körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2019.art18d
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Fachbeitrag: Berührung und Affektregulation
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Bernhard Schlage
Auf der Basis von Forschungsergebnissen aus dem Gebiet der Neurowissenschaften beschreibt dieser Artikel, wie Berührung verschiedene Bereiche des Gehirns über Nervenrezeptoren beeinflusst und wie verschiedene Qualitäten von Berührung KlientInnen in einer besseren Affektregulation unterstützen. Er zeigt auf, wie regulierter emotionaler Ausdruck zur Entwicklung eines resilienten Kernselbst beitragen kann. Dabei verweist der Artikel auf das Modell des Affektzyklus, um auf grundlegende Weise die Schwierigkeiten im Ablauf von Emotionen zu verstehen, die in der Arbeit mit traumatisierten KlientInnen auftreten. Weiterhin erklärt er, wie das Verständnis des sogenannten „Toleranzfensters“ die Arbeit mit emotional hypo- und hypererregten traumatisierten KlientInnen unterstützt.
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Fachbeitrag 117 Berührung und Affektregulation Traumatherapeutische Aspekte körperorientierter Psychotherapie am Beispiel der Arbeit mit der Methode „Posturale Integration“ Bernhard Schlage Auf der Basis von Forschungsergebnissen aus dem Gebiet der Neurowissenschaften beschreibt dieser Artikel, wie Berührung verschiedene Bereiche des Gehirns über Nervenrezeptoren beeinflusst und wie verschiedene Qualitäten von Berührung KlientInnen in einer besseren Affektregulation unterstützen. Er zeigt auf, wie regulierter emotionaler Ausdruck zur Entwicklung eines resilienten Kernselbst beitragen kann. Dabei verweist der Artikel auf das Modell des Affektzyklus, um auf grundlegende Weise die Schwierigkeiten im Ablauf von Emotionen zu verstehen, die in der Arbeit mit traumatisierten KlientInnen auftreten. Weiterhin erklärt er, wie das Verständnis des sogenannten „Toleranzfensters“ die Arbeit mit emotional hypo- und hypererregten traumatisierten KlientInnen unterstützt. Schlüsselbegriffe Berührung und Affektregulation, Haut-Rezeptoren, Affektzyklus, Toleranzfenster Touch and Affect Regulation. Trauma Therapeutic Aspects of Body-Oriented Psychotherapy Exemplified by the Method of Postural Integration On the basis of neurophysiological research, this article describes how touch influences different areas of the brain via nerve receptors, and how different qualities of touch support the improvement of a client’s affect regulation. It demonstrates, how regulated affective expression can help to develop a resilient core self. The article refers to the model of the affective cycle, to more profoundly understand difficulties during emotional processes that occur in work with traumatized clients. Further on the concept of “window of tolerance” will support readers in handling of emotional hypoand hyperreactive clients. Key words touch and affect regulation, skinmechano-receptors, affect-cycle-model, window of tolerance I n diesem Artikel möchte ich die LeserInnen einladen, sich auf den Kontakt zwischen KlientInnen und TherapeutInnen in der körperorientierten Psychotherapie einzustimmen. Dabei möchte ich besonderes Augenmerk auf die Veränderung der möglichen Kontaktebenen während der Verwendung körperorientierter Therapiemethoden legen. Den LeserInnen werden also einzelne körperpsychotherapeutische Techniken ebenso vorgestellt wie die dahinter liegenden, neurophysiologischen Konzepte der therapeutischen Wirksamkeit. Traumaspezifikörper-- tanz-- bewegung 7. Jg., S. 117-128 (2019) DOI 10.2378 / ktb2019.art18d © Ernst Reinhardt Verlag 118 3 | 2019 Bernhard Schlage Und in der Körperpsychotherapie benutzen wir auch unseren eigenen Leib als einen interaktiven, psychobiologischen Regulator für alle Informationen, die in dieser Situation hervortreten (Diamond et. al. 1963; Schore 2009). Courtois (1991) erklärt, dass gerade traumatisierte KlientInnen große Schwierigkeiten haben, angstreduzierte Kommunikation in therapeutischen Settings zu erfahren. Wir können in der Anfangssituation z. B. durch die Wahl des räumlichen Abstandes, durch die Führung unserer Stimme und durch die Orientierung unseres Augenkontaktes zu einer Regulation des bewussten und unbewussten Kontaktes angstreduzierende Beiträge geben. Es ist unsere Aufgabe als TherapeutInnen, kreativ im Umgang damit zu sein, bewusste und unbewusste Muster der Interaktion zu erkennen und zu gestalten. Auf einer grundsätzlichen Ebene fühlen wir in der Interaktion beispielsweise, dass da kein Gefühl ist, nur eine mehr oder weniger freundliche Maske: Die Gefühle sind also in einem Status der Untererregung-- hypoarousal (zum Modell von hypo- und hyperarousal siehe auch Post et. al. 1997). Sind KlientInnen in diesem Status, erleben wir als TherapeutInnen, dass wir uns nicht wirklich auf ein Gefühl beziehen können. Oder sogar noch weniger: Möglicherweise verstehen wir die zwischen uns entstandene Stille nicht; oder es entsteht ein „tiefes Nichts“ zwischen uns und den KlientInnen, das nicht berührbar erscheint. Oder das Gegenteil ist der Fall: Die Interaktion ist hoch erregt: Es kommt beispielsweise viel Schmerz hoch oder Tränen über ein Ereignis, das auf dem Weg in die Praxis oder in der Zeit vor der Sitzung geschehen ist; oder der / die KlientIn hat spezifische Phantasien über unsere Fähigkeiten als TherapeutInnen, z. B. weil er / sie etwas im Internet über uns gelesen hat; oder der / die KlientIn sieht in unseren Augen etwas, das ein tiefes Misstrauen in ihr / ihm aktiviert. Wie reagieren Sie als TherapeutIn auf diese Situation unter Bindungsaspekten? sche Behandlungsweisen werden wegen der Komplexität der Inhalte dabei nur am Rande erwähnt. Die Anfangssituation: Die erste Begegnung des ICH in der Beziehung zum DU Betrachten wir zunächst den Erstkontakt zwischen KlientIn und TherapeutIn: Wir hatten schon Mail- oder Telefonkontakt; wir haben geschriebene Zeilen des anderen gelesen, oder wir hörten ihre / seine Stimme, und wir beginnen, uns auf die empfangenen Signale zu beziehen: Wie drückt der / die KlientIn sein / ihr Interesse an Therapie aus: Sind es eher technische Termini oder Formulierungen von Bedürfnissen und Sehnsüchten? Oder hat er / sie Schwierigkeiten, sich aufgrund starker emotionaler Reaktionen verständlich zu machen? Oder was klingt am stimmlichen Ausdruck des / r KlientInnen in uns als TherapeutInnen nach? Bereits vor dem ersten Treffen können wir auf diese Weise viele nonverbale Informationen von den KlientInnen erhalten. Dann folgt die initiale Szene, die erste Begegnung von Angesicht zu Angesicht im Embodiment. Wie ist die Kongruenz zwischen dem innerem Bild, was Sie sich als TherapeutIn möglicherweise gemacht haben, und der konkreten Begegnung? Welchen Gesichtsausdruck zeigt der / die KlientIn im Erstkontakt: Lächelt er / sie oder ist er / sie den Tränen nahe? Oder entsteht vielleicht ein Gefühl von großer Distanz in der Begegnung, evtl. ausgedrückt durch einen skeptischen Blick? Wie ist die Qualität des ersten Händedrucks: kräftig wie ein Steinmetz, der die Hand schmerzhaft quetscht? Oder schlaff wie ein Waschlappen? Und wie passt dieser Eindruck zur allgemeinen Körperspannung der / s KlientIn? Die Anfangssituation ist voll von detaillierten, sensorischen Informationen über die Art und Weise, wie KlientInnen Kontakt gestalten. Berührung und Affektregulation 3 | 2019 119 ● Nehmen Sie das emotionale Feedback persönlich, z. B. als Ergebnis Ihres guten oder schlechten Praxisauftritts in der Öffentlichkeit? ● Oder lehnen Sie sich mit einem unbeteiligten Gesicht zurück (Hornak 1996), lediglich Ihre eigenen Sinneseindrücke innerlich kontrollierend? ● Benutzen Sie verschiedene Interaktionsmuster, um mit dieser Situation umzugehen? ● Sind Sie sich ggf. einer Veränderung Ihrer Stimme in dieser Anfangssituation bewusst? ● Geben Sie Ihren KlientInnen Rückmeldungen über das, was Sie erleben? ● Beginnen Sie vielleicht automatisch, innerlich auftauchende Emotionen zu regulieren, oder werden Sie von den Emotionen Ihrer KlientInnen sogar überwältigt (Dunn 1995, 724)? Während dieser Phase kann Ihr „Social Engagement System“ (Porges 2001) Ihre Kontaktfähigkeiten und die Ihrer KlientInnen unbewusst im Sinne einer fruchtbaren Regulation steuern, die Ihnen den Austausch von tiefen Gefühlen ermöglicht und gleichzeitig die Notwendigkeit für klare Grenzen zwischen Ihnen als Erwachsene deutlich macht. Das Social Engagement Systen (SES) umfasst laut Porges eine Kontrollkomponente, die sich im Kortex befindet (d. h. im Bereich der Motoneuronen). Deren Einwirken auf die Nuklei im Hirnstamm hat zur Folge, dass sie die Kontrolle ausüben über die Öffnung der Augenlieder, die Gesichtsmuskeln, die Muskeln des Mittelohrs, den Kaumuskel, die Kehlkopf -und Rachenmuskeln und darüber hinaus die Neigung des Kopfes und das Drehen der Muskeln (Porges 2003, 35). Dafür sind lediglich eine flache Hierarchie und eine verlässliche, reziproke Beziehung nötig. Dies steht im deutlichen Gegensatz zum alten psychoanalytischen Grundsatz der therapeutischen Enthaltsamkeit (dem Modell der TherapeutIn als „weiße Wand“), bei der das Übertragungsgeschehen aus der scheinbar objektiven Perspektive des Beobachters analysiert wird. Heute geht man davon aus, dass der / die BeobachterIn gestaltender Teil der Situation