgrund ihrer sozio-emotionalen Entwicklung spontan und intuitiv erfassen können, versucht ein Mensch mit AS durch rational-logische Denkweisen zu erschließen. Menschen mit Autismus haben aufgrund von Besonderheiten in ihrer Wahrnehmungsverarbeitung von Geburt an große Schwierigkeiten, in Interaktion mit ihren Mitmenschen zu treten. So wird die sozio-emotionale Entwicklung anders verlaufen als bei den meisten anderen Kindern. Sie werden zeitlebens Schwierigkeiten damit haben, die Bedeutung der Mimik des Anderen spontan erfassen zu können. Eine unmittelbare und unwillkürliche soziale Interaktion ist ihnen daher in aller Regel nicht möglich. Menschen mit AS neigen dazu, Gefühle zu intellektualisieren, und reagieren ablehnend auf eine starke Emotionalität des Gegenübers, was auf ihre Hypersensibilität zurückzuführen ist. Eben diese Hypersensibilität und Besonderheiten in der Verarbeitung von Gefühlen führen dazu, dass sich die Betroffenen selbst über Kleinigkeiten enorm ereifern können (Attwood 2012). Die Spielarten der Kinder mit AS unterscheiden sich von denen anderer Kinder insofern, als dass sie häufig eigenwillige und / oder einzelgängerische Spiele spielen, die eine deutlich längere Spieldauer haben können (Attwood 2012). Die meisten von AS betroffenen Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens ein Spezialinteresse. Weit verbreitet in der Gruppe der Betroffenen ist das Interesse für Tiere, Computer, Elektrotechnik, Fantasy-Literatur oder Personenkult (Attwood 2012). Es ist jedoch auch jedes andere Thema denkbar. Menschen mit AS können auch körperliche Auffälligkeiten aufweisen. Die Bewegung der Glieder während des Gehens ist oft leicht asynchron und wirkt exaltiert. Viele Kinder mit AS lernen um einige Monate verzögert das Gehen und benötigen lange Hilfestellung bei allen Aufgaben, die Fingerfertigkeit erfordern, wie Schuhe zu binden, Anziehen und Essen mit Besteck (Attwood 2012). Alle Bewegungen, die Koordination erfordern, wie beispielsweise Ballspiele, fallen Kindern mit AS schwer. Tanztherapie und das Asperger- Syndrom Viele Pionierinnen der Tanztherapie, wie Liljan Espenak, Dagmar Koslowski, Yael Ophir und Claudia Maria Weber (Espenak 1986; Koslowski 56 2 | 2019 Astrid Nuca 1994; Ophir 1990; Weber 1999), haben sich ausführlich mit Störungen aus dem autistischen Formenkreis beschäftigt. Elaine V. Siegel behandelte über viele Jahre Kinder und Jugendliche mit AS. Sie konstatiert, dass Autismus auch als ein Selbstschutz vor überwältigenden Gefühlen wie die Trauer über die Trennung von der Mutter verstanden werden kann. Autismus sei in dieser Weise also ein früher und noch hilfloser psychischer Bewältigungsversuch durch die komplette Verleugnung eben dieses Getrenntseins vom Schutz bietenden Objekt und durch eine damit einhergehende Regression in eine völlig abgetrennte und in sich geschlossene Welt (Siegel 1997). Siegel geht auf Basis zahlreicher Beobachtungen von einem ungenügend ausgeprägten Selbstwirksamkeitserleben und damit einhergehend von einem rudimentär entwickelten Selbsterhaltungstrieb aus und ist überzeugt, dass mangelnder „gesunder Narzissmus“ autistische Menschen in eine schwere Form der Autoaggression führt (Siegel 1997). Mit den Methoden der Tanztherapie verfolgte Siegel, die 13 Jahre in einer kinderpsychiatrischen Klinik mit autistischen und anderen schwer psychisch beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen gearbeitet hatte, das Ziel, ein basales positives Selbstwertgefühl durch nonverbales Spiegeln und kinästhetisches Mitschwingen bei diesen Kindern zu etablieren: Es kann gelingen, so Siegel, „durch empathisches Miterleben und gegenseitige Bewegungsreproduktion ein kohäsives Selbst, das