eJournals körper tanz bewegung 8/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2020.art06d
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2020
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Medien & Materialien: Michael C. Heller: Körperpsychotherapie. Geschichte ‚Konzepte‘ Methoden

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2020
Thomas Harmsen
Das zu besprechende Buch „Körperpsychotherapie“ von Michael C. Heller ist lesenswert, aber keine leichte Kost. Wer sich entscheidet, es zu lesen, benötigt Ausdauer und Geduld. Denn – so die Überzeugung des Autors – wer die heutige Körperpsychotherapie verstehen will, muss sich ihren philosophischen und erkenntnistheoretischen Wurzeln zuwenden. [...]
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Medien & Materialien 34 körper-- tanz-- bewegung 8. Jg., S. 34-40 (2020) © Ernst Reinhardt Verlag Michael C. Heller: Körperpsychotherapie. Geschichte-- Konzepte-- Methoden Psychosozial-Verlag, 2017, Gießen, 743 Seiten, 79,90 € (D) D as zu besprechende Buch „Körperpsychotherapie“ von Michael C. Heller ist lesenswert, aber keine leichte Kost. Wer sich entscheidet, es zu lesen, benötigt Ausdauer und Geduld. Denn- - so die Überzeugung des Autors- - wer die heutige Körperpsychotherapie verstehen will, muss sich ihren philosophischen und erkenntnistheoretischen Wurzeln zuwenden. Aus diesem Grunde verwundert es nicht, dass Heller den Leser mitnimmt auf eine lange, abenteuerliche und manchmal beschwerliche Reise hin zu den Anfängen menschlicher Philosophiegeschichte. Dabei spannt der Autor im ersten Teil des über 700 Seiten umfassenden Buches einen weiten Bogen. Er reicht von den ursprünglichen Denkweisen der Inder und Chinesen über die griechischen Philosophien des Sokrates und Platons bis hin zu den aufklärerischen Ideen von Hume, Spinoza und Kant. Dieser erste Teil benötigt Zeit und Geduld, um sich auf die komplexen Darstellungen und Querverweise Hellers einzulassen. Wer dies jedoch macht, wird reich belohnt. Denn Heller belässt es nicht bei einer trockenen Zusammenfassung der großen Figuren der Philosophie, sondern er verwebt diese Denktraditionen mit den Diskursen der heutigen Konzepte moderner (Körper-)Psychotherapie. Allerdings kommen diese Verknüpfungen und Kommentierungen häufig sehr unvermittelt und überraschend. So schwenkt Heller schon mal vom platonischen Idealismus zu den energietheoretischen Modellen Reichs, die er salopp in den Kanon der platonischen Ideenlehre aufnimmt. Wie Platon suche auch Reich, so Heller, seinen Ausweg in einer idealistischen Weltlösung. Immer wieder sind diese Exkurse Hellers von damaligen Philosophen hin zu modernen Konzepten der Psychotherapieforschung eigenwillig und überraschend. Sie fordern einen heraus innezuhalten, nachzudenken und sich eine eigene Meinung zu bilden. Menschen, die sich für philosophische Zusammenhänge interessieren, werden an diesem ersten, 300 Seiten umfassenden Teil ihre Freude haben. Doch bei aller Erzählfreude des Autors stellte sich beim Lesen mehr als einmal die Frage, warum man diesen zeitraubenden Umweg durch die Ideengeschichte braucht, um sich den Grundlagen der modernen Körperpsychotherapie zu nähern. Die Antwort bleibt Heller dem Leser weitestgehend schuldig, so dass nur zwei Optionen bleiben: entweder durchzuhalten und zu hoffen, dass am Ende eine Auflösung folgt, oder aber direkt zum nächsten Abschnitt des Buches weiterzuspringen. Hier widmet sich Heller dann der jüngeren Geschichte der Körperpsychotherapie, und er ist ganz in seinem Element. Es ist ein flotter Ritt durch die Forschungshistorie der Körperpsychotherapie, der fesselt und Spaß macht. Es gelingt Heller nicht nur, den kulturellen Zeitgeist jener psychoanalytischen Anfangszeit in Wien und Berlin vielschichtig zu erfassen, sondern darüber hinaus beschreibt er brillant die Persönlichkeiten und Beziehungen der Männer und Frauen, die die Anfänge der Körperpsychotherapie bestimmten. Besonders erwähnt werden muss an dieser Stelle Hellers Auseinandersetzung mit den Arbeiten Wilhelm Reichs. Er