eJournals körper tanz bewegung 8/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2020
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Pessotherapie

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2020
Wolfgang Wirth
Der Artikel skizziert die Entstehung der Pessotherapie und gibt hierzu eine Einführung. Die Pessotherapie, genauer Pesso Boyden System Psychomotor (PBSP), ist eine Körpertherapie, die von Diane Pesso-Boyden und Al Pesso, zwei Tänzern des Modern Dance, zwischen 1955 und 1960 erstmals konzipiert wurde. Bis zum Tod Al Pessos 2016 hat die Methode eine ständige, fast 60-jährige Weiterentwicklung erfahren. Sie hat ihren Ursprung in genauen Bewegungsstudien und Emotionsbeobachtungen bei der Ausbildung zum Modern Dance. In der Methode werden biografisch unerfüllte Bedürfnisse durch die Kreation „synthetischer Erinnerung“ befriedigt, was zu großer emotionaler Entlastung und Befreiung führt. Dadurch werden neue persönliche Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet.
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Fachbeitrag 154 körper-- tanz-- bewegung 8. Jg., S. 154-166 (2020) DOI 10.2378 / ktb2020.art27d © Ernst Reinhardt Verlag Pessotherapie Tanz der Gefühle Wolfgang Wirth Der Artikel skizziert die Entstehung der Pessotherapie und gibt hierzu eine Einführung. Die Pessotherapie, genauer Pesso Boyden System Psychomotor (PBSP), ist eine Körpertherapie, die von Diane Pesso-Boyden und Al Pesso, zwei Tänzern des Modern Dance, zwischen 1955 und 1960 erstmals konzipiert wurde. Bis zum Tod Al Pessos 2016 hat die Methode eine ständige, fast 60-jährige Weiterentwicklung erfahren. Sie hat ihren Ursprung in genauen Bewegungsstudien und Emotionsbeobachtungen bei der Ausbildung zum Modern Dance. In der Methode werden biografisch unerfüllte Bedürfnisse durch die Kreation „synthetischer Erinnerung“ befriedigt, was zu großer emotionaler Entlastung und Befreiung führt. Dadurch werden neue persönliche Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. Schlüsselbegriffe PBSP, Pessotherapie, Modern Dance, Körpertherapie, Körperpsychotherapie, Emotion, Bewegung Pessotherapy. The Dance of Emotions The article outlines the development of pessotherapy and introduces its foundations. Pessotherapy, called the Pesso Boyden System Psychomotor (PBSP), is a body therapy that was first conceived between 1955 and 1960 by Diane Pesso-Boyden and Al Pesso, two modern dancers. Until Al Pesso’s death in 2016 the method has undergone a constant, almost 60-year development. It has its origin in precise movement studies and emotion observations during training for modern dance. In the method, biographically unfulfilled needs are met by creation of „synthetic memory“, which leads to great emotional relief and liberation. This opens up new personal development opportunities. Key words PBSP, modern dance, body therapy, body psychotherapy, emotion, movement Biografischer Hintergrund D iane Boyden (1929-2016) entstammte schwierigen Familienverhältnissen: Diane war die Älteste von fünf Kindern. Sie gab bereits im Alter von 14 Jahren Tanzunterricht, um die schwierige finanzielle Situation ihrer Familie zu verbessern. Mit 16 hatte sie schon Hunderte von Tanzschülern. Außerdem war Diane eine hervorragende Schülerin (Pesso 2020). Sie erhielt ein Stipendium für das renommierte Bennington College, das sie von 1948 bis 1950 besuchte. Diane berichtete, dass sie einmal als junge Frau bei der Rückkehr Pessotherapie 4 | 2020 155 Abb. 1: Al Pesso als Tanzmodel bei Gertrude Shurr (Shurr / Yocom 1980, 143) vom Studium in ihr schwieriges Elternhaus bemerkte, dass sie sich körperlich schlecht fühlte, weil sie sich sorgte, sie könne dort kritisiert werden. Ihr wurde klar, dass dies nur ihre Erwartung, ihre Fantasie sei, die sich durch schwierige frühere Erfahrungen aufgebaut hatte. Sie fragte sich, was sie dagegen tun könnte. Sie dachte sich, dass die Lösung im Körper zu finden sein müsste, da die unangenehmen Gefühle auch körperlich waren (Perquin 2016). So gelangte sie zu einer frühen Erfahrung der räumlich-körperlichen Organisation von Erinnerungen. Diane studierte neben Tanz auch Physiologie, um zu einem vertieften Verständnis dieser körperlichen Phänomene zu gelangen. Später war sie Schülerin von José Limón und Barbara Mettler, der Begründerin des Creative Dance, und Mitglied in der Boston Dance Company von Limón (Howe 1991). In einem ihrer wenigen Interviews gab Diane an, 156 4 | 2020 Wolfgang Wirth dass das Konzept der Idealen Eltern von ihr entwickelt worden sei (Perquin 2016). Es spezifiziert die räumlich-emotionale Beziehungsantwort auf kindliche Bedürfnisse. Sie unterrichtete Tanz an verschiedenen Liberal Arts Hochschulen und an der Sargent Hochschule der Universität Boston. Al Pesso (1929-2016) entstammte einer orthodoxen jüdischen Familie. Er hatte vier ältere Brüder und eine ältere Schwester, litt aber unter ihnen. Bereits als Junge begann Al mit Bodybuilding, um sich zu stärken (Kaufman 2020). Ein Stockwerk über dem Bodybuilding-Studio lebte die Freundin des Bodybuilding-Lehrers, die Modern Dance lernte und ihn erstmals zum Unterricht nach Greenwich Village mitnahm. Al war völlig fasziniert und begann mit 17 Jahren mit Unterricht bei Gertrude Shurr-- in ihrem Buch „Modern Dance“ (1949) ist er auf verschiedenen Bildern zu sehen. Al war bezaubert vom Avantgarde-Tanz und Avantgarde-Theater im New York der 1940er und 1950er Jahre. Er verließ nach einiger Zeit Shurr, die sehr eifersüchtig reagierte, um Schüler von Martha Graham zu werden. „But it wasn’t the dance of exhibition, it was the dance of emotional expression (…). It was Martha Graham stuff. She wanted to touch the truth about existence. And she did a lot of that deep psychological stuff, and I was just enthralled.