durch reiferes Selbstempfinden über die Kernbezogenheit zu intersubjektiver Bezogenheit führen kann“ (Siegel 1997, 4), zu erreichen. Kernbezogenheit bzw. intersubjektive Bezogenheit als Termini aus der empirischen Säuglingsforschung nach Daniel Stern (Stern 1985) beschreiben die frühe Fähigkeit des Säuglings ab etwa vier bis sechs Monaten, sich mit sich selbst in Verbindung stehend zu empfinden und eine erste Vorstellung von dem eigenen Körperbild zu entwickeln- - die Basis dafür, sich selbst und die Personen und Dinge um sich herum wahrzunehmen und zu erkennen. Ziele und methodische Überlegungen zur Tanztherapie bei Asperger- Syndrom Im Zentrum des unten beschriebenen Praxisbeispiels mit dem 5-jährigen David stehen die tanztherapeutischen Methoden der Improvisation, des Rollenspiels und der Gestaltung mit kreativen Medien. Sie gehören zum Repertoire des kindlichen Spiels im Kindergartenalter (Trautmann-Voigt/ Voigt 2009). Der Einsatz dieser Spielformen sorgte bei David für einen gewissen Abenteuercharakter in den Therapiestunden, der ihm bislang fremd war. Gefördert werden sollten dadurch sein individueller Gefühls- und Fantasieausdruck, seine Bereitschaft zum kreativen Spielen, aber auch das Üben von Problemlösungen und das Absolvieren von Aufgaben in einem extra für ihn erschaffenen Erprobungsraum. Darin konnte er-- für ihn ungewohnt- - neue soziale Rollen und verschiedene Beziehungsmodalitäten ausprobieren. Weitere Ziele dieser Interventionen sind Förderung von Kontaktfähigkeit, von Freude und Lust am Spiel, Steigerung des Selbstwertgefühls, der Selbstverantwortung und der Selbstwirksamkeit und Förderung der Körperzufriedenheit. Darüber hinaus können in der Tanztherapie während verschiedener Rollenspiele zusätzliche, multimodale Interventionen verwendet werden, die hier Erwähnung finden sollen: Das Musizieren ermöglicht Kommunikationsformen auf einer neuen, die auditive Sensibilität fördernden Beziehungsebene; Körperwahrnehmungsübungen in Ruhe fördern die Selbstwahrnehmungs- und Entspannungsfähigkeit; Körperwahrnehmungsübungen in Bewegung fördern die Spannungsregulation und die Erweiterung des Bewegungsrepertoires; das Spiegeln von Bewegungsmustern Raumstation Kinderhaus 2 | 2019 57 des Patienten / Klienten fördert Sicherheit und Selbstvertrauen in eigene Bewegungen, die als „gesehen“ registriert werden können. Das hilft, die Tragfähigkeit der therapeutischen Beziehung auszubauen (Trautmann-Voigt/ Voigt 2009). Die Arbeit an den Körpergrenzen schließlich fördert die Integration aller Körperteile in das Körperschema (Weber 1999). Praxisbeispiel David: „Raumstation Kinderhaus“ Bewegungsanalyse und Besonderheiten David wirkte zu Beginn der Therapie körperlich unbeholfen. Sein Gang war eleviert und unkoordiniert, so dass er oft stolperte. Wenn er einen Raum betrat, orientierte er sich an den Wänden und ging direkt an diesen entlang im Kreis. Dabei war sein Kopf nicht in den Gang integriert und führte die Bewegung an. Oftmals kaute er während des Gehens an seinem linken Ärmel. Insgesamt hatte er eine eher enge Kinesphäre und bewegte sich in mäßiger Zeit und freiem Fluss. Er bevorzugte die obere und mittlere Raumebene und setzte sich nur sehr vorsichtig auf den Boden, um dabei nicht hinzufallen. Beim Tanzen bewegte er vor allem die Füße mit leichter Kraft über den Boden und drehte seinen Oberkörper mit schlackernden Armen von rechts nach links im freien Fluss. Hier war der Kopf integriert, er hielt die Augen geschlossen und schwang seinen Kopf energisch von Seite zu Seite. Er bewegte sich arrhythmisch zur Musik. Immer wieder nässte er sich während der Sitzungen ein, zog dann seine Kleider aus und verteilte diese im Raum. Scham schien er dabei