würdigt ihn als Vater der modernen Körperpsychotherapie und schildert überaus kenntnisreich die verschiedenen Phasen des wissenschaftlichen Schaffens Medien & Materialien 1 | 2020 35 Reichs und ihrer Bedeutung für die heutige Körperpsychotherapie. Heller sympathisiert besonders mit den frühen Forschungen Reichs über die charakteranalytische Vegetotherapie, in der er psychoanalytisches, psychophysiologisches und körpertherapeutisches Wissen kreativ miteinander verwebt, um seine PatientInnen in ihrem Fühlen und Denken ganzheitlich zu verstehen. Dabei ist spürbar, dass der Autor mit der Figur Reich ringt und ambivalente Gefühle hegt. Mal lobt er Reich als glänzenden Praktiker und scharfen Denker, dann kritisiert er ihn auf der anderen Seite aufgrund seiner unwissenschaftlichen Orgon-Konzepte oder ob seines impulsiven und autoritären Verhaltens. Hier ist der Wissenschaftler Heller wertend, manchmal auch unsachlich und tendenziös. Die Inhalte werden hier nicht mehr sauber und präzise entwickelt, wie es an anderen Stellen der Fall ist. Spürbar ist außerdem, dass Heller die Körperpsychotherapie aus der Zentrierung um die Figur Wilhelm Reichs und seiner Energietheorien befreien möchte. Er hält sie für eine Sackgasse. Hier trifft er sich mit Ulfried Geuter, der sich, wie Heller, mit dem Gesamtfeld und der Geschichte der heutigen Körperpsychotherapie auseinandersetzt. Doch anders als Geuter, der die moderne Körperpsychotherapie als erlebenszentriertes Verfahren in der Tradition der humanistischen Psychologie verortet, versteht Heller die Körperpsychotherapie als eine organismische Psychotherapie, die ihren wichtigsten theoretischen Überbau in der Systemtheorie findet. Obwohl Heller seine Sympathie für die Arbeiten George Downings als wichtiger Neuerer moderner Körperpsychotherapie nicht verschweigt, bleibt in dem Buch weitestgehend offen, welche besonderen klinischen Implikationen sich aus seiner Sichtweise ergeben. Hier wäre es schön gewesen, wenn Heller sein System der organismischen Dimensionen anhand von Praxisdarstellungen konkretisiert hätte. In diesen sehr lesenswerten Darstellungen zur jüngeren Geschichte der Körperpsychotherapie ist es ein besonderes Anliegen Hellers, die Bedeutung des Psychoanalytikers Otto Fenichels neu zu verorten. Bisher galt Fenichel bei Reich und seinen Schülern als Inbegriff des „Verräters“. Einst Freund und Weggefährte Reichs, sei er es gewesen, der das Gerücht kolportierte, Reich sei psychotisch erkrankt und viele seiner Ideen seien Ausdruck seiner paranoiden Struktur. In seinen Ausführungen entwirft Heller nun ein gänzlich anderes und komplexeres Bild Otto Fenichels, wo er nicht nur als „peinlicher Onkel der Körperpsychotherapie“ erscheint. Einerseits zeigt Heller, dass Fenichel eine wichtige Rolle als Erneuerer im Feld der Psychoanalyse hatte und in seiner Bedeutung für die Anfänge der körperorientierten Psychotherapie bisher kaum gewürdigt wurde. Aber darüber hinaus zeigt Heller auf, welch prägenden Einfluss Fenichels Arbeiten auf viele skandinavische und auch amerikanische Pioniere der Körperpsychotherapie hatte, wie es etwa bei Trygve Braatøy und George Downing der Fall war. Zum Abschluss sei wertschätzend die Leistung des Übersetzers Bernhard Maul erwähnt. Ihm ist es mit einer einfühlsamen Sprache gelungen, eine sehr flüssige Übersetzung des Buches beizusteuern. Trotz aller genannten Einwände ist Hellers Buch eine überaus wertvolle Schatzkiste für das Feld der Körperpsychotherapie. Für zukünftige StudentInnen der Körperpsychotherapie dürfte das umfassende Werk als wichtige Quelle zur Forschungsgeschichte der körperorientierten Psychotherapie dienen. Aufgrund seiner Vielschichtigkeit ist das Fachbuch kaum geeignet für den interessierten Einsteiger in die Körperpsychotherapie. Vielmehr richtet es sich an die fortgeschrittenen StudentInnen und PraktikerInnen, die sich einen Überblick über Vielfalt und Herkunft der unterschiedlichen Methoden im Feld der heutigen Körperpsychotherapie verschaffen möchten. Dipl. Psych. Thomas Harms DOI 10.2378/ ktb2020.art06d