“- - „Sie war eine Göttin für mich. Ihr Sinn für Rituale, für griechisches Drama, bei dem alles eine Bedeutung hatte, war phänomenal.“ (Pesso 2012b, Howe 1991) Graham faszinierte Al Pesso durch ihre tiefe authentische Suche nach der inneren Wahrheit und dem psychologischen Wesenskern des Menschen durch den Tanz. Sie schrieb: „Ich glaube, das Wesentliche des Tanzes ist die Ausdruckskraft des Menschen-- die Landschaft seiner Seele. Es ist das Unerforschte, das unsere Sinneseindrücke lenkt. Es ist die ewige Lebenskraft, das äußerste Verlangen.“ Und „Jeder Tanz ist eine Art Fieberkurve, eine Niederschrift unserer Emotionen“.-- „Der Körper drückt das aus, was Worte nicht vermögen“. (Graham 1992, 10 f ) Graham war zutiefst von der existentiellen Wahrheit von Bewegungen überzeugt. „Bewegungen lügen niemals.“ (1992, 12) Graham integrierte Rituale indianischer Kulturen in ihren Tanz. Sie enthalten für Graham spezifische primitiv aufgefasste „Energien“, die dem zeitgenössischen Tanz vitale und ästhetische Inhalte spenden (Huschka 2002, 217). Auch Al Pesso war von Ritualen fasziniert. Noch in den neuesten Formen der Pessotherapie spielen Rituale eine wichtige Rolle (z. B. principle mover, role-taking, derolling). Seine Tochter Tana beschreibt, dass ihr Vater bei Martha Graham Disziplin, aber auch die Perfektion des Ausdrucks kennenlernte. Hier entstand der Anspruch, dass der Tänzer die Pflicht und Verantwortung für das Publikum habe. Das Publikum schenkt dem Darsteller seinen Geist und seine Träume. Dies aufrecht zu erhalten und perfekt zu sein, sei die Pflicht des Tänzers, sonst zerreiße das Band zwischen den beiden (Pesso 2020). Martha Graham empfahl Al Pesso für ein Stipendium am renommierten Bennington College, wo sie schon seit 1934 unterrichtete (Graham 1992). Al und Diane In Bennington lernten sich Al und Diane kennen (Pesso 2020). Dort führten die beiden lange Gespräche über Tanz, Ausdruck und Emotionen, verliebten sich und heirateten gegen den Willen ihrer Eltern. Dianes Eltern hatten Angst, dass durch die Heirat die Karriere ihrer bereits erfolgreich tanzenden Tochter leiden würde. Diane war eine weitaus bessere Tänzerin als Al (Pesso 2020). Al Pessos jüdisch-orthodoxer Vater zerriss sich das Hemd zur Hochzeit und sagte: „Ich habe keinen Sohn Albert mehr.“ Nach der Heirat zogen die beiden nach New York und versuchten als Tänzer, Choreografen und Tanzlehrer des Modern Dance in New York wirtschaftlich Fuß zu fassen, Pesso tanzte, choreografierte für Broadwayaufführungen, Pessotherapie 4 | 2020 157 Diane tanzte und arbeitete unter anderem mit John Cage zusammen. Als ihre wirtschaftliche Situation immer schwieriger wurde, zogen die Pessos 1956 nach Qunicy (Boston) in die Heimatstadt von Diane zurück. Dort eröffneten sie gemeinsam ein Tanzstudio, und Al wurde Assistenzprofessor und Direktor der Tanzabteilung am Emerson College (PBSP 2019). Beide Pessos wurden nach dem Wegzug aus New York depressiv. Ihnen fehlte die pulsierende intellektuelle Großstadt, der Kontakt zur Künstlerszene, die KollegInnen des Modern Dance. Keine großartige Karriere als Tänzer machen zu können, war für beide eine schmerzhafte Enttäuschung eines großen Wunschtraumes (Pesso 2012a). Beide begannen mit eigenen Psychotherapien. Sie empfanden ihre Therapien nur begrenzt als hilfreich, besonders Al war bestürzt, wie die Psychotherapie seiner Zeit durchgeführt wurde. Al und Diane diskutierten beide jeweils ihre Therapiestunden und setzten sie manchmal in emotionale Bewegungen um. Vom Tanz zur Therapie In seinem Thesenpapier zu Beginn seiner Tätigkeit als Assistenzprofessor für Tanz am Emerson College skizzierte Al Pesso, was für die Ausbildung eines Tänzers des Modern Dance wichtig sei. Pesso betonte die Bedeutung des Lebendigen, des Ausdrucks von Gefühlen und des Sichtbarwerdens von Leidenschaften im Tanz (Pesso 1963). Im Tanz sollte die innere Wahrheit des Menschen sichtbar werden. Zentral für Pesso war der emotionale Ausdruck. Die gezeigten Emotionen offenbarten die Seele des Tänzers. Sie zeigten das dramatische Tableau seiner Psyche. Pesso rekurrierte auf den Tanztheoretiker Jean Georges Noverre, der bereits 1803 gefordert hatte, für ausdrucksvollen Tanz die Leidenschaften des Menschen zu erforschen (Noverre 1803). Der Ausdruck sollte so sein, dass der Zuschauer Abb. 2: Al Pesso und Diane Boyden am Bennington College Abb. 3: Al Pesso und Diane Boyden-Pesso in ihrer Wohnung in New York 158 4 | 2020 Wolfgang Wirth