ist (Greene 2004). Und unser Social Engagement System ist ein guter innerlicher Regulator für alle eventuell auftauchenden Empfindungen des Kontakts und der Interaktion. So trägt es zu einer angemessenen Steuerung des verkörperten Abstandes zwischen KlientIn und TherapeutIn bei. Es beeinflusst unsere Sprachmelodie (Prosodie) und steuert unsere Gestik und Mimik angemessen zur emotionalen Bedeutung der Inhalte des therapeutischen Kontaktes. In dieser ersten Phase geben wir den KlientInnen eine erste Rückmeldung über körperliche Interaktionen, deren wir uns bewusst werden: wie z. B. der Klang der Stimme, die Kraft oder Geschwindigkeit von Bewegungen oder unsere Gefühle in diesem Bindungsgeschehen, während wir Raum und Zeit in diesem therapeutischen Setting teilen. Wir versuchen, auf eine körperliche Weise die Fähigkeit der KlientInnen zu fördern, Feedback zu geben und zu empfangen, genau wie gute Eltern es mit ihren Kindern tun: durch vollständige Annahme auf allen Ebenen mittels körperlicher Präsenz. Später fügen sich unbewusste / verkörperte Aspekte in die Interaktion ein. In dieser frühen Phase der Therapie haben TherapeutInnen die Gelegenheit, sich zu entscheiden, ob sie eher mit Methoden der klassischen Körperpsychotherapie oder mit spezifischen traumatherapeutischen Verfahren arbeiten wollen. Wir sollten dabei bedenken, dass seit den 1990-er Jahren des letzten Jahrhunderts unser kultureller Hintergrund suggeriert, dass „alle KlientInnen traumatisiert sind“. Es gibt aber einige KlientInnen, die zwar belastende Lebenserfahrungen gemacht haben und körperpsychotherapeutische Hilfe brauchen, um damit umzugehen, aber nicht im engeren Sinne nach folgender Definition traumatisiert sind. Eine Traumatisierung wird wie folgt eingeordnet (Levine 2012, 32-38): 120 3 | 2019 Bernhard Schlage ● Die KlientInnen haben eine subjektiv lebensbedrohliche Situation erlebt, ● in der eine Aktivierung von Flucht- oder Kampfaktivitäten unmöglich war; ● und nach der Situation gab es kein nährendes Bindungsangebot, um das autonome Nervensystem wieder zu beruhigen. Obwohl in der Bevölkerung insgesamt der Begriff der „traumatischen Belastung“ im Vergleich zum älteren Begriff der „Neurose“ immer weitere Verbreitung findet, ist für TherapeutInnen die Unterscheidung zwischen „Trauma“ und „belastender Lebenserfahrung“ insofern bedeutsam, als dass erstere besonderer Arbeitsverfahren bedürfen. Zweite Phase: Schritte zur Verkörperung des Selbst In dieser Phase liegt der Schwerpunkt auf dem „Pirschen“ von körperlichen Wahrnehmungen (engl. „tracking“, Odgen et al. 2010, 262 ff. Zur Herleitung des Begriffs „pirschen“ siehe Schlage 2013, 60). Wir wollen die Kompetenz von KlientInnen im Finden guter und sicherer Erlebnisorte im Körper stärken, außerdem ihren Sinn für eine Zentrierung im eigenen Körper verbessern und besonders ihre Fähigkeit stärken, zwischen der emotionalen Interpretation eines körperlichen Signals und der tatsächlichen körperlichen Empfindung zu unterscheiden. Dies wird KlientInnen später in die Lage versetzen, emotionale Hypererregungen zu beruhigen, oder andersherum in einem untererregten Zustand sich selbst und ihre Emotionen vor einer motorischen Aktivierung emotional besser wahrnehmen zu können. Unabhängig von der verwendeten Körperpsychotherapiemethode müssen TherapeutInnen von jetzt an alle gewonnenen Informationen der Anfangssituation in der gegenwärtigen Bindungssituation des therapeutischen Settings berücksichtigen, z. B. ● die räumliche Distanz, die sie für die Arbeit mit den spezifischen KlientInnen für körperliche Interaktion wählen; ● das Herausarbeiten der Bedeutung körperlicher Gesten und Ausdrucksweisen unterstützen, in dem sie diese verstärken; ● durch Feedback die unbewussten Körpersignale der Situation erkunden; ● oder das Bewusstsein für Körperbereiche schärfen, die das Gefühl von Wohlbefinden und Sicherheit stärken; ● u. a. m. Während dieser Phase werden TherapeutIn und KlientIn durch die bestehende Bindung geschult: TherapeutInnen in der Auswahl geeigneter Interventionen und KlientInnen in der Fähigkeit, ihren emotionalen Zustand während der Erinnerungsarbeit in einem angemessenen Rahmen zu halten, dem sogenannten „Toleranzfenster“ (Odgen et al. 2010, 67). Es muss genügend emotionale Ladung für die Arbeit vorhanden sein, damit die Erinnerungen nicht bloß verbaler Natur bleiben, und zugleich darf nicht zu viel emotionale Ladung entstehen, die die Fähigkeit der KlientInnen zur Integration des Erlebten einschränken würde (Breuer / Freud 1955, 85). Das „Social Engagement System“ lehrt beides: TherapeutInnen werden in der Wirkung ihrer Methoden geschult, und KlientInnen lernen, mit emotionalen Erregungszuständen ihres Systems umzugehen, ohne posttraumatische, emotionale Reaktionskaskaden zu aktivieren, die sie in der Vergangenheit erlebt haben. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass die Erkundung der Möglichkeiten für Berührung unter Beachtung des Bindungsgefühls in der Posturalen Integration immer der eigentlichen Arbeit am Gewebe vorangeht und in dieses eingebettet wird. In der Posturalen Integration als bindungsorientiertem Therapieverfahren verstehen KollegInnen die Arbeit mit dem Atem als eine Form der Arbeit an den Beziehungsmustern (Wehovsky 1994, 133-139) Berührung und Affektregulation 3 | 2019 121 und kombinieren diese mit Berührungen und Gewebearbeit sowie die Arbeit mit Meridianen, wie sie durch die traditionelle chinesische Medizin Eingang in den körpertherapeutischen Methodenkanon gefunden hat (Schlage 2012, 6). Das Körperbewusstsein von KlientInnen zu schulen, meint, zuerst Körperbereiche zu etablieren, wo sie sich sicher und angenehm fühlen können und die später ihre Selbstregulation bei der Angst vor traumatischen Erinnerungen balancieren können, besonders wenn sie eine Tendenz dazu haben, sich ihren emotionalen Reaktionen ausgeliefert zu fühlen (also wenn sie eine Tendenz haben, ins Hyperarousal zu fallen), oder um ein sensitives Bewusstsein in Körperbereichen aufzubauen, das später zu emotionalen Reaktionen entwickelt werden kann (wenn sie eine Tendenz zum Hypoarousal haben). Und bedenken Sie Folgendes: Für KlientInnen mit Essstörungen ist Fasten nicht ein Teil der Lösung! Oder wenn Ihr / e KlientIn zu den 20 % der EuropäerInnen gehört, die unter Schlafstörungen leiden, ist Nicht-Schlafen definitiv kein Teil der Lösung des Problems. Das Gleiche gilt für Berührung: Bei durch körperliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch traumatisierten KlientInnen ist das Vermeiden von Berührung Teil des Problems und führt selten zur Befreiung vom Trauma. Nachdem Sie Ihren KlientInnen den psychischen Teil der Interaktion bewusst gemacht haben, entwickeln Sie als KörperpsychotherapeutIn Wege, um in näheren Kontakt mit ihnen zu kommen, und schließen dabei auch Berührung mit ein (zur Einschränkung von Berührung siehe weiter unten). Berührung ist Teil des Selbstregulierungsprozesses von Menschen (siehe auch die Konzepte des „Containment“ von Bion (1984) und des „Holding Environments“ von Winnicott (1990)). In dieser Phase beginnen wir jetzt implizit etwas anderes, was wir später, in der dritten Arbeitsphase, explizit tun werden: Wir entwickeln für KlientInnen eine sogenannte „Geschichte guter Berührungen“- - Berührungen, die unsere KlientInnen empfangen haben und für die sie kompetent sind (im Sinne von verantwortlich oder auch fähig, damit umzugehen). Einige KlientInnen haben Erinnerungsfragmente der Ursprungssituation ihres Traumas (Rosenberg et al. 1996). Andere haben aus anderen Quellen erfahren, dass etwas geschehen sein muss, oder sie fanden in der Anfangsanamnese Anzeichen von ungelösten, traumatischen Erfahrungen. Meist kann die Ursprungssituation nicht bewusst erinnert werden. Tatsächlich leiden KlientInnen oft unter Erinnerungslücken über eine lange Zeitspanne ihres Lebens oder im Besonderen in Bezug auf die frühe Kindheit. Daher beginnen wir, die KlientInnen für persönliche Erfahrungen von Berührungen zu sensibilisieren: Zum Beispiel erinnern wir sie an die Berührung der Mutter beim Stillen, den Kontakt der (groß-)mütterlichen Hand während des Windelwechselns, das Gefühl beim Streicheln des Kuscheltiers, den Hand- oder Körperkontakt zu Geschwistern, Erinnerungen an Pfoten von Haustieren, wie Meerschweinchen, Hasen, Hunde oder Katzen, an Körperkontakt mit Verwandten, z. B. beim Märchen-Vorlesen oder Fernsehen, Erfahrungen von Körperkontakt beim Sport oder Tanzen und nicht zuletzt guten verbindenden Kontakt, den KlientInnen aus früheren oder aktuellen Partnerschaften erinnern. Diese möglichen Erinnerungsfelder werden als zugänglich für KlientInnen auch beschrieben in „Das Trauma der Geburt“ (Rank 1998) und „The present moment in psychotherapy and everyday life“ (Stern 2004). Dabei entwerfen TherapeutInnen allmählich eine Landkarte der früher von KlientInnen erfahrenen guten Körperkontakte. Wie ein Puzzle werden Erinnerungen zusammengefügt. Zu Beginn sind es nur wenige Fragmente, aber schrittweise werden sich immer mehr Erinnerungsinseln um einen bestimmten Ort in der Kindheit entwickeln, die sich vielleicht um 122 3 | 2019 Bernhard Schlage ein Foto ranken oder die ein bestimmtes Alter betreffen. Manchmal sind es nur kleine Details, z. B. das Muster einer Tapete oder der Geruch in einem Raum, ohne genau