eJournals körper tanz bewegung 7/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2019.art28d
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2019
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Medien & Materialien: Ulrich Sollmann: Begegnungen im Reich der Mitte. Mit psychologischem Blick unterwegs in China

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Susanne Bender
Ulrich Sollmann: Begegnungen im Reich der Mitte. Mit psychologischem Blick unterwegs in China Psychosozial-Verlag, 2018, Gießen, 280 Seiten, 24,90 € (D)
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Medien & Materialien 4 | 2019 177 Ulrich Sollmann: Begegnungen im Reich der Mitte. Mit psychologischem Blick unterwegs in China Psychosozial-Verlag, 2018, Gießen, 280 Seiten, 24,90 € (D) U lrich Sollmann, Körper- und Gestalttherapeut, hat seit 2009 Kontakte zu Chinesen, was in den darauffolgenden Jahren zu regelmäßigen Vortrags-, Workshop- und Fortbildungsreisen nach China führte. In dem vorliegenden Erfahrungsbericht seiner Begegnungen in China zeigt der Autor zunächst nicht nur die Mentalität der Chinesen auf, sondern bezieht seine Subjektivität des Erlebens in lebendiger Weise mit ein, sodass ihm „plastisch, sinnlich und ungeschminkt klar wurde, dass nicht nur der Fremde fremd ist, sondern in jedem Kulturkreis auch ich fremd bin“ (S. 13). Sein reflektiertes Gewahrsein seiner Subjektivität schützt ihn vor vorschnellen Mentalitätsbeschreibungen der Chinesen. Immer wieder geht er reflektierend auf seine körperliche Resonanz und seine Gegenübertragungsphänomene im Kontakt mit chinesischen Zufallsbegegnungen, KollegInnen und KursteilnehmerInnen ein. Durch diese Erfahrungen wurden Vorurteile widerlegt und auch bestätigt. Er sieht sich selbst als „touristischer Forschungsmensch“ (S. 43), der seine Erfahrungen nicht objektiv wissenschaftlich beobachten will (wenn es denn so etwas überhaupt gibt), sondern die Welt der Chinesen erfahren, miterleben und in sie eintauchen möchte. So nahm er sich bei jeder Reise Zeit, die Umgebung zu erkunden und Alltagsbeobachtungen und -erfahrungen zu sammeln, die er sehr detailgenau und lebendig schildert. Er unterteilt das Buch in verschiedene Themenbereiche des Erlebens wie: erste Erkenntnisse; erste Begegnungsszenen; „Organisation“ von Chaos als China-Erfahrung; Lebenswelt, Lebensfeld, Lebensraum; Sehen, Schauen, Wahrnehmen, Betrachten von Menschen; Raumreise; „Mauern“ und „Räume“ usw. Da er sich als ausgewiesener Körpertherapeut bezeichnet und als solcher nach China eingeladen wurde, wartet man darauf, über diese Erfahrungen mehr zu lesen. Der Autor geht aber nur im letzten Kapitel: „Körper-zu-Körper-Kommunikation“ kurz auf die Erfahrungen der Körpersprache und des Körpererlebens der Chinesen ein, bleibt dabei aber sehr allgemein. Sollmann kann sich nicht richtig entscheiden, ob er von seinen subjektiven Erfahrungen berichten oder sich doch auf wissenschaftliche Bezugsrahmen einlassen möchte. Der zweite Aspekt wäre für den Informationsgehalt des Buches nicht notwendig gewesen, sondern lenkt meist von seiner lebendigen Interaktion zwischen seinen Innenräumen und den chinesischen Außenräumen der Begegnungen ab. In dieser Betrachtung wird ihm sehr klar, dass er immer vier Anwesende hat, die diese Begegnung formen: 1. er selbst mit seinem Wahrnehmungsapparat, 2. der jeweilige Chinese, 3. der oder die BegleiterIn / ÜbersetzerIn, 4. sein emotionaler Resonanzkörper. Sollmann beschreibt viele Erfahrungen, die ich als Chinaerfahrene ebenfalls teile. Er erfährt das starke Konkurrenzdenken gekoppelt mit der Forderung, nur für einen Geschäftspartner tätig zu werden. Auch er muss sich den ständig ändernden Planungen der Chinesen anpassen. Chinesen möchten zum einen die Unterrichtsinhalte auf Chinesisch lesen, weil meist das Englisch zu rudimentär ist, zum anderen Selfies mit dem Dozenten machen, sich intensiv mitteilen und Ratschläge bekommen. Sie sind in der Lage, sofort und überall 178 4 | 2019 Medien & Materialien einzuschlafen. Das Smartphone wird als Virtualität der Verkörperung angesehen und ist allgegenwärtig. Er musste immer wieder erfahren, dass Chinesen nicht gerne direkt Konflikte ansprechen. Jedoch hat auch er, wie alle Chinareisenden, die Aggressivität