die menschlichen Gefühle versteht, also das Drama in der Brust des Tänzers erkennen kann. Dies entsprach in weiten Teilen dem Vorgehen Pessos, dem Klienten durch Microtracking (siehe unten) kontinuierlich seine Gefühle zu geschilderten Szenen rückzumelden. Dadurch konnten die Gefühle erkannt und verfügbar werden. Besonders unterstrich Pesso (1963) den Einfluss des Tanz- und Bewegungstheoretikers Delsarte (1811-1871) auf den gesamten Modern Dance. Die Denishawn School, an der u. a. Martha Graham ausgebildet wurde, berief sich direkt auf Delsarte (Shawn 1988). Auch Laban und das Deutsche Tanztheater gelten als von Delsarte beeinflusst (Pesso 1963; Vertinsky 2009). Delsarte beobachtete, welche Bewegungen, Gesten und welcher stimmliche Ausdruck in menschlichen Emotionen gezeigt wurden. Pesso übernahm weitgehend Delsartes Auffassung, dass sich jede Bewegung in drei Bewegungsarten unterteilen lässt. Bei Delsarte sind dies die nach außen gerichtete physische Bewegung, die nach innen gerichtete gedanklich gesteuerte Bewegung und die in einer schwebenden Balance gehaltene emotionale Bewegung (Pesso 1963). Pesso griff diese Dreiteilung auf und formulierte sie in seinem späteren Training als Reflexbewegung, Willkürbewegung und emotionale Bewegung. Delsarte ging von einer Lebenskraft aus, die mit Bergsons élan vital in Verbindung gebracht wird (Brandstetter 2015). Pesso knüpfte, ohne diese Verbindung explizit zu nennen und vielleicht auch ohne sie zu kennen, auch mit seiner Idee eines endlessly evolving universe an die Theorie der schöpferischen Entwicklung von Bergson (2001) an. Diese Lebenskraft wurde bei Pesso in seiner späteren Theorie zur sogenannten Energie, die alle Handlungen auslöste. Pesso würdigte Laban als den wichtigsten Erneuerer des Verständnisses von Bewegung für den modernen Tanzes. Er wertschätzte besonders seine genaue Analyse und Klassifikation von Bewegung. Er betonte, dass Laban von einer Anstrengung ausging, die hinter jeder sichtbaren Bewegung stecke: eine nervliche „Energie“, die den Funken anfache, der dann in Bewegung überging. Gefühle auszudrücken war für Pesso die zentrale Aufgabe des Tanzes. Die Frage, die Pesso beschäftigte, war, wie es dem Tänzer gelingen kann, seinen Ausdruck zu kontrollieren. Dies geschehe durch die Bewusstheit seiner emotionalen Bewegung. Den eigenen emotionalen Ausdruck zu erschließen, sei nur ein Teil, der Beginn. Die emotionale Bewegung zu kontrollieren und als Ausdrucksmittel gekonnt einzusetzen, um die Emotionen des Zuschauers auszulösen, sei das Ziel (Pesso 1963). Um Bewegung zu verstehen, war es für die Pessos wichtig, die verschiedenen Arten von Bewegungen zu unterscheiden. Bewegungen können durch unterschiedliche Ursprungsbedingungen generiert werden. Es sind Reflexbewegungen, emotionale Bewegungen und willentliche bzw. Willkürbewegungen. Die Unterscheidung und Vermischung der drei Bewegungsarten ist die Grundlage für das Tanztraining und war es zunächst auch für die experimentellen Gruppen, aus denen sich die Pessotherapie entwickelte. Wenn ein Tänzer eine unmittelbare Willensbewegung mache, spüre das Publikum dies und erlebe, dass der Tänzer seinen Körper als ein Ding behandelt. Emotionale Bewegungen hingegen erfüllten den Tänzer. Sie entstehen aus Funktionslust, Funktionsenttäuschung oder Frustration. Eine Übung, die Pesso entwickelte, war, dass alle Tanzschüler im Kreis sitzen und ein Schüler sich in die Mitte des Kreises setzt, nichts tut, außer angestarrt zu werden, und zu spüren, wie es sich anfühlt, bzw. wie es auf ihn wirkt, von den anderen angestarrt zu werden. Solche Übungen wurden für die späteren therapeutischen Gruppen beibehalten bzw. angepasst. Der in der Mitte sitzende Tänzer sollte sich an emotionale Situationen erinnern, die anderen schauten zu, und er war sich dessen Pessotherapie 4 | 2020 159 bewusst. Wenn das Gefühl ihn erfüllt hatte, beendete er die Übung, kehrte an seinen Platz zurück, und ein anderer kam in die Mitte. Die Schwierigkeit der Übung, nichts zu tun, während man beobachtet wird bzw. sich seinen inneren Gefühlsvorstellungen hinzugeben, sei genau die gleiche, wenn der Tänzer auf der Bühne stehe. Dadurch sollte es dem Tänzer ermöglicht werden, das auf die Bühne zu bringen, was er möchte, ohne durch Fallstricke biografischer Belastungen daran gehindert zu werden. Der Tänzer sollte auch in der Lage sein, verschiedene historische Zustände seiner selbst emotional zugänglich zu machen und mit seinem Bewusstsein zwischen ihnen hin und her zu wechseln. Daraus entwickelte sich in der Pessotherapie das Verständnis verschiedener Zeiten und Bühnen, operationalisiert als Bühne der Gegenwart und Bühne der Vergangenheit. Pessos eigene Tanzentwicklung und die seiner Lehrerinnen Graham und Shurr waren bestimmt von der Suche nach dem Ausdruck innerer Wahrheit. Der Blick auf den Ausdrucksgehalt des Tänzers und Tanzschülers und seine Potentiale wurde zunehmend zu einem Blick auf die Entwicklungswünsche und Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen an sich. Durch ihre etwas unterschiedlichen Lehrer und Ausbildungen in Modern Dance, aber auch