zu erinnern, woher er kommt. Durch die ressourcenorientierte Arbeit an der Landkarte guter körperlicher Begegnungen beginnen wir zweierlei: Wir reaktivieren die Erinnerungen im Frontalhirn (van der Kolk et al. 1996), und gleichzeitig durchbrechen wir Muster der Amygdala-dominierten Traumareaktionen (Brewin 2001, 381). Dies wird nicht nur durch Gespräche erreicht. In einem Parallelprozess, in dem wir das Interesse der KlientInnen an unterschiedlichen Berührungen und Körperbereichen, die sich sicher anfühlen, wecken, folgen wir auch gespannt einer neuen Spur: der Spur der Berührung selbst und der Wahrnehmung unterschiedlicher Berührungsqualitäten durch die KlientInnen. Dies kann aktiv geschehen: TherapeutInnen laden ihre KlientInnen ein, die eigene oder die Hand des / r TherapeutIn zu erforschen. Dieses Verfahren berücksichtigt die Besonderheit der Organisation unseres Gedächtnisses, das besonders entwickelte Areale für Gesichter und Hände aufweist (Hampden-Turner 1986, 74 f ), und findet seine Begrenzung, wo traumasensible Erinnerungen berührt werden, bevor die Grundlagen für den Beginn der dritten Arbeitsphase geschaffen worden sind. Oder wir arbeiten an der Landkarte guter Berührungserinnerungen mehr passiv: KlientInnen empfangen unterschiedliche Berührungsqualitäten von TherapeutInnen. Am Anfang sind das einfache Berührungen, wie das Auflegen der Hand auf eine bestimmte Stelle, die sich für die KlientInnen angenehm anfühlt und bei denen es darum geht, Achtsamkeit in diesen Kontakt zu bringen. So mag es sein, dass ein / e KlientIn sich während der Berührung über ihre / seine Tendenz mit der berührten Hand zu verschmelzen bewusst wird oder dass eine entstehende Erstarrungsreaktion im Körper bewusst wird. Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei Körperpartien gewidmet werden, in denen die KlientInnen von körperlicher Gewalt betroffen gewesen sind: Hier können einfache Berührungen bereits traumatische Reaktionskaskaden auslösen, deren Regulation erst in einer späteren Arbeitsphase Bedeutung gewinnen soll. Dritte Phase: Die Traumalandschaft erkunden Wenn erste Veränderungen eintreten, unterstützen wir KlientInnen in ihren Fähigkeiten, Berührungen empfangen zu können: TherapeutInnen halten KlientInnen im „Hier und Jetzt“ (Stern 2004), z. B. damit sie mehr Bewusstheit über den Unterschied zwischen körperlicher Empfindung und der zugeordneten emotionalen Interpretation erlangen oder damit sie die Qualität der eigentlichen Berührung spüren lernen. Ist diese warm / kalt, scheint die Hautoberfläche unter der Berührung zu schmelzen? Oder kehrt die Fähigkeit der KlientInnen, sich von der Berührung abzuspalten, bzw. das Unvermögen, sich mit der Berührung zu verbinden, zurück? Fühlen sie ein Bedürfnis, sich auf die Wärme der TherapeutInnenhand zu beziehen, oder befürchten sie im Gegenteil, dass durch diese Hand etwas in ihren Körper eindringen könnte (weitere Vorschläge für Arten des Kontakts über Hände siehe Busch 2006)? Wir werden weiter unten in der Beschreibung der dritten Phase auf die nächsten körperpsychotherapeutischen Schritte eingehen (z. B. „Reaktivierung von Mikrobewegungen“ und die „Arbeit mit dem Affektzyklus“ u. a. m.). Bei SchmerzpatientInnen finden wir regelmäßig das unbewusste Muster, die Berührung als Blitzableiter für ihre Schmerzen zu benutzen. Und was mag passieren, wenn TherapeutInnen ihnen genau dieses Muster spiegeln? Diese Rückmeldung schult die Wahrnehmung von Unterschieden zwischen der von den KlientInnen vermuteten Absicht der Berührung Berührung und Affektregulation 3 | 2019 123 und ihrer erlebten Reaktion auf die Qualität der Berührung. KörperpsychotherapeutInnen können auch die Qualität ihrer Berührung ändern: kleinste Bewegungen einführen, Wärme oder Druck der Hand verändern (Schlage 2016). Damit unterstützen sie immer wieder die Selbstregulation der KlientInnen oder die bereits in früheren Phasen etablierte Bindungsregulation zwischen TherapeutInnen und KlientInnen. Das Anlegen von Übersichtskarten über körperliche Ressourcen, die sogenannten „Traumalandschaften“ (Herman 1992; Bundy et al. 2002), das Erkennen peritraumatischer Erinnerungen (Janet 1925) und die Zuordnung von Berührungsqualitäten (Lowen 1976) sind die Hauptziele zu Beginn dieser Phase. TherapeutInnen unterstützen diese Spurensuche von Berührungserfahrungen oder fördern das Explorieren von sogenannten „autonomen Mikrobewegungen“, um das Körperbewusstsein der KlientInnen für Körperbereiche, die sich starr oder dumpf anfühlen, wiederherzustellen. Wir erforschen dies in verschiedenen Körperbereichen: Zentrum / Peripherie, Vorder- und Rückseite, Beine, Arme, Gesicht oder