eJournals körper tanz bewegung 8/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2020.art03d
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2020
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Mich trifft der Schlag!

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2020
Susanne Bender
Tanztherapie mit neurologischen PatientInnen bietet mit ihrem Fokus auf die noch erhaltenen Fähigkeiten der PatientInnen eine wichtige Ergänzung zur medizinischen und physiotherapeutischen Versorgung, die sich auf die Behandlung, Behebung oder Reduzierung der Ausfälle und Defizite konzentrieren muss. Eine neurologische Erkrankung hat häufig eine soziale Isolierung zur Folge, und die Komorbidität der Depression ist nicht zu unterschätzen. [...]
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Fachbeitrag 16 körper-- tanz-- bewegung 8. Jg., S. 16-25 (2020) DOI 10.2378 / ktb2020.art03d © Ernst Reinhardt Verlag Mich trifft der Schlag! Tanztherapie in der neurologischen Rehabilitation Susanne Bender Tanztherapie mit neurologischen PatientInnen bietet mit ihrem Fokus auf die noch erhaltenen Fähigkeiten der PatientInnen eine wichtige Ergänzung zur medizinischen und physiotherapeutischen Versorgung, die sich auf die Behandlung, Behebung oder Reduzierung der Ausfälle und Defizite konzentrieren muss. Eine neurologische Erkrankung hat häufig eine soziale Isolierung zur Folge, und die Komorbidität der Depression ist nicht zu unterschätzen. Die tanztherapeutische Ausrichtung auf noch funktionierende Aspekte des Körpers und der Persönlichkeit und die Verbundenheit in einer Gruppe über bekannte Musik aus einer Zeit vor der Erkrankung geben den PatientInnen die Möglichkeit, Verbundenheit, Lebensfreude und Zuversicht zu erlangen und so aus der oftmals vorhandenen negativen Gedankenspirale auszubrechen. Schlüsselbegriffe Tanztherapie, Neurologie, Schlaganfall, Morbus Parkinson, Multiple Sklerose I am Hit by a Stroke. Dance Therapy in the Neurological Rehabilitation Dance therapy with neurological patients offers with its focus on the remaining abilities of the patients an important addition to medical and physical therapy services, which have to focus on the treatment, elimination or reduction of deficits associated with neurological problems. A neurological disease often implicates social isolation and co-morbid depression should not be underestimated. Dance therapy focuses on those aspects of the body and the personality that remain functioning as well as the relationships within a group setting; this is facilitated through familiar music from pre-illness periods and provides patients with the opportunity to gain bonding, zest for life, and confidence to break through the often prevalent spiral of negative thoughts. Key words dance therapy, neurology, stroke, Parkinson’s disease, multiple sclerosis H äufig wird den künstlerischen Therapien mit Recht der Vorwurf gemacht, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen der praktischen Anwendung hinterherhinken. Im Falle der Tanztherapie mit neurologischen PatientInnen hat es den Anschein, als sei es hier umgekehrt. Einer Vielzahl von Studien im Bereich Tanztherapie (Berrol et al. 1997; Coaten / Newman-Bluestein 2013; Earhart 2009; Hill 1999, 2009; Hokkanen et al. 2003, 2008; Tanztherapie in der neurologischen Rehabilitation 1 | 2020 17 Homann 2010; Hwang / Choi 2010; Jun et al. 2013; Koch et al. 2016; Kowarzik 2005; Michels et al. 2018), aber auch Untersuchungen zur Auswirkung von Tanz im Allgemeinen (u. a. Ashburn et al. 2014; Duncan / Earhart 2014; Hackney / Earhart 2010; Hackney / McKee 2014; Heiberger et al. 2011; Lewis et al. 2014; McGill et al. 2014; McKee / Hackney 2013; Shanahan