der Chinesen durch gegenseitiges Anschreien oder lautstarkes Rufen nach der Kellnerin erlebt. Sollmann stolperte über die sehr andere Fehlerkultur in China. Während im Westen Fehler analysiert werden, um sie zukünftig zu vermeiden, gilt es in China, den Verursacher eines Fehlers ausfindig zu machen und zu bestrafen. Sollmann geht auch auf die schwierige Funktion des Übersetzers ein. Ihm kommt zunächst eine fachliche Funktion zu, die schon schwierig genug ist. Er erfüllt aber auch eine Brückenfunktion zwischen den Kulturen. „Der Übersetzer wirkt zusätzlich als Transmissionsriemen, als Beschleuniger oder Besänftiger, indem er für unterschiedliche Qualitäten von Anschlussfähigkeit sorgen kann.“ (S. 94) Durch das Wegbrechen der psychosozialen Versorgung der ehemaligen staatseigenen Betriebe hat sich ein Boom in einem rasant wachsenden sozialen Bereich entwickelt, der sich auch in der steigenden Nachfrage nach westlichen DozentInnen zeigt, die aber letztlich im Dunkeln gelassen werden, wie genau die Chinesen das Gelernte übertragen. Sollmann nennt dies die chinesische Blackbox. So sehr sich der Autor größtenteils bemüht, das Erlebte als seine Erfahrungen und Beobachtungen mit seinen eigenen Wahrnehmungen und Resonanzräumen zu schildern, so sehr fällt er im Kapitel „Leben durch sich selbst“ in eine rein deskriptive Beschreibung der chinesischen Kultur, in der schnell nicht schnell genug ist, Beziehungen abrupt abgebrochen werden (etwas, das die Rezensentin nicht erlebt hat), ein spontaner Rückgriff auf kindliche Reflexe mobilisiert wird, die emotionalen Pferde immer durchgehen können, Emotionen gezügelt sind oder einfach ausbrechen, der „kleine Prinz“ behütet wird, man unbedingt die Nummer Eins sein muss, Schuldgefühle erweckt werden, wenn man plötzlich sichtbar wird, und die Kunst der Pragmatik gelebt wird. Auch wenn die rein körpertherapeutischen Beobachtungen und Erfahrungen in diesem Buch zu kurz kommen, was sehr bedauerlich ist, macht Sollmann doch eine interessante Unterscheidung zwischen dem Vertrauensaufbau im Kontakt. Für ihn scheinen die Chinesen eher durch die Bedingung des Kontaktes und der Beziehung Vertrauen aufzubauen als durch den Prozess der Beziehung. „Statt sich durch die Beziehungsszene in einen Beziehungsprozess zu begeben, zielt man auf ein neues Handeln ab.“ (S. 260) Nach seiner Beobachtung handeln die Chinesen, anstatt miteinander zu reden. In vielen von Sollmanns Beobachtungen finden sich die Erfahrungen der Rezensentin wieder. Einige sind aber auch unterschiedlich, z. B. was den Kontaktabbruch und den Körperkontakt betrifft. Da China noch sehr von starren Geschlechterrollen geprägt ist, kann dies vielleicht in der männlichen und weiblichen Erfahrung mit den entsprechenden Übertragungen (Vater-Mutter) begründet sein. Es bleibt unklar, wer der Adressat des Buches sein soll. Chinaerfahrene Leser werden (zum Trost) viel von dem wiederfinden, was sie selbst erleben, und gleichzeitig ermahnt Sollmanns selbstreflexive Haltung die LeserInnen, kritisch mit den eigenen Erfahrungen umzugehen. Für diesen Personenkreis enthält das Buch aber nicht viel Neues. Soll der Leser etwas über die Mentalität der Chinesen erfahren, so fehlt es an historischen Hintergründen, um diese Erfahrungen besser einordnen und verstehen zu können. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die deutschen LeserInnen mit der Geschichte Chinas vertraut sind. Wenn man z. B. bedenkt, dass die Kulturrevolution von 1966 bis 1976 nicht nur politische Verfolgung, Denunziation, Vernichtung von allem Tradierten und Vertreibung, sondern auch eine Hungersnot von ungeahntem Aus- Medien & Materialien 4 | 2019 179 maß bedeutete, zeigt dies, dass in den Kursen der westlichen DozentInnen Menschen sitzen können, die nicht nur von ihren Familien getrennt wurden, sondern auch erheblichen Hunger gelitten haben. Ich hätte mir gewünscht, dass die LeserInnen mehr in die Verschachtelung der Historie mit der jetzigen psychischen Verfasstheit der Chinesen mitgenommen werden. Und doch sensibilisiert dieses Buch alle Westler, die sich mit einem fest gezurrten Rucksack aus Vorurteilen in das Reich der Mitte aufmachen, um westliches Wissen und Denken zu implementieren. Susanne Bender DOI 10.2378 / ktb2019.art28d