eJournals körper tanz bewegung 7/2

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2019.art12d
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Aus der Praxis: Tanztherapie im Team einer ­psychotherapeutischen Station für Jugendliche

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Aruna Dufft
Diese Fall-Vignette und Prozessbeschreibung eines 14-jährigen Mädchens mit einer mittelgradigen depressiven Episode und einer generalisierten Angststörung soll einen Einblick in die klinische Praxis einer psychotherapeutischen Tagesklinik für Jugendliche geben. Anhand einiger therapeutischer Situationen sollen die Mehrdimensionalität des therapeutischen Prozesses und die Bedeutung einer konstruktiven und wertschätzenden Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen auf einer klinischen Station veranschaulicht werden.
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Forum: Aus der Praxis 76 körper-- tanz-- bewegung 7. Jg., S. 76-81 (2019) DOI 10.2378 / ktb2019.art12d © Ernst Reinhardt Verlag W enn ich gefragt werde, warum ich die klinische Tätigkeit als Tanztherapeutin so schätze, zeichne ich dieses Bild: ein flexibles Netz von Wahrnehmung, Wertschätzung und Unterstützung durch die verschiedenen MitarbeiterInnen aus den verschiedenen Berufsfeldern und Therapieformen, das sich um jede/ n einzelne/ n PatientIn herum bildet und diese/ n individuell kaleidoskopartig wahrnimmt und unterstützt. Durch diese Vielfältigkeit wird die Wahrnehmung des zu behandelnden Menschen differenzierter, was sich positiv auf die Möglichkeiten der therapeutischen Arbeit auswirkt. In diesem Umfeld bin ich als Tanztherapeutin eine von mehreren TherapeutInnen bzw. PädagogInnen, und keiner von uns muss sich um die Profilierung seiner Methode bemühen, so dass das Wohl Tanztherapie im Team einer psychotherapeutischen Station für Jugendliche Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile Aruna Dufft Diese Fall-Vignette und Prozessbeschreibung eines 14-jährigen Mädchens mit einer mittelgradigen depressiven Episode und einer generalisierten Angststörung soll einen Einblick in die klinische Praxis einer psychotherapeutischen Tagesklinik für Jugendliche geben. Anhand einiger therapeutischer Situationen sollen die Mehrdimensionalität des therapeutischen Prozesses und die Bedeutung einer konstruktiven und wertschätzenden Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen auf einer klinischen Station veranschaulicht werden. Schlüsselbegriffe mehrdimensionales therapeutisches Vorgehen, kollegiale Zusammenarbeit, Tanztherapie mit Jugendlichen, tagesklinisches Setting Dance Therapy in the Team of a Psychotherapeutic Ward for Adolescents. The Whole Thing is More than the Sum of its Parts This case history of a 14-year-old girl with a moderate depressive episode and a generalized anxiety disorder gives insight into clinical practice in the context of a psychotherapeutic day clinic for youths. Descriptions of several therapeutic situations demonstrate the multidimensionality of therapeutic processes and the importance of constructive cooperation and mutual appreciation between associated professionals. Key words multidimensional therapeutic processes, inter-collegial cooperation, dance therapy for youth, day clinic setting Tanztherapie im Team einer Jugendstation 2 | 2019 77 des/ r PatientenIn das unangefochtene Anliegen aller Mitarbeiter sein kann und die verschiedenen Methoden sich gegenseitig inspirieren können. Im Folgenden möchte ich versuchen, die integrierende Wirkung eines solchen Mehrebenen-Zugangs anhand einer kurzen Fall-Vignette darzustellen. Das Setting In die hier vorgestellte Gruppe der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Asklepios-Klinik