nicht zu empfinden. Er wirkte oft abwesend und reagierte nicht auf Ansprachen. Erst bei Berührung und mehrmaligem Wiederholen konnte er wahrnehmen, dass sein Gegenüber mit ihm kommunizieren wollte. In der ersten Sitzung war die Tür zum Therapieraum verklemmt, so dass er sie alleine nicht öffnen konnte. Er schrie in einer schrillen Stimmlage verzweifelt, ich solle die Tür aufmachen, und war dann außer sich. Es dauerte lange, bis er sich wieder beruhigen konnte und begriff, dass ich ihn nicht extra ausgeschlossen hatte. Zu Beginn der Therapie kam es auch vor, dass David sich auf keines meiner angebotenen Medien und Spielvorschläge einlassen konnte und versunken seinem eigenen Spiel nachging. Meine Anwesen- Abb. 1: Spielerisch wird während der Sitzung eine Planetenlandschaft aus Seilen, Tüchern und Bällen erkundet. 58 2 | 2019 Astrid Nuca heit schien ihn eher zu stören, denn er wollte mich auch nicht an seinem Spiel teilhaben lassen. Nach etwa drei Sitzungen teilte er mit mir sein Interesse für den Weltraum und Planeten, was zu gemeinsamen Raumfahrten auf fremde Planeten führte und den Raum für die Entstehung einer tragfähigen Beziehung öffnete. Praxisbeispiel David betrat in der 15. Sitzung den Therapieraum im Montessori Kinderhaus und nahm sofort das Gymnastikband. Er packte es aus und begann, es zu schwingen. Er sagte: „Du musst das Lied singen! “. Ich nahm die Trommel, trommelte in einem klaren Rhythmus und sang: „Der David, der David, der macht ’nen Wirbelsturm. Und der geht so …“, dann folgte ein schneller und lauter Trommelwirbel. David machte in großen Kreisbewegungen auf der mittleren Ebene einen Wirbel mit dem Gymnastikband. Beim Trommelwirbel schmiss er das Band weg, ließ sich fallen und lachte laut darüber. Dies wiederholte er einige Male zur Begleitung des Liedes. Dann sang er das Lied „Major Tom“ von Peter Schilling. Ich fragte ihn, ob er es heute gerne hören und dazu tanzen möchte. Er mochte. Ich stellte das Lied über eine kleine Lautsprecherbox an. David begann, dazu zu tanzen, ich bewegte mich am Rand, ihn spiegelnd, mit. David trippelte in einem mittleren Tempo mit kleinen Schritten im Kreis, hob beide Arme auf Ellenbogenhöhe und knickte die Unterarme nach oben ab. Die Hände schwangen frei am Handgelenk mit. Nachdem er zunächst nur ein Tuch im Kreis geschwungen hatte, nahm er beim Refrain alle Tücher in die Hand und verteilte sie in streuenden und schwungvollen Bewegungen einzeln im Raum. Dann sammelte er sie alle wieder auf und schmiss sie mit einem quietschenden Laut über seinen Kopf und stand im Tücherregen. Dies wiederholte er noch einige Male, bis der Refrain zu Ende war. Er lief wieder im Kreis, diesmal ohne Tuch und in schnellerem Tempo. Abb. 2: Auch Wirbelstürme, veranschaulicht durch Gymnastikband und Trommel, sind im gemeinsamen Weltraum möglich. Raumstation Kinderhaus 2 | 2019 59 Während des Refrains wiederholte er das Schmeißen der Tücher über den Kopf. Im Anschluss fragte ich ihn: „Das sah nach sehr viel Spaß aus. Wie kamst du auf die Idee, die Tücher über den Kopf zu schmeißen? “ Er antwortete direkt: „Weil das zur Musik gepasst hat. Man muss so tanzen, dass es zur Musik passt.“ David begann anschließend, sehr ausführlich von einer Rakete zu erzählen und wie man mit ihr ins Weltall fliegen könne. Ich nahm die Trommel, simulierte einen Raketenstart mit einem gezählten Countdown und einem Trommelwirbel. Er sagte laut: „Stopp! Erst brauchen wir einen Raumanzug, bevor wir starten können.“ Ich schlug vor, dafür die Tücher zu nehmen. Er fand, das sei eine gute Idee, und forderte mich auf, ihm von der Brust über den Bauch und die Oberschenkel in einer bestimmten Reihenfolge die Tücher umzubinden. Als wir fertig waren, sagte er: „Du musst dir auch einen Raumanzug anziehen.