et al. 2014; Sharp / Hewitt 2014) steht die Anwendung der Tanztherapie und anderer künstlerischen Therapien im neurologischen Setting nach. Nur wenige neurologische Rehabilitationen beschäftigen TanztherapeutInnen, obwohl dies ein Bereich ist, der verdeutlicht, wie sehr somatische Erkrankungen von großen psychischen Herausforderungen begleitet werden. Seit 2018 ist die Tanztherapie zusammen mit den anderen künstlerischen Therapien in den Empfehlungen zur psychologischen Behandlung für Parkinson-, Schlaganfall- und Multiple- Sklerose-PatientInnen verankert (Kampling et al. 2018). Im Folgenden möchte ich die tanztherapeutische Arbeit an der Asklepios Klinik in Bad Tölz vorstellen, um zum einen die Potenziale der Tanztherapie in diesem Bereich zu verdeutlichen und zum anderen einen praktischen Beitrag zur Anwendung der Tanztherapie mit diesen PatientInnengruppen vorzustellen. In dieser Klinik werden zwei Tanztherapiegruppen einmal pro Woche für eine Stunde angeboten. Eine PatientInnengruppe ist vollständig auf den Rollstuhl angewiesen, sodass die Tanztherapie im Sitzen stattfindet. Die zweite Gruppe ist mobiler, und die PatientInnen können entweder selbständig gehen oder sich mit einem Rollator fortbewegen. Der Grad der Mobilität kann sich in dieser Gruppe je nach Zusammenstellung sehr unterscheiden: von der Fähigkeit, lediglich ein Lied im Stehen zu tanzen, bis hin zu Rock ’n’ Roll-Tänzen und dem Durchtanzen des Blumenwalzers aus dem Nussknacker von Tschaikowski von über 11-Minuten Länge. In beiden Gruppen ist der Grad der mentalen und verbalen Klarheit sehr unterschiedlich, sodass bei den Interventionen darauf geachtet werden muss, dass niemand durch seine Einschränkungen beschämt und entwürdigt wird. Patientengruppe Für diesen Artikel wurden die Daten von 50 PatientInnen über einen Zeitraum von drei Monaten (September bis November 2017) ausgewertet. Das Geschlechterverhältnis war mit 26-Frauen und 24 Männern sehr ausgeglichen. Das Durchschnittsalter betrug 75 Jahre mit einer Altersspanne von 58-88 Jahren. Die PatientInnen nahmen im Schnitt nur 2,3 Stunden an der Tanztherapie teil, 22 % kamen sogar nur einmalig, die längste Teilnahme war 7 Stunden. Hier macht sich zum einen der neurologische Bezug des Therapieverständnisses bemerkbar. Die PatientInnen hatten ansonsten nur physio- und ergotherapeutische Einzelbehandlungen, sodass die Wichtigkeit eines Gruppenprozesses bei der Therapieplanung weniger erkannt wurde als der individuelle Nutzen für den einzelnen Patienten. So wurde häufig dem Wunsch der PatientInnen entsprochen, auch am Ende des Klinikaufenthaltes in der Warteliste nachzurücken und an der Tanztherapie teilnehmen zu können. 38 % der PatientInnen waren in der Rollstuhlgruppe, 62 % in der Rollator-Laufgruppe. Von den Krankheitsbildern war der ischämische Hirninfarkt, also der Schlaganfall, mit 50 % die größte Patientengruppe. Bei einem Hirninfarkt tritt eine plötzliche Minderdurchblutung des Gehirns und damit eine Minderversorgung mit Sauerstoff und Glukose auf, was ein Absterben der Nerven- und anderer Hirnzellen zur Folge haben kann. Die zweitgrößte Gruppe mit 26 % hatte unterschiedliche Diagnosen oder Symptome, die nicht eindeutig einer Diagnose zugeordnet werden konnten, was für die PatientInnen noch zusätzlich belastend war. Eine weitere große 18 1 | 2020 Susanne Bender Neurologische Erkrankung und Depression Aufgrund des Verlustes der Autonomie, der Komplexität der Symptome und der Langwierigkeit der Rehabilitation ist die Depression eine nicht zu unterschätzende Komorbidität. 