in Sankt Augustin kommen täglich (werktags von 8 bis 16 Uhr) 11 Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren. Das Behandlungskonzept berücksichtigt, dass psychische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter meist multifaktoriell bedingt sind und dementsprechend sowohl eine multidisziplinäre Mehrebenen-Diagnostik als auch eine multimodale Therapieplanung erfordern (Bilke-Hentsch 2017, 245). Dies führt zu einem mehrdimensionalen Vorgehen in der Therapie, die den individuellen Bedürfnissen der PatientInnen angepasst wird. Schulpflichtige Kinder und Jugendliche werden vormittags in der Astrid-Lindgren-Klinikschule unterrichtet. Die vielfältigen therapeutischen Ansätze und Angebote finden auf der Basis einer alle Alltagsbereiche umspannenden Milieutherapie in der Gruppe statt, in deren Rahmen alles neu Erlernte in der Therapie auch im Alltag mit den Mit-PatientInnen und Gruppen-PädagogInnen geübt und umgesetzt werden kann. Von entscheidender Bedeutung ist, dass die im tagesklinischen Behandlungsrahmen erzielten Fortschritte auch auf das familiäre Umfeld übertragen werden können, da die PatientInnen die Abende, Nächte und Wochenenden zuhause verbringen. Bedingung dafür ist eine enge familientherapeutische Einbindung der Eltern und sonstiger wichtiger Bezugspersonen im Rahmen von Elterngesprächen und Familiensitzungen (Asklepios 2018). Es finden tägliche Besprechungen mit den Mitarbeitern aller Berufsgruppen statt, bei denen über die Stimmung in der Gruppe und aktuelle Themen der PatientInnen gesprochen wird. Einmal wöchentlich wird im Rahmen einer Fallbesprechung mit allen MitarbeiterInnen über einzelne PatientInnen intensiv beraten. Hierbei wird Wert darauf gelegt, dass möglichst alle MitarbeiterInnen, auch die LehrerInnen, sich dazu äußern, wie sie die PatientInnen wahrnehmen. Gerade die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung ein und derselben Person kann aufschlussreich sein im Hinblick auf die Psychodynamik und Entwicklung der PatientInnen. Ich möchte mit diesem Beitrag betonen, wie wertvoll die kollegiale konstruktive Zusammenarbeit und eine interessierte und wertschätzende Haltung unter KollegInnen sind. Fall-Vignette Josephine Josephine (14 Jahre) war im Frühjahr 2018 drei Monate teilstationär in der Klinik (die Personendaten, wie Name und Alter der Patientin sowie Berufe der Eltern, sind aus Datenschutzgründen verändert worden). Josephine konnte die Schule wegen häufig auftretender Heulkrämpfe nicht mehr besuchen und kam deshalb in die Tagesklinik. Im letzten Schuljahr hatte Josephine aufgrund von somatischen Beschwerden (meist Bauchschmerzen oder Übelkeit) bereits viele Fehlstunden gehabt. Zudem litt Josephine unter einer depressiven Symptomatik und diversen Ängsten. Ihre Diagnose lautete mittelgradige depressive Episode und generalisierte Angststörung bei unterdurchschnittlicher Intelligenz. Anamnestisch ist zu sagen, dass Josephine das einzige Kind einer 33-jährigen Mutter ist. Die Mutter ist Krankenpflegerin in Teilzeit und gab an, in ihrer Jugend eine ähnliche „depressive Phase“ gehabt zu haben. Josephines Vater ist 30 Jahre alt und arbeitet als Sanitärfachmann in Vollzeit. Josephines Eltern sind nicht verheiratet, 78 2 | 2019 Aruna Dufft sie trennten sich zwei Jahre nach Josephines Geburt zum ersten Mal, waren sechs Jahre später noch mal für ein Jahr zusammen und trennten sich vor fünf Jahren endgültig. Laut Berichten der Mutter sei Josephine schon im Alter von acht Wochen zur Tagesmutter gegeben und ab dann mehrheitlich fremd betreut worden. Josephines Vater hat mittlerweile eine neue Frau und mit dieser einen zweijährigen Sohn. Nach einem Konflikt zwischen