“ Ich band mir also ebenfalls Tücher um. Danach bestimmte er, dass die Holzrutsche die Rakete sei, und bat mich einzusteigen. Ich simulierte den Raketenstart wie zuvor. Er sagte: „Wir sind da.“ Er nahm meine Hand und zeigte mir die Krater (herumliegende Tücher) auf dem Planeten. Ich meinte: „Man muss über die Krater springen, sonst fällt man hinein“ und sprang über einen Krater. Er schüttelte den Kopf, machte selbst lieber einen großen Schritt darüber. Er blieb vor einem Krater stehen und sagte: „Lass uns hinabsteigen und sehen, was unten ist.“ Ich reichte ihm ein Seil, das er festhielt, während er „abstieg“. Ich fragte ihn, was er sähe. Er sagte: „Ich sehe Stein und Eis.“ Er setzte sich hin und erzählte: „Die Krater sind da, weil große Kometen auf den Planeten gekommen sind und Löcher gemacht haben. Der Planet leuchtet auch. Das ist so, weil da viele Glühwürmchen leben, wie beim Mond.“ Ich hörte ihm zu, nickte und sagte: „Du bist ja gut informiert, David.“ Er erzählte, dass er zuhause viele Bücher über den Weltraum habe und diese gemeinsam mit seinem Vater lese. Bevor wir zurück zur Erde fliegen konnten, wollte David noch einen Außerirdischen finden und die Krater zumachen. Ich beschleunigte die Geschichte, indem ich sagte: „Da ist ein Außerirdischer! “ Er lief zu mir und versteckte sich hinter mir. Er nahm meine Hand, und wir gingen zurück zur Rakete, die ich wieder startete. Auf der Erde angekommen, sagte ich: „Und nun sind wir wieder zurück auf der Erde im Montessori Kinderhaus. Es ist Freitagnachmittag, und gleich kommt dich deine Mama abholen.“ David antwortete: „Ich weiß“ und bat mich, ihm dabei zu helfen, den Raumanzug auszuziehen. Ich half ihm, die Tücher loszubinden. Zum Abschluss schlug er in meine Hand ein. Auswertungsideen David betrat den Raum und nahm sich sofort das Gymnastikband, das seit längerem sein Lieblingsmedium war. Er machte kreisende Bewegungen mit der rechten Hand und nannte dies Wirbelsturm. So war auch das Lied entstanden, das er mich zu singen bat. Er fand es toll, dass er das Zentrum des Liedes war. Er wirbelte mit dem rechten Arm eifrig das Band vor sich her. Beim Trommelwirbel schmiss er das Band weg und ließ sich mit dem ganzen Körper lachend fallen. In dieser Sequenz zeigte er die Efforts gebundener Fluss und schnelle Zeit (Wirbeln) bis zum abrupten Wechsel zum freien Fluss und leichter Kraft (Wegwerfen des Bandes und Sich-Fallenlassen). Die Wiederholung dieser Sequenz vertiefte die Körpererfahrungen der verschiedenen Efforts und schulte die Bewegungserweiterung durch das Wirbeln des Gymnastikbandes von seiner ursprünglich engen zur weiten Kinesphäre. Auch die Wiederholung des Sich-Fallenlassens in Verbindung mit Davids Leichtigkeit und Lebensfreude führte zur Speicherung dieser wichtigen und heilenden Körpererfahrung, da er sich zuvor wie oben beschrieben bevorzugt in der oberen und mittleren Raumebene bewegt hatte und sich nur langsam und mit Vorsicht auf den Boden setzte. 60 2 | 2019 Astrid Nuca David war in seinem Alltag ständig gefordert, sich anzupassen, sich zurückzunehmen, und war sozialen Ängsten und sozialer Ausgrenzung, beispielsweise durch die anderen Kinder des Kinderhauses, ausgesetzt. Die Erfahrung des Sich-Fallenlassens und des Loslassens speicherte die Erfahrung, dass er so okay ist, wie er ist. Er konnte in diesem neuen Spielraum seine Regression (Siegel 1997) aufgeben und sich kontrolliert auf eine Beziehung einlassen. Ich griff seinen Ausdruck auf, indem ich auf das von ihm gesungene Lied „Major Tom“ einging. Er schien versunken im Tanz. Während der Strophen zeigt er die Efforts gebundener Fluss und leichte Kraft. Er ging eleviert