durch ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten inspirierten sich die Pessos gegenseitig. Diane hatte einen stärker bedürfnisorientierten Blick. Sie leitete Übungen zu Direct Emotion an. Dabei sollten Tanzschüler ihre Gefühle mit Bewegungen oder Lauten spontan und direkt ausdrücken. Diane fiel auf, dass Schüler nach dem Ausdruck von Wut oft energielos und zusammengesunken waren. In Anlehnung an das Kinderspiel, andere mit lautem Peng tot zu schießen, worauf der „Erschossene“ dann umfällt, forderte sie ihre Schüler auf, „getroffen“ zu reagieren, wenn jemand Wut ausdrückte. Überraschenderweise kam es dadurch nicht mehr zur Blockade von sogenannter Energie (Howe 1991). Wenn Rollenspieler eine negative Figur aus der Vergangenheit spielten, die nun in der Struktur durch einen Wutausdruck der zentralen Figur gehemmt oder in die Flucht geschlagen wurde, war eine enorm entlastende emotionale Wirkung festzustellen. Diese Phänomene wurden später als negative Anpassung (negative Akkommodation) an die Bedürfnisse des Klienten bezeichnet. Manche Schüler wurden scheinbar durch den Ausdruck von Wut blockiert, an ihre emotionalen Bedürfnisse zu gelangen. Diane suchte für sie einen Ausweg und konzipierte dafür die Ideale Elternübung (Howe 1991; Perquin 2016). Dabei wurde eine positive Anpassung an die Bedürfnisse des Klienten angeboten. Eine die Bedürfnisse des Klienten optimal befriedigende Interaktionserfahrung nannten die Pessos Akkommodation. Die Entdeckung des Akkommodationsprinzips im richtigen Alter und in der richtigen Verwandtschaftsbeziehung eröffnete den Weg zu heilenden neuen Erfahrungen, es enthält die zentrale Heilwirkung im Rahmen der Pessotherapie. Die Pessos erkannten, dass es zwei Arten von Figuren braucht: ein reagierendes negatives Ziel von Wut für eine negative Akkommodation, aber auch eine starke positive Figur, mit der neue Beziehungserfahrungen möglich gewesen wären, die ein Heilmittel (Antidot) für frühere Verletzungen, Verluste oder frühen Mangel bilden. Sie sahen, dass dieses Bedürfnis körperlich und psychisch ist (Howe 1991). Gleichzeitig erkannten sie noch deutlicher, wie wichtig soziale Interaktionen sind. Aus der körperlichen „Lebensenergie“ heraus steigen Bewegungsimpulse auf, die in Interaktionen münden und darin ihre Befriedigung und Bedeutung suchen und finden. Unter „Lebensenergie“ wird der innere Ausgangspunkt, der innere Motor für eine Bewegung verstanden, der aus dem élan vital entsteht. Für die Pessos ist es ein Lebensausdruck, der in eine Handlung mündet und über eine Umweltinteraktion nach einer Befriedigung und Erfüllung sucht. Sie formulieren hieraus ihren Leit- 160 4 | 2020 Wolfgang Wirth satz Energy- - Action- - Interaction- - (Satisfaction)- - Meaning (Pesso 2012b). Nachdem sie die heilende und persönlichkeitsverändernde Wirkung dieser Art Antidoterfahrung an sich und ihren Schülern erlebt hatten, entschieden sie sich (von ihren Therapeuten ultimativ aufgefordert, sich zwischen Therapie und diesen Experimenten zu entscheiden) gegen die Fortsetzung ihrer Therapien. In der Abgeschiedenheit der amerikanischen Kleinstadt Quincy in Massachusetts, abgeschnitten vom direkten Inspirationsstrom New Yorks, waren die Pessos auf sich geworfen. Sie gaben Tanzunterricht und intensivierten ihre Bewegungsstudien und Emotionsanalysen. Sie lasen dazu unzählige psychologische Bücher (Pesso 2020) und versuchten verzweifelt, Antworten auf das zu finden, was sie entdeckten (Perquin 2016). Dadurch nahmen sie viele Impulse verschiedener Therapierichtungen auf und integrierten diese implizit in ihre Therapieform. Fischer-Bartelmann (2005) stellt dazu fest, dass sich verschiedene therapeutische Schulen in der Pessotherapie wiederfinden. Das mag auch daran liegen, dass die Pessos über ihre fundierte Emotions-, Körper- und Bewegungsarbeit Wahrheiten der menschlichen Existenz gesucht und einbezogen hatten. Humanistische Therapieverfahren (Wirth 2019) finden sich darin besonders wieder. In ihrem emotions- und bewegungsalchemistischen Labor Ende der 1950er Jahre folgten sie immer weiter der Spur der Bewegungen, des Ausdrucks, der Bedürfnisse und des Lebens und verließen dadurch zunehmend das Feld des Tanzes. Manche Eltern zahlreicher Tanzschüler bemerkten diese Verlagerung ins Therapeutische und besuchten auch den experimentellen Tanzunterricht. Dadurch kam ein erster Kontakt zu einem örtlichen Psychiater zustande, und es entstanden erste therapeutische Gruppen, mit denen sie ihren neuen Weg vertieften. Gefühle uneingeschränkt und spontan ausdrücken zu können, ist ein wichtiges Ziel des Modern Dance und des Unterrichts von Diane und Al (Perquin 2016). Gefühle werden als existentielles körperliches Geschehen verstanden. In ihrem Tanzstudio ermutigten sie TänzerInnen, ihren Emotionen freien Ausdruck zu verleihen. Zwischen 1956 und 1961 führte besonders Diane mit ihren SchülerInnen unzählige Experimente und Beobachtungsstudien durch, um reine Gefühle ohne willentliche Kontrolle auszudrücken, die sie Direct Emotions nannte. So verschoben sie den Fokus ihrer Bewegungsstudien und Bewegungsexperimente vom Tanz