40 % der SchlaganfallpatientInnen zeigen eine Post-Stroke-Depression, die sich auf den Rehabilitationsprozess ungünstig auswirkt (Piber et al. 2012). Leider gilt auch der Umkehrschluss. Depressive PatientInnen weisen ein deutlich erhöhtes Schlaganfallrisiko auf, ein Risikofaktor, der bisher in der Behandlung von Depressionen unterschätzt wird. Verständlicherweise spielt die Depression auch bei Morbus Parkinson und der Multiplen Sklerose eine Rolle (Piber et al. 2012). Insofern ist es essenziell, sich in der therapeutischen Versorgung der neurologischen PatientInnen nicht nur auf die Rehabilitation der neurologischen Schäden zu konzentrieren. Die Würde des Menschen ist unantastbar Für viele neurologische PatientInnen sind die Einschränkungen durch ihre Krankheit mit einem Gefühl des Verlustes der eigenen Würde verbunden. Umso wichtiger ist es, dass die Tanztherapeutin jede Situation vermeidet, die die Würde noch weiter verletzen könnte. Dazu gehört auch, dass es keine Rückmeldungsrunden gibt, da es immer PatientInnen gibt, die entweder klar denken, aber sich nicht oder nur verwaschen äußern können oder aber nur verwirrte Gedanken ausdrücken können. Der Kontakt über die Bewegung ist jedoch allen möglich, und die PatientInnen erweisen sich immer wieder als sehr sensibel, die Würde der anderen zu wahren. Eine Patientin hat Hochzeitstag und meint, sie sei eine Heldin, weil sie seit 43 Jahren verhei- Gruppe mit 20 % waren die PatientInnen mit einer Morbus-Parkinson-Erkrankung, einem progredienten Verlust von Nervenzellen unklarer Ätiologie, 4 % der PatientInnen litten an Multipler Sklerose, einer progredienten Autoimmunerkrankung unklarer Ätiologie, bei der im Gehirn und Rückenmark multiple Entzündungsherde entstehen, die fast jedes neurologische Symptom verursachen können. Die PatientInnen hatten im Durchschnitt fünf Nebendiagnosen, die es ebenfalls medizinisch zu berücksichtigen galt. Die Diagnose sagt oft wenig über den Zustand der PatientInnen aus. So kann eine Schlaganfallpatientin zwar als typisches Krankheitsbild eine Körperseitenlähmung aufweisen, aber geistig und sprachlich gut ansprechbar sein. Ein anderer Schlaganfallpatient kann sich gut bewegen, aber ist mental verwirrt. Bei dem einen Parkinsonpatienten erkennt man die Krankheit fast gar nicht (schon gar nicht beim Tanzen), während ein anderer sich mit vielen exzessiven und unkoordinierten Bewegungen zum Therapieraum begibt, sodass man befürchten muss, er falle im nächsten Augenblick. Die Diagnosen geben also keine Auskunft über das mentale und körperliche Erscheinungsbild der PatientInnen. Dies wird erst in der Therapie und im Kontakt deutlich. Was aber allen PatientInnen gemeinsam ist, ist die Wucht ihrer Diagnosen. Egal welche neurologische Diagnose vorliegt, sie trifft den Menschen immer wie einen Schlag. Beim plötzlichen Schlaganfall ist dies besonders deutlich, aber auch die Eröffnung der Diagnose einer progredienten Krankheit wie Parkinson und Multiple Sklerose wirkt wie ein Schlag, weil niemand weiß, wie sein Leben weiterverläuft und auf was er sich einstellen muss. Dieser Schockzustand verbunden mit der Hoffnung auf Reversibilität oder Stabilisierung der Symptome eint alle neurologischen PatientInnen. Tanztherapie in der neurologischen Rehabilitation 1 | 2020 19 ratet sei. Daraufhin fragt die Tanztherapeutin die reine Frauengruppe, wie lange jede verheiratet ist. Als eine zutiefst verwirrte Patientin gefragt wird und antwortet: „105 Jahre.