Vater und Tochter besteht seit ca. einem halben Jahr auf Josephines Wunsch hin kein regelmäßiger Kontakt mehr zum Vater; Josephines Mutter führt ihre emotionale Belastung insbesondere auf Josephines aktuell schlechte Beziehung zum Vater zurück. Josephine verletze sich selbst, bislang nur oberflächlich, und sehe im Alltag manchmal ihre bereits verstorbene Urgroßmutter, was sich für sie bedrohlich anfühle. Josephine war zum Zeitpunkt ihres Aufenthaltes in der Tagesklinik leicht adipös und wirkte in ihrem Habitus kindlich und unsicher. Sie hatte in der Tagesklinik eine Einzeltherapie bei einer verhaltenstherapeutisch ausgebildeten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (im Folgenden Bezugstherapeutin genannt), mit der ich in engem Austausch stand. Da Josephine verbal nicht sehr (ausdrucks-) stark war, bat ihre Bezugstherapeutin schon bald nach ihrer Aufnahme um Einzel-Tanztherapie in der Hoffnung, dort einen leichteren Zugang zur Patientin zu finden und ihre Ressourcen entdecken und aktivieren zu können. Auf ihren eigenen Wunsch hin nahm Josephine auch an einer Tanzgruppe und im späteren Verlauf, als man ihr und sie sich selbst dies zutraute, auch an einer Gruppe zur Förderung der Sozialen Kompetenz teil. Auf unserer Station werden diese Gruppen im Wechsel von verschiedenen KollegInnen zu zweit geleitet, und die Gruppenleitung erfolgt nicht ausschließlich durch SozialpädagogInnen und PsychologInnen. Zu dieser Zeit lag die Leitung bei der Kunsttherapeutin und der Tanztherapeutin. Da beide Kreativ-Therapeutinnen für Gruppenleitung ausgebildet sind und zudem gerne Gruppen leiten, wird diese spartenübergreifende Unterstützung und Bereicherung von den KollegInnen begrüßt. Tanztherapie im Kontext In der Tanztherapie bewegte Josephine sich zunächst unsicher und vorsichtig, sie schien motorisch ungeübt. Sie ging etwas tapsig, lächelte im Kontakt mit fragendem Gesichtsausdruck, während ihre langen glatten Haare meist ihr Gesicht verbargen. Sie schien motorisch ungeübt. Ihr Krafteinsatz war passiv oder leicht, aber nicht stark (Kennedy 2014, 59). Sie bewegte sich bevorzugt langsam und indirekt mit enger Kinesphäre und in Fortbewegung mit kleinen Schritten. Des Weiteren fiel eine monotone Phrasierung ihrer Bewegungen auf. Aufgrund ihrer nach vorne hängenden Schultern und ihres niedrigen Muskeltonus wirkte Josephine im Gesamtausdruck bedrückt. Sie imitierte lieber Bewegungen, statt selbst welche einzubringen. Im Kontakt öffnete sie sich und zeigte sich kindlich und bedürftig; sie erzählte in monotonem Tonfall von ihrem Alltag. Josephine berichtete über ihre Gefühle im Zusammenhang mit Ereignissen der Vergangenheit (Streit mit ihrem Vater und Tod der Urgroßmutter), während es ihr schwer fiel, Gefühle zu aktuellen Situationen differenziert wahrzunehmen. Am liebsten sang sie am Mikrofon Lieder von Mike Singer mit leiser Stimme und wenig Bewegungseinsatz. Wenn Josephine in der Gruppe und im Kontakt mit Gleichaltrigen war, zeigte sie sich ausgelassener, alberner und freier, z. B. als sie einer Mitpatientin vorsang. Als Josephine im Anschluss an eine Übung zur Körperwahrnehmung in Bewegung und Ruhe die Figurenzeichenprobe machte (Draw-a-Person-Test nach Machover 1949, zitiert nach Röhricht 2009, 39), entstand das Bild eines kleinen Mädchens, das vom Alter her viel jünger als sie selbst aussah und das von der Malweise sehr Tanztherapie im Team einer Jugendstation 2 | 2019 79 kindlich gemalt war. An diesem Bild und bei der anschließenden Besprechung der Zeichnung zeigte sich, dass Josephine sich emotional eher auf dem Entwicklungsstand eines Kindes als auf dem einer Jugendlichen befand. Aus dieser Diskrepanz resultierten ihre Gefühle von