auf zwischenmenschliche Interaktionen (Pesso / Pesso 1975). Die Pessotherapie: Pesso Boyden System Psychomotor (PBSP) Die Pessotherapie war zu Beginn eine reine Gruppentherapie. Innerhalb der Gruppe übernahmen Rollenspieler verschiedene darstellende Rollen für biografische Zusammenhänge, akkommodierende Rollen, aber auch Selbst- Anteile. Rollenspieler wurden über die bereits vorgestellten Übungen, die ursprünglich für TänzerInnen entwickelt wurden, auf eine möglichst gute Rollenübernahme vorbereitet. In seinen letzten Jahren begann Al Pesso, die Methode zunehmend auf die Einzeltherapie hin auszurichten und zu verfeinern. Diane sah Pessotherapie als persönlichen emotionalen Improvisationsprozess, bei dem innere Bewegung ihren Ausdruck findet (Howe 1991). Ein wichtiges Ziel der PBSP war für Diane emotionales Wachstum oder emotionale Nacherziehung (emotional reeducation) (Howe 1991; Perquin 2016). An die Stelle belastender Erinnerungen an unerfüllte Bedürfnisse der Kindheit und Fixierungen durch blockierte Gefühle sollten neue erfüllte synthetische Erinnerungen treten. Ein Leitspruch hierzu ist: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“ (Erich Kästner). Das tatsächliche, unbefriedigte Bedürfnis des Kindes wird über emotionales Spiegeln der Mimik, des Körperausdrucks und des Zusammenhangs Pessotherapie 4 | 2020 161 und Kontextes dieser Gefühle entlang des emotionalen Körpergedächtnisses aufgespürt (Bachg 2004). Ein Ziel ist es, defizitär erlebte biografische Erinnerungen mit dem zu ergänzen, was vermisst wurde, und synthetische neue Erinnerungen herzustellen, aus denen heraus ein anderer Umgang mit der Gegenwart und der Zukunft möglich wird. Dazu gehört eine nachträgliche Befriedigung emotionaler Bedürfnisse auf synthetisch-symbolische Weise (Bachg 2006). Dies soll Menschen dabei unterstützen, zu dem zu werden, der sie sind (Pesso 2008). Der Fokus der Therapie richtet sich von Anfang an auf die Empfindungsebene, weg von rationalen Überlegungen (Schrenker 2008). Darüber können wir das wahre Selbst befreien, herausarbeiten und stärken. Das wahre Selbst werde sichtbar und spürbar, wenn man sich frei und spontan gegenüber den körperlich empfundenen Bedürfnissen und ihren Befriedigungen öffnen kann. Die Pessotherapie ist entwicklungsorientiert und auf die Bedürfnisse eines Menschen ausgerichtet. Kindliche Bedürfnisse verlangen nach passenden Befriedigungen durch die frühen Interaktionspartner. Bleiben diese aus, kommt es zu emotionalen Entwicklungsblockaden, die körperlich über Erstarrungen, Gefühllosigkeit oder Ausagieren fixiert würden. Ein weiteres Entwicklungsziel der Pessotherapie ist die Integration von Polaritäten (Schrenker 2008). Dazu gehört zum Beispiel, die Unterschiedlichkeit der Eltern für sich zu bewältigen und zu integrieren, aber auch kraftvolle und empfindsame oder rationale und intuitive Seiten einzubeziehen. Je passender und angemessener die Eltern für die Kinder da sind, desto besser gelingt es dem Kind, die verschiedenen Seiten der Eltern in sich selbst zusammenzubringen. Grundbedürfnisse Über den freien Emotionsausdruck (Direct Emotion) in ihrer Experimentalgruppe (Perquin 2016) wurde Diane mit verschiedenen unerfüllten Bedürfnissen konfrontiert. Durch sorgfältige Beobachtung der gezeigten Bedürfnisse und ihrer Erfüllungen sowie durch intensive Lektüre entwicklungspsychologischer Literatur kristallisierten sich insgesamt fünf Grundbedürfnisse heraus. Zuerst begannen die Pessos, das Bedürfnis nach Nahrung zu erkennen, dann über weitere Beobachtung und entwicklungspsychologische Theorie kamen Unterstützung, Schutz, Begrenzung und Platz hinzu. Diane betonte, dass diese Bedürfnisse im richtigen Alter von der richtigen Person erfüllt werden müssen, um eine erfüllende neue Erinnerung sein zu können (Perquin 2016). Wenn Bedürfnisse auf die richtige Weise befriedigt würden, komme es zu einem zunehmend wahren Selbst (Pesso 2003a). Strukturen Die Rekonstruktion des historischen Kontextes der Gefühle sowie die Konstruktion befriedigender Interaktionen nannten die Pessos von Beginn an Struktur (Pesso / Pesso 1975; Pesso 1969). Bis heute heißen alle therapeutischen Sitzungen so. In einer Struktur arbeiten Klienten aus ihren inneren emotionalen Zuständen heraus. Rollenspieler übernehmen die gewünschten Interaktionsprozesse. Die Tanzelemente blieben in den Strukturen enthalten. Es sind vom Klienten kreierte, individuell angepasste Choreografien, Aufführungen und Darstellungen (Pesso / Pesso 1975). Ihre Kenntnis authentischer Bewegungen und Gefühle erlaubte es den Pessos, ihren Klienten zu helfen, selbst zu ihrem authentischen „seelischen“ Kern vorzudringen und die daraus spontan entstehenden Bewegungen, Bedürfnisse und Gefühle auszudrücken und zu befriedigen (Pesso / Pesso 1975). Kunst war für sie der künstlerische Ausdruck des Selbst. Die Pessos führten in ihrem Verständnis ihre künstlerische Arbeit fort, aber nicht mehr mit TanzschülerInnen, sondern mit KlientInnen, denen sie halfen, die sogenannte Seele als Quelle künstlerischen 162 4 | 2020 Wolfgang Wirth Handelns und innerer Wahrheit zu heilen (Pesso / Pesso 1975). Der Strukturbegriff erweiterte sich später auf fünf zeitlich aufeinanderfolgende Arbeitsbereiche (Perquin / Rehwinkel 2008): 1. Therapeutische Arbeitsbeziehung etablieren 2. Problematische Szene aus der Gegenwart aufgreifen 3. Zusammenhänge der gegenwärtigen Schwierigkeiten mit vergangenen biografischen Erfahrungen herstellen 4. Korrigierende emotional-körperliche Erfahrung erleben (Antidot, neue Erinnerung) 5. Integration der neuen Erfahrung und Transfer der emotionalen Veränderung auf die aktuelle Szene (neue Perspektive) Arbeitsbündnis: Als wichtig wird zunächst ein ausreichendes Arbeitsbündnis und therapeutisches Klima erkannt. Dazu gehört der Wunsch des Klienten, etwas über sich herauszufinden. Diane sagte zu Beginn einer Therapiegruppe, dass sie auf den Körper achten werde, der manchmal etwas anderes wolle, als der Klient sage (Pesso-Boyden 1987), wodurch sie manchmal in Widerspruch zu dem geraten könne, was der Klient sage. Allerdings habe der Therapeut eher die Rolle eines Hilfs-Regisseurs, der dem Klienten behilflich ist, sein inneres Drehbuch optimal zu realisieren (Schrenker 2008). Im gesamten Verlauf behält der Klient die vollständige Kontrolle über die therapeutische Situation. Die Selbstbestimmtheit und Autonomie des Klienten wird jederzeit mit großem Respekt geachtet (Schrenker 2008). Der Therapeut folgt der emotionalen und körperlichen Spur des Klienten. Er kreiert eine Möglichkeitssphäre für den Klienten. Dies ist ein psychologischer Raum, der alle Gefühle, Bewegungen, Bedürfnisse oder Impulse mit vielen Jas und umfassender Zustimmung willkommen heißt (Pesso 2003a). Der Seele („soul“) soll dadurch die Botschaft vermittelt werden: Alles, was in dir ist, kann hier ins Leben kommen. Die Möglichkeitssphäre enthält alle möglichen und notwendigen Antworten auf die Bedürfnisse des Klienten. Die Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis des Klienten werden zudem deutlich unterstützt. Der sich selbst beobachtende, kontrollierende und steuernde Anteil des Klienten wird Pilot genannt. Pesso nennt ihn humorvoll den „Präsidenten der Vereinigten Staaten unseres Bewusstseins“ (Pesso 2005). Für ihn wird alles aufbereitet, ihm werden alle Informationen zugetragen, mit ihm wird verhandelt. Aus ihren eigenen unangenehmen Therapieerfahrungen heraus versuchten die Pessos, Übertragungsphänomene in der Therapie zu reduzieren. Dazu wurde in den 1990er Jahren die Figur eines Zeugen entwickelt (Perquin / Rehwinkel 2008). Der Zeuge ist eine positive Figur, die die Emotionen des Klienten zutreffend im Sinne eines subjektiv erlebten Gefühls spiegelt. In der ursprünglichen Gruppentherapie wurde er durch einen Rollenspieler dargestellt. Er sitzt neben dem Therapeuten und unterstützt diesen dabei, die Gefühle des Klienten zu beschreiben und dem Piloten verfügbar zu machen. In der Einzeltherapie symbolisiert der Therapeut den Zeugen, indem er die Hand hebt und spielt, als wäre da ein Zeuge. Er gibt diesem imaginären Zeugen seine Stimme und sagt zum Beispiel: „Wenn ein Zeuge hier wäre und ich gäbe ihm meine Stimme, dann würde der Zeuge sagen: Ich sehe, wie wütend du bist, wenn du an diese Situation denkst.“ In der Zeugenbotschaft wird die Emotion des Klienten benannt. Sie wird aus dem Gefühlsausdruck, also aus Mimik, Stimme, Körpersprache und dem Gesagten abgeleitet. Der Kontext, in dem dieses Gefühl auftaucht, wird ebenfalls benannt. Dieses Vorgehen wird Microtracking (Bachg 2004) genannt. Es bedarf einiger Übung, um Klienten live so begleiten zu können. Es bietet dem Piloten, also dem steuernden Bewusstsein des Klienten, die Möglichkeit, etwas über sich zu erfahren. Er kann bei voller Kontrolle seine Wahrnehmung und Gefühlsreaktion zu dem jeweiligen Pessotherapie 4 | 2020 163 Kontext reflektieren und überprüfen. Auf der Beziehungsebene weckt der Zeuge beim Klienten das Gefühl, wirklich gesehen zu werden, und beinhaltet bereits eine positive Beziehungserfahrung. Dadurch wird die Möglichkeitssphäre gestärkt. Das Microtracking hat große Ähnlichkeit mit dem Spiegeln aus der Gesprächstherapie. Aktuelle Szene: In der zweiten Phase wird die aktuelle Problematik des Klienten untersucht. Der Klient sagt beispielsweise: „Ich reiße mir bei der Arbeit die Beine aus und bekomme trotzdem keine Anerkennung von meinem Chef und den Kollegen.“ Es werden Platzhalter für den Chef und die Kollegen gelegt. Platzhalter repräsentieren alle Informationen, die der Klient mit einer Person, wie z. B. dem Chef oder Kollegen, verbindet. Wenn der Klient die aktuelle Szene beschreibt, können negative Kognitionen und Bewertungen dazu auftreten. Klient: „Ich bin vielleicht wirklich zu dumm für diese Arbeit.“ Diese Bewertungen werden vom Therapeuten als Stimmen operationalisiert. Stimmen sind häufig Überlebensstrategien, manchmal auch internalisierte Sätze von Bezugspersonen. In der ursprünglichen Gruppentherapie wird die Stimme durch einen Rollenspieler repräsentiert (Perquin / Rehwinkel 2008). Im Einzelsetting wird sie durch die freie Hand des Therapeuten angezeigt, die andere Hand ist schon durch den Zeugen besetzt. Es kann zum Beispiel eine abwertende Stimme sein. Der Therapeut sagt: „Das hört sich nach einer abwertenden Stimme an, die sagt: „Du bist zu dumm dafür“. Die Reaktion auf eine abwertende Stimme kann begleitet sein von schmerzhaft resignativer Zustimmung und einer zusammengesunkenen Körperhaltung.