“, meint eine Patientin: „Dann sind Sie die Super-super-Heldin“. Meist muss aber die Tanztherapeutin einen angemessenen Umgang finden, die PatientInnen im Erleben ihrer Einschränkungen nicht alleine zu lassen. Hierbei hilft die positive Umdeutung der neurologischen Ausfälle (Bender 2014). Nachdem die PatientInnen kreativ das Lied von Udo Jürgens „Du kannst nicht immer 17 sein“ in „Du kannst nicht immer 70 sein“ umgewandelt hatten, fragt die Tanztherapeutin nach dem Alter der PatientInnen. Ein Mann schaut sie nur an und lächelt. Die Tanztherapeutin fängt bei dem vermuteten Alter an zu raten, aber eine Spanne von ca. sieben Jahren verneint er immer wieder kopfschüttelnd. Seine Unfähigkeit, sein Alter zu nennen, deutet die Tanztherapeutin daraufhin um in „den Mann mit dem Geheimnis“, was er schmunzelnd zur Kenntnis nimmt. Genau wie in der Therapie im Allgemeinen ist der Humor auch für neurologische PatientInnen eine gute Möglichkeit zur emotionalen Distanzierung und zum Perspektivenwechsel der erlebten Erkrankung. Wenn in einer Stunde herzlich gelacht wurde, kommen meist spontane Kommentare von den PatientInnen, dass es von solchen Erfahrungen mehr bräuchte in der Klinik. Tanztherapie in der Neurologie Studien belegen eine hohe Wirksamkeit von Tanz und Tanztherapie für neurologische PatientInnen, bei denen nicht nur eine verbesserte Motorik, sondern auch eine emotionale Stabilisierung zu beobachten ist (Sharp / Hewitt 2014; Heiberger et al. 2011; Jun et al. 2013; Earhart 2009; Lewis et al. 2014). Da es sich bei der Tanztherapie um eine Psychotherapie handelt, liegt der Schwerpunkt der tanztherapeutischen Arbeit nicht auf der motorischen Rehabilitation, sondern auf der emotionalen Verarbeitung der neurologischen Diagnose und Folgeerscheinungen. Die kreative Auseinandersetzung mit Bewegung eröffnet Erfahrungsfelder, die sowohl zu einer emotionalen Stabilisierung als auch zu erweiterten motorischen Fähigkeiten führen können. Die Tanztherapeutin stellt den neuen PatientInnen die Tanztherapie immer folgendermaßen vor: „Hier in der Tanztherapie konzentrieren wir uns auf das, was trotz der Krankheit noch alles geht. Oft ist das mehr als man glaubt.“ PatientInnen, die bereits seit einiger Zeit an der Tanztherapie teilnehmen, können dies bestätigen. Somit wird direkt zu Beginn deutlich, dass die Tanztherapie kein weiteres Trainingsprogramm ist, sondern einen psychophysischen Schwerpunkt setzt. Gemeinschaft Wenn einen „der Schlag trifft“, bedeutet dies einen tiefen Einschnitt in der bisherigen Lebensführung. Neben der berechtigten Angst vor einem Rezidiv (Diener 2006) kommen häufig lange Klinikaufenthalte, Arbeitsunfähigkeit, eingeschränkte Kommunikation und Mobilität hinzu. Die PatientInnen sind aus ihren sozialen Bezügen geworfen und müssen sich neu orientieren. Dies hat häufig eine Isolierung zur Folge, die man auf den neurologischen Stationen gut beobachten kann. Die PatientInnen kommunizieren wenig miteinander, selbst wenn sie dies könnten. Daher ist ein wichtiger Auftrag der Tanztherapie, eine Gemeinschaft zu erzeugen, in der jede / r mit dem gesehen wird, was von der Krankheit nicht angegriffen wurde. Die Chace- Methode ist ein bewährter Ansatz, um Patien- 20 1 | 2020 Susanne Bender tInnen das Gefühl zu geben, gesehen und geachtet zu werden (Bender 2014; Chaiklin 1975). Sie hat keine Kontraindikationen (Koch et al. 2012). Die PatientInnen sitzen im Kreis, und die Tanztherapeutin achtet auf die kleinste Bewegung eines Patienten (z. B. Hände auf den Oberschenkeln reiben, leichtes Fußwippen, sanftes Strecken des Oberkörpers), um diese aufzugreifen, zu vergrößern und zu strukturieren. Dadurch kommen die PatientInnen in einen gemeinsamen Rhythmus, der sie psychophysisch miteinander verbindet. Dies ist häufig der erste Moment, wo sich die ansonsten regungslosen Gesichter der PatientInnen aufhellen. Da der Kontakt eines Menschen auch sehr davon abhängt, dass er weiß, wie sein Gegenüber heißt, wird viel Wert und Zeit auf das Lernen der Namen verwendet. So wird nach ein bis zwei Liedern eine