Überforderung, sowohl im schulischen als auch im sozialen Kontext, die im Rahmen ihrer Einzeltherapie thematisiert wurden. Ich zeigte ihrer Bezugstherapeutin das Bild und berichtete ihr, wie schwer es Josephine fiel, sich selbst und ihre aktuellen Emotionen differenziert wahrnehmen und in Worte fassen zu können. Beim Bewegungsangebot Boxen fiel es Josephine schwer, ihre Kraft stark oder direkt einzusetzen, sie boxte vorsichtig, indirekt und leicht. Wenn sie sich von sozialen Situationen gestresst fühlte, erlebte sie Boxen dennoch als entlastend. Mehrmals berichteten mir die Gruppen-PädagogInnen, dass Josephine in der Gruppe Stress erlebt zu haben schien, woraufhin ich ihr die Boxhandschuhe und den Boxsack anbot, was sie bereitwillig nutzte. Sie selbst hätte dieses Bedürfnis von sich aus nicht thematisieren können. Josephines Bezugstherapeutin und auch die Gruppen-PädagogInnen beschrieben die Selbstwert-Probleme der Patientin, über die diese zwar nicht sprach, die aber in ihrem Verhalten sichtbar wurden. Sie blieb in der Gruppe der Jugendlichen oft außen vor und traute sich nicht, initiativ bei Gruppen-Aktivitäten mitzumachen. Aufgrund der Berichte der Mutter lag die Vermutung nahe, dass Josephine sich zuhause schon früh als wenig erwünscht erlebt hatte. Josephine versteckte sich oft (wie heute noch hinter ihren Haaren), und ihre Selbstwert-Problematik zeigte sich nun im Zuge der Identitätsentwicklung in der Pubertät. Beim Thema Selbstwert werden körperorientiert arbeitende TherapeutInnen in unserer Klinik gerne von den vorwiegend verbal arbeitenden TherapeutInnen um Unterstützung gebeten. In der Einzeltherapie wurde hier mit dem Satz „Ich bin da.“ gearbeitet, den ich in die Tanztherapie übernahm. Über mehrere Sitzungen hin improvisierte Josephine mit verschiedenen Positionen, die für sie zu dem Satz „Ich bin da.“ passten. Hier begann Josephine, sich mit ihrer Kinesphäre zu befassen und diese allmählich auch zu erweitern. Die Kinesphäre bezeichnet den persönlichen Bewegungsraum eines Menschen (Kennedy 2014, 20) und gibt Auskunft darüber, wie viel Raum ein Mensch einnehmen kann oder möchte. Im Laufe des therapeutischen Prozesses fiel es Josephine immer leichter, eine subjektiv passende Position zu finden, mehr Raum einzunehmen und sich selbst dabei im Spiegel anzuschauen. Gegen Ende ihres Aufenthaltes in der Tagesklinik fühlte sie sich in ihrer individuellen „Ich bin da.“-Position „frei und locker“. Sie zeigte diese Position stolz ihrer Bezugstherapeutin. Des Weiteren berichteten die Gruppen-PädagogInnen davon, wie sehr es Josephine belaste, dass ihr ihre Urgroßmutter erscheine. Josephines Bezugstherapeutin griff das Thema in der Einzeltherapie auf und berichtete mir davon. In der Tanztherapie erzählte Josephine dann von ihrer verstorbenen Urgroßmutter, und es wurde deutlich, dass diese eine wichtige Bezugsperson in ihrem Leben gewesen war und Josephine sich bei ihr ganz angenommen gefühlt hatte. Es war Josephine möglich, die Trauer über den Verlust erneut zu spüren. Ich begleitete Josephine dabei, eine Art Abschiedsritual zu entwickeln, so dass sie ihrer Trauer auch im Alltag Raum geben konnte, da dies in ihrer Familie nicht stattfand. Josephine tanzte gegen Ende ihres Aufenthaltes in einer Tanzgruppe mit vier Mädchen, die gerne auch ohne Erwachsene trainierten und probten. Hier kam sie mit eigenen Ressourcen in Kontakt, da sie vorgegebene Bewegungen gerne imitierte und sich diese auch merken konnte. Aus Josephines Erzählungen über diese Tanzgruppe entstand der Eindruck, dass ihre Rolle in der Tanzgruppe eine ganz andere als in der therapeutischen Gruppe zur Förderung der Sozialen Kompetenz war. Sie 80 2 | 2019 Aruna Dufft übernahm