“ Der Klient kann dadurch zu einem Verständnis dafür gelangen, wie er seine innere Situation und seine Gefühle erzeugt. All dies findet in der Gegenwart statt und wird choreografisch als die Bühne der Gegenwart bezeichnet. Historische Szene: Nun versucht der Therapeut, eine Verbindung zur historischen biografischen Situation des Klienten herzustellen. Der Therapeut fragt „Woher kennst du das, wer hat dich so behandelt? “ Hier können Erinnerungen des Klienten an unangenehme Interaktionen aufkommen, wie: „Ja, mein Vater hat das zu mir gesagt.“ Nun kann ein weiterer Platzhalter für den Vater in den Raum um den Klienten gelegt werden. Dadurch können dessen Erfahrung und Erinnerung lebendiger werden. Dies offenbart die räumlich-körperliche Dimension unseres Gedächtnisses. Die alte Wunde wird kurz berührt. Der Zeuge bezeugt, wie sehr der Klient bei dieser Erinnerung leidet, und benennt seine Emotionen. Antidot und neue Erinnerung: Hier geht es um Umkehrungen und ideale Figuren: Als Antidot bezeichnet Pesso die der leidvollen Erinnerung entgegengesetzte, heilende neue Erfahrung in einer hypothetischen Vergangenheit. Im Antidot wird das Bedürfnis des Klienten gesehen und erfüllt. Dazu kommen emotionalkörperliche Passformen zum Einsatz. Durch ihre genaue Kenntnis der körperlichen Veränderungen bei emotionalen Prozessen gelangten die Pessos zu einem tiefen Verständnis ihrer Klienten. Gemeinsam stießen sie auf das Phänomen, dass Gefühle im Zusammenhang mit sozialen Interaktionen stattfinden. Sie entdeckten zuerst die negative Akkommodation bei Wut, indem sie ausprobierten, was für den Körper die passende Interaktion für Wut wäre. Für die negative Akkommodation wird dem Klienten, der Wut empfindet, ein Rollenspieler zur Verfügung gestellt, der von dem Ausdruck der Wut berührt wird und deutlich darauf reagiert, zum Beispiel betroffen zurückweicht. Hinter der Wut steckt der Schmerz des unerfüllten Bedürfnisses. Sie erkannten, dass die Bedürfnisse in biografisch passender Weise erfüllt werden müssen. Die Interaktionen müssen im richtigen Alter mit der richtigen Person imaginiert werden (Perquin 2016). In der Pessotherapie werden für solche alten, unerfüllten Bedürfnisse passende Befriedigungen gesucht. Schrenker und Fischer-Bartelmann 164 4 | 2020 Wolfgang Wirth (2003) nennen die passende Interaktionsantwort auf das emotionale Bedürfnis in Übersetzung zu Pessos unveröffentlichten Originalquellen das Form-Passform-Prinzip. Diese Interaktionsantwort-- das Antidot-- kann zunächst als erste Umkehrung ausprobiert werden. Sie ist das Gegenteil der negativen Erfahrung und negativen Botschaft der Stimme. Pesso (2012b) betont, dass der Körper weiß, welche Interaktionen ihn befriedigen. Wenn dies zur Verfügung steht, können wir es erkennen. Der Therapeut fragt den Klienten zum Beispiel, was er braucht und wie es wäre, wenn ein Vater, wie er ihn gebraucht hätte, da gewesen wäre. Wenn der Klient sich dieser Vorstellung öffnen kann und mit positiven Gefühlen reagiert, kann der Klient einen Rollenspieler für die Rolle eines neuen, idealen Passformvaters auswählen. Der Klient bestimmt, wo im Raum er den idealen Vater platzieren will. In der Einzelarbeit kann dies durch ein Objekt erfolgen, bzw. der Therapeut verweist auf die Stelle des Raumes, an die der Klient den idealen Vater platziert hat, und verleiht ihm seine Stimme. In der Gruppe lässt der Therapeut nun den Rollenspieler zum Beispiel sagen: „Wenn ich damals da gewesen wäre als dein idealer Vater, hätte ich gesagt: „Ich weiß, dass du es kannst.“ Im ursprünglichen und wirkungsvolleren Gruppenformat wird der Klient den durch einen Rollenspieler dargestellten idealen Vater im fortgeschrittenen Prozess häufig körperlich berühren wollen, um zu spüren und zu erleben, dass diese andere Möglichkeit real ist. Dadurch können seine unerfüllten Grundbedürfnisse körperlich befriedigt werden. Im Einzelsetting kann dies durch weiche Objekte geschehen, die zum Beispiel die Hand des Vaters auf dem Rücken symbolisieren. Wenn der Klient dies annehmen kann, kommt es zu einer sehr schmerzlichen Wahrnehmung, dass er einen solchen Vater nicht hatte. Die Trauer und der Schmerz darüber können sehr heftig sein. Gleichzeitig steigt aber auch Glück und Freude auf, diese Erfahrung in diesem Moment machen zu können. Der Therapeut versucht, die Erfahrung in das richtige Alter einzuordnen, um es als neue Erinnerung verfügbar zu machen: „Wie alt fühlst du dich gerade? “ Klient: „Vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.“ Therapeut: „Nimm diese Erfahrung als deine neue Erinnerung, wie du dich mit diesem idealen Vater gefühlt hättest, als du fünf Jahre alt warst.