Namensrunde eingeleitet, wo sich jeder den Namen des rechten Nachbarn oder der rechten Nachbarin merken muss. Aufgrund der Initiative der PatientInnen, die sich den Nachnamen noch schwerer merken konnten als den Vornamen, werden in der Tanztherapie die Vornamen der PatientInnen verwendet. Die Erinnerung wird manchmal dadurch erleichtert, dass man eine Person mit gleichem Namen kennt, eine kleine Geschichte dazu erzählt wird oder es ein Lied mit dem Namen gibt. In dieser Runde zeigen sich die unterschiedlichen mentalen Kapazitäten. Einigen ist es nicht möglich, sich den Namen des Nachbarn zu merken (was die Tanztherapeutin mit humorvoller Fehlerfreudigkeit kommentiert), wieder andere können nach einer Namensrunde die Namen aller PatientInnen aufsagen. Hier ist es Aufgabe der Tanztherapeutin, niemanden zu beschämen und unter Leistungsdruck zu setzen. Nach der ersten Namensrunde möchte die Tanztherapeutin die Namen für alle wiederholen. Herr Fresig schaut seine rechte Nachbarin an und sagt anstatt des richtigen Namens „Gerda“. Daraufhin meint die Tanztherapeutin: „Gerda ist auch ein sehr schöner Name, und er würde gut zu Ihrer Nachbarin passen. Aber sie heißt Luise.“ Daraus ergibt sich ein kleines Gespräch, welchen Namen die PatientInnen auch gerne gehabt hätten oder welchen die Eltern noch überlegt hatten. Kontakt Der Kontakt untereinander und zur Tanztherapeutin ist ein wichtiger Aspekt zur Reduzierung depressiver Symptome. Viele PatientInnen sind sehr in sich gekehrt. Die Tanztherapeutin und auch die MitpatientInnen können oft nicht erkennen, was in den PatientInnen vorgeht, zumal es neurologische Erkrankungen gibt, wie z. B. Morbus Parkinson, die ein Erstarren der Mimik zur Folge haben. Werden die PatientInnen nicht ständig von der Tanztherapeutin angesprochen, angeschaut oder angetanzt, versinken viele in ihre eigene Welt. Um den Kontakt auch untereinander im Kreis-- besonders für die RollstuhlfahrerInnen- - zu erleichtern, werden manchmal kleine Chiffontücher eingesetzt, mit denen im Rhythmus der Musik aufeinander zu getanzt wird. Die Tanztherapeutin kann dabei gut die Dynamik der Gruppe aufgreifen und wieder in einem Chace-Ansatz die Impulse der PatientInnen in Bewegungsbilder verwandeln. Durch die entsprechenden Bilder entsteht bei den PatientInnen ein Gefühl der „Universalität des Leidens“ (Yalom 2001). Alle kennen das Gefühl des Schocks, der Traurigkeit, Verzweiflung und Wut, was in diesen Bildern ausgedrückt werden kann, ohne dass es dafür eine sprachliche Befähigung braucht. Bei einer kleinen Gruppe von Rollstuhlfahrerinnen entsteht bei der Tanztherapeutin beim gemeinsamen Tuchtanz das Bild eines Hexenkessels. Dieses Bild greifen die Patientinnen begeistert auf: Es werden Ingredienzen in den Topf geworfen, bis schließlich eine Patientin mit großer Freude meint, dass der Topf jetzt explodiert und alle durch das Wundermittel geheilt sind. Tanztherapie in der neurologischen Rehabilitation 1 | 2020 21 Eine weitere wichtige Form des Kontaktes ist der Paartanz. In der Gruppe, in der PatientInnen einigermaßen stehen können, erheben sie sich nach dem Aufwärmen von ihren Stühlen (was oft schon mit großer Mühe verbunden ist), und die Tanztherapeutin achtet darauf, dass sich Paare finden, die sowohl vom Grundtemperament gut zusammenpassen, als sich auch gegenseitig gut stützen können. Es ist immer wieder erstaunlich, wie Menschen plötzlich mit einem Partner / einer Partnerin tanzen, die sich sonst nur mühsam mit einem Rollator bewegen können. Die Unterstützung durch einen Menschen scheint eine ganz andere psychische Wirkung zu haben als die Unterstützung eines Rollators. So kommt es immer mal wieder vor, dass ein Rollator im