im Kreis und hob die Arme halbhoch mit lockeren Händen. Der Kopf war abgespalten, und er starrte auf den Boden. Er lief im Kreis, also in runden Bodenmustern, durch den Raum, und die Bewegungsmuster waren geschlossen. Mit dem Schwingen des Tuches öffnete er sein Bewegungsmuster und erweiterte es damit. Mit dem Hinzunehmen des Tuches erweiterte er die eher enge Kinesphäre in eine klare mittlere Kinesphäre. Während des Refrains zeigte er in einem abrupten Übergang leichte Kraft und freien Fluss durch das Sammeln und Schmeißen der Tücher und dem Genießen des Tücherregens. Er drückte sich in dieser Sequenz frei und kreativ aus. Als er von der Rakete erzählte, hielt er keinen Blickkontakt und führte einen gefühlt endlosen Monolog über Raketen. Vielleicht erholte er sich hier von der vorangegangenen völlig neuen Körpererfahrung in seiner eigenen Welt, oder ihm war vielleicht das Beziehungsangebot zu nah oder zu bedrohlich. Ich nahm schließlich die Trommel und machte meine Anwesenheit bemerkbar, indem ich auf sein Thema einging, jedoch etwas Eigenes daraus entwickelte. Ich ließ eine Rakete mit einem Countdown und einem Trommelwirbel starten. David reagierte sofort und kehrte in die Gegenwart zurück. Er ging auf mein Spiel ein, indem er einen Vorschlag machte, der auf meinem Vorschlag aufbaute. Er war also in der Lage, meine Spielideen in sein Spiel zu integrieren. Er übernahm zwar die Führung des Spiels, jedoch ließ er sich auf die Ideen „Raumfahrt“ und „über Krater springen“ so weit ein, wie es für ihn machbar war. Dies war für ihn eine neue Entwicklung auf der Beziehungsebene. Er schien genug Vertrauen und Wertschätzung mir gegenüber entwickelt zu haben, um mich als geeignete Spielpartnerin zu akzeptieren. Er schien zu wissen, dass ich sein Spiel nicht grundlegend verändern, sondern erweitern wollte. Diese Begegnung beinahe auf Augenhöhe ließ darauf schließen, dass meine Akzeptanz seiner Person zu seiner Akzeptanz meiner Person geführt hatte. Die Ausprägung des AS war hier also klar vorhanden (er führte und kontrollierte das Spiel), jedoch nicht so absolut, dass er sich nicht auf mich einlassen und meine Ideen integrieren konnte. Durch das „Anziehen des Raumanzugs“ geschah hier eine Arbeit an den Körpergrenzen, die die Wahrnehmung und Selbstfürsorge der eigenen Grenzen auf der Körperebene, aber auch auf der psychischen Ebene förderte. Es führte zu der Frage: „Wie kann ich mich schützen und abgrenzen, wenn ich mich auf einen unbekannten Planeten begebe? “ Um das Spiel abzuschließen, leitete ich die Heimreise an. Hier forderte David seinen Raum ein, indem er seine Vorstellungen des Spiels deutlich machte. Es schien eine innere Not für ihn zu sein, das Spiel mit den Elementen zu beenden, die er sich vorgenommen hatte. Meine Intervention des entdeckten Außerirdischen zur Beschleunigung des Spiel-Endes konnte er akzeptieren. Damit er aus der Fantasiewelt wieder gut in der Gegenwart ankommen konnte, sagte ich sehr laut und deutlich, dass wir nun zurückfliegen und wieder im Kinderhaus angekommen seien und es Freitagnachmittag sei und er gleich abgeholt werde. Durch den klaren Stundenabschluss lernte David die Struktur der Therapiesitzungen und deren Regeln Raumstation Kinderhaus 2 | 2019 61 kennen und akzeptieren. Weiterhin fördert ein deutlicher Abschluss auch die Regelung der Nähe und Distanz auf der Beziehungsebene. Mir war die Erlebnisorientierung in dieser Sitzung wichtig. Hier hatte David den Raum, sich frei auszudrücken. Die vollzogenen Begrenzungen waren notwendig, um den Rahmen der Stunde einzuhalten oder David aus dem persönlichen Rückzug zu locken. Er sollte erfahren, dass er ungeachtet seiner geringen Anpassungsfähigkeit angenommen