“ Zum Abschluss einer Struktur wird der Klient aufgefordert, das erfüllende Erleben, die Körperposition von ihm und den beteiligten Rollenspielern und die berührenden Sätze, die gesagt wurden, gut in sich aufzunehmen und in seinem Gedächtnis zu verankern. Choreografisch wird dies als die Bühne der alternativen oder heilenden Vergangenheit aufgefasst. Auf dieser Bühne wurde für den Klienten ein neues Stück, eine neue Erinnerung kreiert. Transfer auf die aktuelle Situation, Integration und neue Perspektive: Das Erleben der Passform, die Erfahrung der Befriedigung des ungestillten Bedürfnisses führt zu einem anderen emotionalen Zustand. Von diesem neuen, bedürfnisgesättigten inneren Ort aus lässt sich die schwierige aktuelle Ausgangssituation nochmals neu betrachten. Therapeut: „Wie ist es, wenn du jetzt auf deine Arbeitssituation schaust? “ Klient: „Mit so einem Vater hätte ich mich nicht so anstrengen müssen, hätte gelassen sein können. Da kann ich auch bei der Arbeit gelassener sein. Die Spannung ist nicht mehr da.“ Dem Klienten wird empfohlen, diese neue Erinnerung zu pflegen und zu bewahren. Holes in roles und Filme Der hier dargestellte klassische Ablauf einer Struktursitzung führte in vielen Fällen zu äußerst bewegenden, erfüllenden und heilsamen Erfahrungen, jedoch nicht immer. Manchen KlientInnen gelang es nicht, etwas für sich zu nehmen, etwas Gutes für sich zuzulassen und das Antidot anzunehmen-- sehr zu ihrer eigenen Enttäuschung. In klassischen Therapien wird ein solches Verhalten häufig als Widerstand interpretiert. Oft geschieht dies bei Kli- Pessotherapie 4 | 2020 165 entInnen mit mehrgenerationalen Traumata oder aus defizitären Ursprungsfamilien. Solche KlientInnen zeigen sich häufig parentifiziert, in malignen Loyalitäten gefangen und innerhalb ihrer Familiensysteme verstrickt. Anfang der 2000er Jahre brachte Pesso ein neues Konzept zur therapeutischen Lösung dieses Problems ein (Pesso 2003b). Wenn im Familiensystem eines Kindes Lücken bestehen, also wenn ein oder beide Elternteile ihre Rolle als Eltern nicht ausfüllen, entwickelt sich das Kind kompensierend in diese Fehlstelle hinein. Die Eltern waren vielleicht selbst traumatisiert, verletzt, behindert, verlassen oder krank. Es kommt zu einer Rollenumkehr, das Kind möchte sein Elternteil emotional versorgen, unterstützen oder beschützen. Wenn dies der Fall ist, friert das Kind die Fähigkeit ein, für sich Gutes anzunehmen. Dadurch dass das Kind selbst die Versorgung übernehmen muss, kommt es möglicherweise auch zu omnipotenten, narzisstischen Vorstellungen über sich und die Welt. In einer neuen choreografischen Inszenierung füllt der Therapeut die Lücken in dem Familiensystem auf einer imaginierten historischen Bühne wieder auf. Es werden ideale Eltern für das defizitäre Elternteil konzipiert, die ihrerseits die Versorgung dieses Elternteils übernehmen. Dadurch ist der Klient aus seinem Versorgungsauftrag für seinen Elternteil befreit. Pesso nennt dieses Therapieelement einen Film, da so getan wird, als ob es einen historischen Film gäbe, in dem diese nachträgliche Versorgung der realen Eltern stattfindet und den der Klient als Zuschauer sieht. Im Gruppensetting können die Filme mit Rollenspielern besetzt werden, im Einzelsetting durch Objekte. Durch diese Befreiung und Entlassung aus dem familiären Loyalitätssystem kann der Klient dann häufig zu seiner Überraschung das Antidot annehmen, sich berühren lassen und sich gegenüber seinen Bedürfnissen und deren Versorgung in lebenden Beziehungen öffnen. Fazit Al und Diane Pesso haben eine innovative Therapieform geschaffen, die sie zunächst über genaue Bewegungs- und Emotionsstudien aus dem Modern Dance entwickelt haben. Ihre vielfältigen anderen therapeutischen Quellen sind zum Teil wenig kenntlich gemacht worden. Im Zentrum dieser humanistischen Therapie steht eine explizite Bedürfnisorientierung. Der Umgang mit inneren Veränderungswiderständen erfolgt über das Externalisieren verinnerlichter Deutungsmuster und einer inszenierten symbolischen Befreiung aus familiären Verstrickungsmustern. Durch eine inszenierte symbolische Befriedigung offener alter Kindheitsbedürfnisse soll es zu einer Auflösung und Befriedung alter Fixierungen kommen. Dadurch sollen neue Handlungsmöglichkeiten für die Gegenwart eröffnet werden. Literatur Bachg, M. (2006): Die Kreation körperbasierter synthetischer Erinnerungen in „Pesso Boyden System Psychomotor“ (PBSP). Körper 7 (2), 164- 168, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-2006-932622 Bachg, M. (2004): Microtracking in der Pesso-Therapie: Brückenglied zwischen verbaler und körperorientierter Psychotherapie. Psychotherapie 9, 283-293 Bergson, H. (2001): Schöpferische Entwicklung. Adamant Media Corporation, Boston Brandstetter, G. (2015). Poetics of dance: body, image, and space in the historical avant-gardes. University Press, Oxford, https: / / doi.org/ 10.1093/ acprof: oso/ 9780199916559.001.0001 Fischer-Bartelmann, B. (2005): Einführung in die Pesso-Therapie. In: Sulz, S. K. D., Schrenker, L., Schricker, C. (Hrsg.): Die Psychotherapie entdeckt den Körper. Oder: Keine Psychotherapie ohne Körperarbeit? CIP-Medien, München, 277-301 Graham, M. (1992). Der Tanz-- mein Leben. Eine Autobiographie. 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