eJournals körper tanz bewegung 7/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2019.art21d
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Medien & Materialien: Thomas Haudel/Tina Schubert: Studie zur Wirksamkeit ambulanter Biodynamischer Psychotherapie bei depressiven Erkrankungen

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Bruno Müller-Oerlingshausen
Es wird gerne gesagt, die Depression sei eine „Gemütskrankheit“. Die Wahrheit aber ist, dass die Depression in all ihren Ausprägungen immer auch eine Leibkrankheit darstellt. Eine rein kognitiv ausgerichtete Psychotherapie ist in Gefahr, diesen wichtigen Aspekt aus dem Blick zu verlieren. Jeder, der körpertherapeutisch mit depressiven Patienten arbeitet, kennt nicht nur die immer wieder geklagten somatischen Beschwerden, zum Beispiel Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, darniederliegende Sexualität usw., sondern er nimmt auch die häufig verkrampfte Muskulatur etwa der Finger oder die erniedrigte Hauttemperatur wahr. [...]
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Medien & Materialien 141 körper-- tanz-- bewegung 7. Jg., S. 141-146 (2019) © Ernst Reinhardt Verlag Thomas Haudel/ Tina Schubert: Studie zur Wirksamkeit ambulanter Biodynamischer Psychotherapie bei depressiven Erkrankungen Books on Demand, 3. Aufl., 2018, Norderstedt, 48 Seiten, 6,00 € (D) E s wird gerne gesagt, die Depression sei eine „Gemütskrankheit“. Die Wahrheit aber ist, dass die Depression in all ihren Ausprägungen immer auch eine Leibkrankheit darstellt. Eine rein kognitiv ausgerichtete Psychotherapie ist in Gefahr, diesen wichtigen Aspekt aus dem Blick zu verlieren. Jeder, der körpertherapeutisch mit depressiven Patienten arbeitet, kennt nicht nur die immer wieder geklagten somatischen Beschwerden, zum Beispiel Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, darniederliegende Sexualität usw., sondern er nimmt auch die häufig verkrampfte Muskulatur etwa der Finger oder die erniedrigte Hauttemperatur wahr. Pharmaindustrie und Psychiater haben vermutlich wesentlich dazu beigetragen, dass aus der Depression eine Krankheit mit hoher Rückfallhäufigkeit und verbreiteter Therapieresistenz geworden ist. Antidepressiva, die inzwischen jeder zehnte Europäer erhält, haben eine insgesamt sehr mäßige Wirksamkeit bei einem breiten Spektrum an teilweise gefährlichen unerwünschten Wirkungen, und auch die klassische Psychotherapie ist nicht immer erfolgreich. Gerade aus den USA wurde berichtet, dass depressive Patienten häufig sogenannte alternative Therapien bevorzugen, darunter insbesondere Massagen. Es liegen auch eine Reihe von wissenschaftlichen Studien vor, die eine positive Wirkung professioneller therapeutischer Berührung auf die depressive Symptomatik belegen (als Übersicht vgl. Baumgart et al. 2011). Im deutschen Heilmittelkatalog, der die physikalisch-medizinischen Maßnahmen auflistet, die innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherungen erstattungsfähig sind, kommt jedoch für psychiatrische Erkrankungen kein einziges körper-fokussiertes Verfahren vor. Wir benötigen deshalb mehr wissenschaftliche Studien auf diesem Therapiefeld, insbesondere auch in Deutschland. So ist es sehr zu begrüßen, dass die Gesellschaft für Biodynamische Psychologie / Körperpsychotherapie (GBP) die Studie von Haudel und Schubert in einer Broschüre zum Druck gebracht hat. Es handelt sich zwar nicht um eine kontrollierte, sondern eine offene Studie, bei der zudem eine große Zahl der ursprünglich rekrutierten StudienteilnehmerInnen aus verschiedenen technischen Gründen für die Auswertung nicht in Frage kamen, sodass schlussendlich nur 12 PatientInnen für die Auswertung verblieben. Dennoch ist die Studie positiv zu werten, denn es handelt sich hier um eine nachvollziehbare Intervention, deren Ergebnisse sehr sorgfältig und detailliert statistisch ausgewertet wurden. Die Tatsache, dass insgesamt sechs verschiedene TherapeutInnen tätig waren, mag angesichts der kleinen PatientInnenzahl kritisch gesehen werden, ist andererseits aber von Vorteil, weil es dadurch unwahrscheinlich wird, dass ein spezieller personengebundener Empathiefaktor für das Ergebnis verantwortlich war. Insgesamt erhielten die 12 ProbandInnen (11 Frauen, ein Mann) acht Kurzzeit- und vier Langzeittherapien mit einer durchschnittlichen Zahl von 28 Therapiestunden pro PatientIn. Besonders positiv erscheint, dass sehr gut geeignete, standardisierte und validierte Instrumente (Fragebögen) für die Dokumentation der Effekte verwendet wurden. Demnach hatten zehn Teilnehmer eine mittelschwere bis 142 3 | 2019 Medien & Materialien schwere Depression. In den meisten Fällen nahm die Depressivität, gemessen mittels BDI- II, deutlich ab, Ähnliches gilt für die psychische Belastung, bewertet mittels des SCL- 90-R. Erwähnt sei auch, dass sich im Greenhouse-Geisser-Test eine statistisch signifikante Verbesserung von Vitalität und Selbstakzeptanz zeigte. Weitere Teilergebnisse sind in der Broschüre detailliert dargestellt. Besonders verdienstvoll erscheint, dass Haudel und Schubert auch eine katamnestische Untersuchung nach sechs Monaten durchführten. Dabei zeigte sich, dass die eingetretenen positiven Veränderungen bei der Mehrzahl der ProbandInnen über diesen Zeitraum stabil geblieben waren. Die AutorInnen diskutieren ihre Ergebnisse durchaus kritisch, insbesondere auch im Hinblick auf den geringen Stichprobenumfang. Sie machen auch Vorschläge, in welcher Weise weitere Forschung über die Wirksamkeit Biodynamischer Psychotherapie gestaltet werden könnte. So stellt diese methodisch aufwendige Studie trotz ihrer situationsbedingten Schwächen quasi eine moderne Replikation des schon von Gerda Boyesen vor langer Zeit in Einzelfallstudien beschriebenen antidepressiven Effekts ihrer damals revolutionären Behandlungsmethode dar. Dafür sollten wir dem AutorInnenteam besonders dankbar sein, verknüpft mit der Hoffnung, es werde bald weitere qualitativ hochwertige Forschung auf diesem so wichtigen Feld der Körperpsychotherapie geben. Univ.-Prof. em. Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen DOI 10.2378 / ktb2019.art21d Literatur Baumgart, S., Müller-Oerlinghausen, B., Schendera, C. F. G. (2011): Wirksamkeit der Massagetherapie bei Depression und Angsterkrankungen sowie bei Depressivität und Angst als Komorbidität. Eine systematische Übersicht kontrollierter Studien. Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 21, 167-182