Raum vergessen wird und der / die PatientIn „freihändig“ die Therapie verlässt, ohne es zu merken. Eine weitere Form der Kontaktaufnahme ist bei den gehenden PatientInnen der Platzwechsel mit einem Partner / einer Partnerin und einem kleinen kreativen Duett in der Mitte des Kreises. Kreativität Den meisten PatientInnen ist es nicht vergönnt, wieder in den „alten“ Zustand zurückzukehren. Sie behalten bleibende Schäden und müssen deswegen ihr Leben neu gestalten. Hierbei kann der kreative Anteil der Tanztherapie einen wichtigen Beitrag leisten, denn die PatientInnen müssen auch ihr Leben mit kreativen Ideen umgestalten. Eine Patientin müht sich sehr ab, ihren paralysierten Arm mitzubewegen, was ihr aber nicht wirklich gelingt. Nach einer Weile kommt sie auf die Idee, diesen Arm mit Unterstützung des anderen Armes zu bewegen. Dadurch öffnet sich mental ein kleines Tor zu kreativen Lösungen für den Umgang mit dieser Einschränkung und zur Selbstannahme des nicht mehr funktionierenden Körperteils. Hautkontakt Da es sich bei den neurologischen PatientInnen der Tanztherapiegruppen um ältere Menschen handelt, erleben viele ein Defizit an körperlicher Berührung. So kommt es bei den Abb. 1: Ein Hexenkessel als Wundermittel 22 1 | 2020 Susanne Bender PatientInnen immer wieder zum spontanen Händehalten mit dem Nachbarn im Kreis, was die Tanztherapeutin aufgreift, sodass sich alle an den Händen fassen. Im Paartanz schmiegen sich die PatientInnen manchmal innig aneinander, und auch die Tanztherapeutin sucht immer wieder die sanften Berührungen der Hände oder Arme der PatientInnen. Es ist immer wieder berührend, wie gerne sich die älteren Menschen trotz Schulterschmerzen und -einschränkungen einlassen, sich an den Händen zu halten. Das Angebot der Tanztherapeutin, anstatt der Hand ein Tuch zu halten, wird dankend abgelehnt. Sexualität Häufig ist in den Gruppen eine halbwegs ausgewogene Verteilung der Geschlechter. Die Tanztherapeutin achtet bereits bei der Platzierung darauf, dass nach Möglichkeit Männer und Frauen abwechselnd nebeneinander sitzen. Das Erleben des Menschseins als sexuelles Wesen stellt eine wichtige Erfahrung dar, die bekräftigt, dass nicht alle Anteile des Lebens durch die Krankheit zerstört sind. Wenn ein Paar zu einem Rock ’n’ Roll zusammenfindet, entdecken beide plötzlich eine Lust und Lebendigkeit, die sie an ihre Jugend erinnert und die sie nicht mehr für möglich gehalten hätten. Besonders die Männer, die als Einführung zur Tanztherapie gerne meinen, dass sie nicht tanzen können, werden kraftvoll, lebendig und achtsam und entdecken in sich den Gentleman, den sie vergessen hatten. In der zweiten Tanztherapiesitzung kommt eine Patientin mit einem schicken Oberteil und geschminkt. Die Tanztherapeutin bemerkt und kommentiert dies sofort, woraufhin die Patientin meint: „Wenn man auf sein Äußeres nicht mehr Acht gibt, hat man sich selbst schon aufgegeben.“ Abschluss Da in Kliniken ein ständiger Wechsel von PatientInnen stattfindet, sind auch die Tanztherapiegruppen selten in konstanter Zusammensetzung. Zum Ende der Stunde fragt die Tanztherapeutin die PatientInnen, wer bis zur nächsten Sitzung entlassen wird. Auch wenn die Informationen aus unterschiedlichen Gründen (Verlängerungsanträge, geistige Verwirrtheit, Klinikabläufe) nicht zuverlässig sind, wird so deutlich, für wen dies die Abschiedsstunde war. Damit schließt sich wieder der Kreis des Gesehen-Werdens aus der Zugehörigkeit in die Trennung (Bender 2014). Da Abschiede Rituale brauchen, findet zum Abschluss jeder Sitzung ein Abschiedskreistanz statt, der immer zum gleichen Lied erfolgt. Er ist ganz einfach strukturiert, sodass er ohne große Anstrengung zu bewältigen