gelegentlich sogar eine dominantere Rolle. Aus therapeutischer Sicht sahen wir dies als positive Entwicklung und spiegelten ihr das auch, was dazu führte, dass sie Bewegungen aus der Tanzgruppe in die Einzel-Tanztherapie- Sitzungen integrierte. In der Gruppe zur Förderung der Sozialen Kompetenz zeigte Josephine sich zunächst erwartungsgemäß sehr zurückhaltend und schüchtern. Es überforderte sie, Übungen rückblickend verbal zu reflektieren oder zu differenzieren. Nachdem sich die Gruppe schon einige Zeit kannte und gemeinsam gearbeitet hatte, war das Übungsangebot ein enger Kreis, in dem ein/ e PatientIn sich aufrecht in die Mitte stellte und sich zunächst ganz wenig zu den anderen hin fallen lassen konnte, ohne dabei seine Körperspannung zu verlieren. Der Abstand wurde von den PatientInnen in der Mitte individuell je nach Wunsch vergrößert oder verkleinert. Als Josephine dran war, erhöhte sich ihr Muskeltonus stark, sie vermied Blickkontakt und wirkte angegriffen. Es war ihr in der Situation nicht möglich zu sprechen. Sie konnte in der Gruppe bleiben, bis diese Sitzung zu Ende war, dann sprach ich zu zweit mit ihr. Sie erzählte, dass sie sich durch die Form der Übung an eine Situation aus ihrer Vergangenheit erinnert fühlte, in der sie im Kreis von Gleichaltrigen geschubst und geärgert worden war. Sie empfand große Traurigkeit und Angst und war zeitweise emotional gefangen von dieser Erinnerung. Sie kam nur mit viel Unterstützung, insbesondere anhand von Intensivierung der Körperwahrnehmung durch Grounding, Atem und die Aufnahme von Blickkontakt, allmählich wieder in die Gegenwart. Im Anschluss an die Gruppensitzung konnte sie direkt einen Termin bei ihrer Bezugstherapeutin bekommen und die Situation, soweit es ihr möglich war, nachbesprechen. In darauffolgenden Sitzungen setzte Josephine sich noch einmal mit den damals erlebten Gefühlen auseinander und entwickelte mit ihrer Bezugstherapeutin Strategien, wie sie sich heute in einer ähnlichen Situation verhalten könne. In der Einzel-Tanztherapie wurde diese Thematik so aufgegriffen, dass wir in folgenden Sitzungen zu zweit Vertrauensübungen machten, wie z. B. Gewicht abgeben und führen / folgen mit geschlossenen Augen. Hierbei war wichtig, dass Josephine immer die Kontrolle behielt bzw. selbst entschied, wie viel Kontrolle sie in welchem Tempo abgab, wie viel Gewicht sie mir überließ und wie schnell sie geführt wurde. Sie machte eine vertrauensvolle Beziehungserfahrung, erlebte ihre Selbstwirksamkeit und arbeitete damit auch an einer Festigung ihres Selbstwerts. Bei Übungen zur verbalen und körperlichen Abgrenzung im Rahmen der Gruppe zur Förderung der Sozialen Kompetenz blieb Josephine verhalten und kam nicht in ihre Kraft. Es war ihr nicht möglich, mit klarer oder lauter Stimme „Halt! “ zu sagen oder ihre Hände abwehrend und mit Spannung vor sich zu halten, um andere GruppenteilnehmerInnen an dem Punkt zu stoppen, wo sie ihr zu nahe kamen. Deshalb übten wir in der Einzel-Tanztherapie körperliche Abgrenzung im Zweier-Kontakt, was ihr deutlich leichter fiel als in der Gruppe zusammen mit den Gleichaltrigen. Gegen Ende ihres Aufenthaltes entwickelte Josephine Spaß daran, sich mit einer klaren Handbewegung, verbunden mit einem deutlich ausgesprochenen „Halt! “ oder „Nein! “ von mir abzugrenzen, wenn ich in die Rolle einer Person ging, die ihr körperlich oder verbal zu nahe trat. Resümee Ich habe in diesem Beitrag aufgezeigt, wie die Themen der Patientin von den verschiedenen MitarbeiterInnen aus den jeweiligen Kontexten der Station aufgegriffen und kommuniziert wurden und jeweils in die unterschiedlichen Therapien hineinwirkten. Auf diese Weise manifestiert sich ein konstruktiver