Kopf. Dies beeinflusst die sensorischen Eingaben für die Regulation der dyadischen Erregung und Affektregulation, um so eine noch sicherere Beziehung zwischen beiden-- den TherapeutInnen und KlientInnen-- herzustellen. Diese Stabilisierung von neurophysiologischen Mustern des sogenannten „orbitofrontalen Kortex“ ist die Basis für eine bessere Selbstregulation der KlientInnen, die wiederum auf einem feiner abgestimmten Bindungssystem und einer sicheren Bindung fußt. Laut Schore (2009) ist es der sensorische Input, der diese Entwicklung ermöglicht. Am Anfang der dritten Phase sollten TherapeutInnen nicht das Trauma direkt anvisieren. Sie eröffnen lediglich eine Sammlung von Erinnerungen. Werden diese zu früh interpretiert, beeinflusst die Interpretation selbst später die Art der Erinnerung. Besonders wenn der Verdacht des sexuellen Missbrauchs von KlientInnen besteht, braucht es sowohl für die KlientInnen als auch die TherapeutInnen Zeit, um folgende Unterschiede in der Erinnerung identifizieren zu können: ● Die Phantasien der KlientInnen von Sex mit einem Erwachsenen oder nahen Verwandten können einen unbewussten, ungelösten Konflikt aus der ödipalen Phase der normalen psychosexuellen Reifung anzeigen. ● Die Erinnerungen entsprechen einem induzierten „False Memory Syndrom“ aus anderen, vorherigen psychotherapeutischen Behandlungen (Loftus 1997). ● KlientInnen haben eine Erinnerung an einen tatsächlich stattgefundenen sexuellen Missbrauch. Auch wenn KlientInnen in dieser Arbeitsphase normalerweise ambivalent mit solchen Erinnerungen umgehen, müssen sich TherapeutInnen mit jeder Form von Interpretation zurückhalten, bis beide genügend Puzzlesteile der „Ursprungssituation“ gesammelt haben, um zu unterscheiden: Was ist passiert, wann, wo und welche Personen waren involviert? Diese Integration der Erinnerungen dient der Überwindung bestehender Verdrängungen und der Aktivierung / Stabilisierung der präfrontalen Erinnerungsfelder im Gehirn unserer KlientInnen und bedarf der Versprachlichung (van der Kolk et al. 1996). Während die in der KlientInnen-TherapeutInnen-Beziehung oder durch die Selbstregulation der / s KlientInnen entwickelten somatischen Ressourcen aktiv bleiben, setzen wir die Arbeit an den mehr traumaspezifischen Abläufen durch verschiedene Arten von Berührung fort. Wir berühren: ● verschiedene Körperbereiche (z. B. Vorderseite der Beine, Arme, Schultern, …) ● verschiedene Ebenen dieser Bereiche (z. B. oberflächlich auf der Ebene der Meridiane, tiefer auf der Ebene faszialer oder muskulä- 124 3 | 2019 Bernhard Schlage rer Erinnerungen oder ganz tief im Gewebe der Knochenhaut (Periost)) ● mit unterschiedlichen Berührungsqualitäten (z. B. indem wir dem Kontakt folgen, Mikrobewegungen einladen, tiefere Emotionen hervorrufen, etwas schützen u. a. m.) Während wir das tun, vervollständigen wir die Karte der „Traumalandschaft“ der KlientInnen, und wir beginnen, Traumaspuren im Gedächtnis zu verfolgen. Besondere Aufmerksamkeit legen wir dabei auf Veränderungen in bestimmten Körperbereichen bei emotionaler Erregung bzw. Veränderungen in der Orientierung oder Bewusstheit. Und wir schulen die KlientInnen darin, diese Veränderungen auch wahrzunehmen. Wir unterbrechen den Ablauf von automatischen Traumareaktionen durch Methoden des Groundings und des Embodiments, die wir in den vorherigen Arbeitsphasen etabliert haben, und wir beginnen, nach unvollständigen Abwehrreaktionen zu suchen. Besonders traumatisierte KlientInnen erleben festgefahrene affektmotorische Aktivitäten, deren Auftauchen erfahrene TherapeutInnen durch kleine Bewegungen an der Körperperipherie erkennen können: z. B. Finger- oder Fußbewegungen, die in Phasen der Körperarbeit unwillkürlich erscheinen. Diese können „gepirscht“ werden, um herauszufinden, welche beginnenden Kampf- oder Fluchtaktivitäten darin reaktiviert werden können. Im Bewusstsein der Existenz von ca. 700 Nervenrezeptoren in einem Quadratzentimeter der Haut (Juhan 1992) verwenden KörperpsychotherapeutInnen auch verschiedene Arten der Berührung, um über diese Rezeptoren Basisregulationsmechanismen des autonomen Nervensystems zu stimulieren: Beispiele sind: ● die sogenannten Golgi-Organe, um den Muskeltonus zu regulieren (siehe Schlage 2016); ● die Pacini-Rezeptoren, um das propriozeptive Feedback der KlientInnen zu erhöhen, ● und speziell die Aktivierung der Ruffini-Rezeptoren für ein Herunter-Regulieren des sympathischen Teils des Nervensystems (Rywerant 1987; Schleip 2012, 151). Sehr wahrscheinlich reagiert während der Körperarbeit das für den Ablauf von Emotionen zuständige limbische System, und entgegen des überholten Paradigmas des „Ausagierens“ (van der Hart et. al. 1993, 165) erkennen KörperpsychotherapeutInnen darin unterschiedliche Phasen von emotionaler Aufladung. Mit Hilfe des Modells des Affektzyklus (Schlage et. al. 2012, 209-223) verstehen sie die spezifischen Phasen, die Emotionen im Laufe der Aktivität des limbischen Systems durchlaufen, und variieren ihre Berührungsqualitäten hin zu einer verbesserten emotionalen Regulation. Dabei gibt es Phasen, die bei traumatisierten Menschen besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Zusammenfassend unterstützt Berührung in der Posturalen Integration die Regulierung von Emotionen in den sogenannten „Stromschnellen“ (Kurtz 1985, 83 ff ) und sie schmilzt „eingefrorene emotionale Energie“ (Levine / Frederick 1998, 195), was eine Metapher für die Reaktivierung von Mikrobewegungen ist. Wir fördern das Vertrauen der KlientInnen, emotionale Wellen in den verschiedenen Phasen des Affektzyklus selbst regulieren zu können, und setzen bewusst das im vorherigen Therapieverlauf trainierte Bindungssystem als Fremdregulation durch Feedback ein. TherapeutInnen können in diesem Falle Reaktionen der Orientierung und der besseren Erdung unterstützen, indem sie die Körperempfindungen in Bereichen explorieren, die sich für KlientInnen sicher anfühlen. Wenn es KlientInnen nicht gelingt, ausreichend ihr Kampf- oder Fluchtsystem zu aktivieren, können wir die früher etablierten körperlichen Fähigkeiten aktivieren: Wir unterstützen z. B. das Erspüren der Mikrobewegungen und aktivieren ihre Selbstregulation, um sie aus dem Berührung und Affektregulation 3 | 2019 125 blockierten oder dissoziierten Zustand herauszuführen. Wir fördern die Fähigkeit, stärkere und tiefere Gefühle zu erlauben, während gleichzeitig das Bewusstsein für die nötige Reflexion entwickelt wird. Entsprechend des charaktertypischen Konfliktpotentials wählen wir verschiedene Arten, den Affektzyklus zu choreographieren, mit dem Ziel einer Neuausrichtung hin zu gesünderen, ausgeglichenen Menschen (Marivoet 2016). Schließlich kreieren wir Erlebnisse naher Verbundenheit und unterstützen dadurch die emotionale Neuausrichtung der KlientInnen (siehe vierte Arbeitsphase). Ogden et al. (2010) beschreiben die Notwendigkeit des Zusammenspiels zwischen tiefer, innerer und oberflächlicher Muskulatur für die Heilung emotionaler Traumata. Fogel (2013, 200 f ) beschreibt in diesem Zusammenhang eine Technik der „lauschenden Berührung“, die meines Erachtens die verwendete Qualität der Arbeit am Gewebe der KlientInnen gut wiedergibt. Die Vervollständigung von unvollendeten Abwehrmechanismen ist ebenfalls angezeigt, wenn KlientInnen Kampf- oder Fluchtimpulse zeigen, z. B. durch den Einsatz der Arme, um mehr Distanz zu schaffen, wenn die Beine nach etwas treten möchten oder sie Signale des Weglaufens zeigen. Dann suchen wir nach Möglichkeiten, diese unvollendeten Bewegungen abzuschließen. Vierte Phase: Von der Tragödie zum Triumph Diese Phase beinhaltet die sogenannte erfolgreiche Verkörperung von Erfahrungen und die Integration in den Alltag. Auch wenn dieser Artikel die Arbeit von KörperpsychotherapeutInnen mit traumatisierten KlientInnen in einem Phasenmodell beschreibt, so ist doch offensichtlich, dass reale therapeutische Verbindungen nicht nach Schemata ablaufen. Hier wäre insbesondere die derzeit öffentlichkeitswirksam beworbene „Schematherapie“ (Roediger 2009) kritisch zu erwähnen, ebenso wie die manualbasierten körperorientierten Therapiemethoden, wie sie von Frank Röhricht (2011) für die Behandlung von essgestörten KlientInnen entwickelt worden sind. Posturale Integration als bindungsorientiert arbeitendes Therapieverfahren orientiert sich daher für die Auswahl therapeutischer Arbeitsweisen am Bindungsgefühl zwischen KlientIn und TherapeutIn. Oftmals kommen gerade in dieser Phase einige bisher unbekannte Erinnerungen hoch, gerade wenn das Ende der Therapie bevorsteht (Steele et al. 2005). Das Hauptziel dieser Phase ist die Umsetzung der erlernten Werkzeuge der Selbstregulation und des Bindungssystems im alltäglichen Leben (Brown et al. 1998). Auch während intimer Bindungserfahrungen nehmen wir uns Zeit, um die hilfreichen Selbstverteidigungs- und Eigenermächtigungsmuster aus früheren Phasen zu stabilisieren. Wir versuchen, KlientInnen darin zu unterstützen, mehr Intimität auch im Kontakt mit anderen Bezugspersonen oder Verwandten erleben zu können (Brown et al. 1998). Oftmals leiden KlientInnen nach traumatischen Erfahrungen unter der Unfähigkeit, befriedigende Beziehungen erleben zu können. So geraten sie z. B. zu leicht in Umstände, in denen sie Sorge für andere Menschen übernehmen (Sable 2004), oder in symbiotische