ist. Im Vordergrund stehen zum Abschluss wieder die Gemeinschaft und Verbundenheit mit Abb. 2: Kontaktaufnahme in der neurologischen Rehabilitation Tanztherapie in der neurologischen Rehabilitation 1 | 2020 23 den MitpatientInnen. Deswegen ist es sehr wichtig, dass alle miteinander verbunden sind, d. h. es muss ein geschlossener Kreis entstehen. Dies braucht häufig ein wenig Kreativität, denn eine paralysierte Hand kann einen anderen Arm nicht fassen. Somit schaut die Tanztherapeutin, dass die PatientInnen so sitzen, dass jeweils eine intakte Hand die gelähmte einer anderen Person fassen kann. Ist dies für sie zu schmerzhaft, werden beide durch ein Tuch verbunden, was eine Person hält und an das Handgelenk der anderen Person gebunden wird. In der Rollstuhlgruppe wiegen alle bei der Melodie hin und her, und beim Refrain bewegen sich die Arme und der Oberkörper in die Mitte, sodass sich alle noch mal näher kommen und die guten Wünsche für die Person, die die Klinik verlässt, mit in den Kreis gegeben werden können. Können die PatientInnen halbwegs stabil laufen, so findet der Abschlusskreis im Stehen und Gehen statt. Bei der Melodie gehen die PatientInnen im Kreis in Tanzrichtung. Wenn es möglich ist, wird die Richtung gewechselt, und beim Refrain setzen alle einen Schritt in die Mitte, und die Arme schwingen in die Mitte. Wenn der Schritt für jemanden zu instabil ist, kann er auch nur die Arme in die Mitte schwingen. Hier werden ebenfalls die guten Wünsche für die EntlasspatientInnen in den Kreis geschwungen. Meist sieht man die PatientInnen, die am Anfang der Stunde stumm nebeneinandersaßen, nach Abschluss der Stunde fröhlich plaudernd oder sich unterstützend zurück zur Station laufen. Fazit Tanztherapie in der neurologischen Versorgung ist eine wichtige ganzheitliche Ergänzung für die ansonsten auf physische Wiederherstellung ausgerichtete medizinische und physiotherapeutische Behandlung. Die PatientInnen fühlen sich in der psychophysischen Komplexität ihrer eingeschränkten Lebensumstände gesehen und erkennen und erforschen intakte Bewegungsabläufe und mentale Fähigkeiten (z. B. Lieder erinnern). Besonders der kreative Anteil der Tanztherapie lässt sie neue Bewältigungstechniken entwickeln, die sie für die Rückkehr in einen Alltag, der von Einschränkungen geprägt sein wird, dringend benötigen. Dem hohen Anteil an Depressionen bei neurologischen Erkrankungen (Piber et al. 2012) kann somit entgegengewirkt werden. Schon mehrere PatientInnen äußerten sich spontan in der Sitzung: „Mit Musik geht alles leichter.“ Literatur Ashburn, A., Roberts, L., Pickering, R., Roberts, H. C., Wiles, R., Kunkel, D., Hulbert, S., Robinson, J., Fitton, C. (2014): A design to investigate the feasibility and effects of partnered ballroom dancing on people with Parkinson disease: randomized controlled trial protocol. JMIR research protocols, 3 (3), e34, https: / / doi. org/ 10.2196/ resprot.3184 Bender, S. (2014): Systemische Tanztherapie. Ernst Reinhardt, München Berrol, F., Ooi, W. L., Katz, S. (1997): Dance / movement therapy with older adults who have sustained neurological insult: A demonstration project. American Journal of Dance Therapy 19, 135-160, https: / / doi.org/ 10.1023/ a: 10223161 02961 Chaiklin, H. (1975): Marian Chace-- her papers. 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Klett-Cotta, Stuttgart Susanne Bender Tanztherapeutin, M.A., Ausbilderin, Lehrtherapeutin, Supervisorin BTD, ECP, HP Psych., Paar- und Familientherapeutin, leitet seit 33 Jahren das EZETTHERA, Europäisches Zentrum für Tanztherapie, arbeitet in einer neurologischen Abteilung in Bad Tölz. ✉ Susanne Bender Geyerspergerstr. 25 | D-80689 München www.ezetthera.de