Arbeitsansatz, indem der wechselseitige Austausch zwischen Tanztherapie im Team einer Jugendstation 2 | 2019 81 den unterschiedlichen Berufsgruppen und Therapien auf der Station intensiv genutzt und wertgeschätzt und die Therapie erst dadurch wirksam wird. Dieser Fokus des wechselseitigen Zusammenwirkens unterschiedlicher Methoden und MitarbeiterInnen passt gut zum holistischen Ansatz und Menschenbild der Tanztherapie (Körper-Geist-Seele-Einheit; Klein 1993, 48). Die Annahme, dass der Mensch über die eigene Erfahrung in der Körperwahrnehmung und Bewegung immer auch in seinem emotionalen und geistigen Erleben angesprochen wird, bedingt die Wahl der Interventionen und der Therapie-Planung der TanztherapeutIn. So ist sowohl die Tanztherapie im Kontext des klinischen Settings als auch die multimodale Therapieplanung als Ganzes und nicht nur als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten. Ich erlebe die konstruktive Zusammenarbeit mit den KollegInnen beim Gespräch über die PatientInnen als enorme wechselseitige Bereicherung. Hierbei bringen wir uns gegenseitig auf Ideen, verstehen die Psychodynamik noch einmal neu durch die Perspektive des anderen, entwickeln im Austausch passende Interventionen oder werden wieder neu motiviert für die Arbeit mit den PatientInnen. Hier liegt meines Erachtens die Verantwortung bei allen MitarbeiterInnen und vor allem auch bei dem leitenden Personal. Die Haltung, die ChefärztInnen oder StationsleiterInnen vorgeben, prägt die Stimmung im Team stark. Die Besprechungen sind der Ort, wo wir TanztherapeutInnen selbstbewusst unsere Arbeit vorstellen sollten, damit die KollegInnen auch wahrnehmen und verstehen können, was in der Tanztherapie passiert. Die gegenseitige Offenheit und Wertschätzung der KollegInnen für die zusätzlichen Perspektiven und insbesondere auch für die Möglichkeiten der körperorientierten Therapie erlebe ich als bereichernd sowohl für mich als auch für unsere gemeinsame Arbeit an bzw. mit den PatientInnen. Hierzu gehört natürlich auch der kritische Austausch über die verschiedenen Sichtweisen und therapeutischen Methoden, der horizonterweiternd sein kann und für den man sich im Klinikalltag gelegentlich die Zeit erkämpfen muss. Voraussetzung für diese interdisziplinäre Arbeitsweise und Perspektiven-Sensibilisierung ist die Offenheit der MitarbeiterInnen für die psychotherapeutische Methode der KollegInnen, für deren möglicherweise diskrepante Wahrnehmung der PatientInnen und die gegenseitige Wertschätzung, sowohl auf professioneller als auch auf persönlicher Ebene. Es ist sehr erfreulich, wenn diese theoretische Selbstverständlichkeit auch gelebte Praxis ist. Literatur Asklepios (2018): Kinderklinik Sankt Augustin. In: www.asklepios.com/ sankt-augustin/ experten/ kinder-und-jugendpsychiatrie/ tagesklinik, 20.11.2018 Bilke-Hentsch, O. (2017): Kinder und Jugendliche: Entwicklung der Psychotherapie. In: Trautmann-Voigt, S., Voigt, B. (Hrsg.): Psychodynamische Psychotherapie und Verhaltenstherapie. Ein integratives Praxisbuch. Schattauer, Stuttgart, 245-253 Kennedy, A. (Hrsg.) (2014): Bewegtes Wissen. Laban / Bartenieff-Bewegungsstudien verstehen und erleben. Logos, Berlin Klein, P. (1993): Tanztherapie. Ein Weg zum Ganzheitlichen Sein. Pfeiffer, München Röhricht, F. (2009): Ansätze und Methoden zur Untersuchung des Körpererlebens-- eine Übersicht. In: Joraschky, P., Loew, T., Röhricht, F. (Hrsg.): Körpererleben und Körperbild. Ein Handbuch zur Diagnostik. Schattauer, Stuttgart, 35-52 Aruna Dufft Tanztherapeutin (BTD), tätig in der Psychiatrischen Tagesklinik für Kinder und Jugendliche in Sankt Augustin, Anthropologin M.A., Dozentin am DITAT in Bonn. ✉ Aruna Dufft aruna.dufft@gmail.com