Beziehungen unter Verlust des Gefühls für angemessene Distanz und Eigenwahrnehmung. Oder sie fallen in paradoxe oder parentifizierte Bindungsmuster (Minuchin 1987), wo sie Verantwortung für Menschen aus ihrem Bezugssystem übernehmen, deren eigentliche Aufgabe (in intakten Familien) es wäre, für das Wohlbefinden der betroffenen KlientInnen zu sorgen. KlientInnen können lernen, dass Erdung, Zentrierung, Verbindung, stimmlicher Ausdruck, Augenkontakt und unser Bindungssystem es möglich machen, Kontakt und Intimität situations- und personenangemessen zu 126 3 | 2019 Bernhard Schlage gestalten. Es ist ein Unterschied, ob ich die Beziehung zu einer/ m KollegIn gestalte oder zu einer/ m guten FreundIn oder zu einem Familienmitglied, zu dem etwas mehr Abstand angeraten wäre. Juhan (1992) schreibt dazu, dass die TherapeutInnen neurophysiologische Wellen sensorischer und motorischer Informationen entlang der Nervenbahnen in den Gehirnen der KlientInnen erzeugen, die über ihre bisher gemachten Lebenserfahrungen hinausgehen. Dieses Neue füllt sensorische Lücken ihres Körperwissens bezüglich Sensitivität und Beweglichkeit und unterstützt sie auf neue Weise, in Beziehung zur Natur, Umwelt und in zwischenmenschliche Kontakte zu treten. Nach Janet (1925, 988) ist das Hauptmerkmal einer erfolgreichen Therapie, dass KlientInnen wieder Freude und Glück erfahren können. Dies kann zu neuen Hobbys führen wie tanzen, Sport treiben, gute Musik hören, zu neuer Farbwahl in der Kleidung oder zu sonstigen Veränderungen ihres unmittelbaren Lebensumfeldes. Wir unterstützen KlientInnen in allem, was wir als für sie förderlich herausgefunden haben, um dieser neuen Motivation, der Neuorientierung der Hirnfunktionen und den Intentionen des persönlichen Selbst zu folgen. In dieser Schlussphase sollten die TherapeutInnen auch selbst eine neue Sichtweise auf ihre KlientInnen entwickeln: weg von einem defizitorientierten diagnostischen Blick hin zu einer Sicht auf ihr Potential als Menschen (Dychtwald 1981), eventuell auch im Sinne der Verwirklichung des archetypischen Musters ihrer „Seele“ (nach dem Verständnis von Jung 2001). Fazit Zum Abschluss der Arbeit erscheint die alte Frage, mit der auch Religionen ringen: „Warum leiden Menschen unter Lebenserfahrungen? “ Auch wenn wir wissen, dass einige unserer weltweiten Probleme das Ergebnis menschlichen Strebens nach materiellem Gewinn sind, wissen wir, dass Menschen unterschiedlich auf eine gleiche Situation reagieren. Einige können auf harte Lebenserfahrungen später mit einem weichen Herzen zurückblicken und dabei bemerken, dass sie an diesen Problemen persönlich auf gute Weise gewachsen sind. Traumatisierte Menschen können in der körperpsychotherapeutischen Arbeit ihre Resilienz entwickeln und das Feld seelischer Resourcen, auf die sie zurückgreifen können, erweitern. Körperpsychotherapie bietet hier Lösungen an, die natürlich erscheinen: Auch wenn wir Techniken erlernen, so nutzen wir auf natürliche Weise unsere Stimme, um zu beruhigen; wir nutzen das Bindungssystem, um mittels unserer Körperpräsenz Beziehungen zu regulieren; und wir verwenden Berührungen, um einen sicheren Umgang (Containment) mit dem, was geschehen ist, zu ermöglichen. Schlage (2017) schrieb über spezielle Effekte bezüglich körperlicher Übertragungen in der Abschlusssituation, gerade in Bezug auf die TherapeutInnen. Wir können sagen, dass wir Entfremdung vom natürlichen Leben aufheben und versuchen, grundlegende Lebensfunktionen, wie ein Wohlgefühl im eigenen Körper, die Pflege guter Beziehungen und das Leben in einem gesunden Umfeld, wieder herzustellen. Für diesen Prozess kann der vorliegende Artikel vielleicht Hinweise sowohl für KlientInnen als auch für körperpsychotherapeutisch arbeitende KollegInnen geben. Literatur Bion, W. R. (1984): Learning from experience. Karnac, London Breuer, J., Freud, S. (1955): Studies in hysteria (1893-1895). Hogarth Press, London Brewin, C. R. (2001): A cognitive neuroscience account of posttraumatic stress disorder and its treatment. Behaviour Research and Therapy 39 Berührung und Affektregulation 3 | 2019 127 (4), 373-393, https: / / doi.org/ 10.1016/ S0005- 7967(00)00087-5 Brown, D., Schefflin, A., Hammond, D. (1998): Memory, trauma, treatment and the law: an essential reference on memory for clinicians, researchers, attorneys and judges. Norton, New York Bundy, A. C., Lane, S. J., Murray, E. A., Fisher, A. G. (2002): Sensory integration: theory and practice. F. A. Davis, Philadelphia Busch, T. (2006): Therapeutisches Berühren als reifungsfördernde Intervention. In: Marlock, G., Weiss, H. (Hrsg.) 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