und wertgeschätzt wird. Darüber hinaus waren das Kennenlernen sozialer Regeln und Strukturen sowie die Rücksichtnahme auf die Befindlichkeit des anderen für Davids Transfermöglichkeiten in andere Beziehungen nötig und wichtig. An diesen Stellen war die Deutlichkeit meines Ausdrucks, die Klarheit meiner Ansprache, meine therapeutische Transparenz und die geduldige Wiederholung der Begrenzungen notwendig. Fazit Während der Arbeit mit David machte ich die Erfahrung, dass das Rollenspiel und dessen Gestaltung die therapeutische Beziehung enorm vertiefen. David lernte durch meine Akzeptanz seiner Person und seiner Besonderheiten, dass er bedingungslos angenommen und wertgeschätzt wird. Ich vermute, dass er sich dadurch auf eine Beziehung zu mir einlassen und in diese vertrauen konnte. Er hatte die Möglichkeit, verschiedene Beziehungs- und Bewegungsmodalitäten auszuprobieren und daraus zu lernen. Durch Gespräche mit der Leitung des Kinderhauses und durch Gespräche mit Davids Eltern stellte sich heraus, dass David sich mit der Zeit immer besser in das Kinderhaus integrieren konnte und sich positiv entwickelte. Er konnte sich besser mitteilen, sich besser in Gruppenangebote einfügen oder diese nicht mehr so extrem stören. Die positive Beziehungserfahrung sowie die Erweiterung seines Bewegungs- und damit Verhaltensrepertoires in der Therapie hat es David ermöglicht, Beziehungen zu den ErzieherInnen und den anderen Kindern aufzunehmen und auszubauen. Die positiven Entwicklungen sind mit Sicherheit nicht allein auf die Tanztherapie zurück zu führen. David hat engagierte Eltern, die ihren Sohn nach allen Kräften fördern, sowie zugewandte ErzieherInnen im Kinderhaus. Ebenso erhält er parallel zur Tanztherapie auch Logopädie und Ergotherapie und ist Teil einer Psychomotorik-Gruppe. Jedoch hat die Tanztherapie dazu beigetragen, dass David zu mehr Zufriedenheit und Akzeptanz seiner selbst findet und ein reicheres Angebot an Beziehungen wahrnehmen kann. Im Bereich der Forschung ist es wünschenswert, eine repräsentative Studie zu den Wirkfaktoren der Tanztherapie bei Menschen mit AS durchzuführen. Literatur Asperger, H. (1943): Die „Autistischen Psychopathen“ im Kindesalter. In: www.autismus-biberach.com/ Asperger_Hans-_Autistischen_Psychopathen.pdf, 2.10.2018 Attwood, T. (2012): Ein Leben mit dem Asperger Syndrom. Trias, Stuttgart Espenak, L. (1986): Tanztherapie durch kreativen Selbstausdruck zur Persönlichkeitsentwicklung. Sanduhr, Dortmund Koslowski, D. (1994): Interventionen zur Wahrnehmungsförderung in der Tanztherapie mit autistischen Kindern. Abschlussarbeit an der Schule für Tanz- und Ausdruckstherapie am Langen- Institut Monheim Ophir, Y. (1990): Die Sprache der Bewegung-- Erfahrungen mit der Gruppentherapie autistischer Kinder. Beschäftigungstherapie und Rehabilitation 5, 340-343 Siegel, E. (1997): Gibt es wirklich so etwas wie normalen Autismus? „William der Drache“: Die Weiterentwicklung eines frühgestörten Jugendlichen. Zeitschrift für Tanztherapie 7, 3-11 Stern, D. (1985): The interpersonal world of the infant. A view from psychoanalysis and 62 2 | 2019 Astrid Nuca Astrid Nuca Sozialpädagogin B.A., Tanztherapeutin (BTD). Tanztherapie mit Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenenbildung in Jobcentern. Eigene tanztherapeutische Praxis in Remagen. ✉ Astrid Nuca Kirchstr. 12 | D-53424 Remagen astridnuca@web.de www.tanzmich.net developmental psychology. Basic Book, New York Trautmann-Voigt, S., Voigt, B. (2009): Grammatik der Körpersprache. Körpersignale in Psychotherapie und Coaching entschlüsseln und nutzen. Schattauer, Stuttgart Weber, C. M. (1999): Tanz- und Musiktherapie zur Behandlung autistischer Störungen. Hogrefe, Göttingen