eJournals körper tanz bewegung 8/2

körper tanz bewegung
9
2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2020.art14d
41
2020
82

Wurzeln und Zukunft der Biodynamik

41
2020
Thomas Haudel
Du bist zusammen mit deiner Schwester Ebba Boyesen Gründerin und Leiterin der Europäischen Schule für Biodyna­mische Psychologie (ESBPE), die letztes Jahr ihr 25-jähriges Bestehen hatte. Was geht dir durch den Kopf, wenn du an deine langjährige Arbeit als Ausbilderin in der ESBPE denkst? Sowohl Ebba als auch mir ist spontan zunächst der Gedanke gekommen, dass [...]
9_008_2020_2_0006
76 körper-- tanz-- bewegung 8. Jg., S. 76-79 (2020) DOI 10.2378 / ktb2020.art14d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Vorgestellt Wurzeln und Zukunft der Biodynamik Ein Interview mit Mona Lisa Boyesen Thomas Haudel Abb. 1: Mona Lisa Boyesen D u bist zusammen mit deiner Schwester Ebba Boyesen Gründerin und Leiterin der Europäischen Schule für Biodynamische Psychologie (ESBPE), die letztes Jahr ihr 25-jähriges Bestehen hatte. Was geht dir durch den Kopf, wenn du an deine langjährige Arbeit als Ausbilderin in der ESBPE denkst? Sowohl Ebba als auch mir ist spontan zunächst der Gedanke gekommen, dass es nun schon 14 Jahre her ist, seit Gerda [Boyesen] im Dezember 2005 gestorben ist. Es fühlt sich an, als ob es gestern war, die Zeit vergeht wie im Fluge. All die Jahre, seit wir 1969 nach London gekommen sind, um uns Gerda anzuschließen und mit ihr zusammenzuarbeiten! So viele wundervolle Menschen haben seit damals unseren Weg gekreuzt und in nunmehr fast 50-Jahren unsere Seminare besucht. Gerdas erstes Training fand 1971 mit 16 Teilnehmern überall aus Europa statt. Ab 1975 arbeiteten wir dann im Acacia House und bauten unsere Ausbildung in Biodynamischer Psychologie und Psychotherapie auf. Und von 1977 bis 1992 gaben wir Sommerseminare im Chateau La Salle (Macon, Frankreich). Die ESBPE kam viel später. Wir haben sie 1992 gegründet-- nach ernsthaften Problemen in Gerdas deutscher Organisation. Es wurde uns immer bewusster, dass sich die deutsche Gesetzgebung veränderte und dass wir eine solide, gesellschaftlich akzeptierte neue Trainingsstruktur brauchten mit einem umfassenden und doch flexiblen Curriculum und einer Anerkennung durch die entsprechenden berufsständischen Organisationen wie der Europäischen Gesellschaft für Körperpsychotherapie. Wir haben unser neues Institut im Jahr 1992 gegründet. Am 1. Januar 1993 nahm es seine Arbeit auf und wird seitdem von unserer Geschäftsführerin Marianne Wailand-Ricklefs organisiert. Wurzeln und Zukunft der Biodynamik 2 | 2020 77 Wie steht es um die Zukunft eures Ausbildungsinstituts? Ebba und ich arbeiten immer noch viel in unseren Ausbildungsgruppen. Ich lehre ebenso in Tschechien, wo kürzlich die 7. Ausbildungsgruppe begann. Ebba wohnt in Frankreich und arbeitet dort auch im französischen Biodynamischen Institut, in England und einmal im Jahr in der Weiterbildung für Psychologische Psychotherapeuten, die Manfred Thielen in Berlin anbietet. Ab 2018 haben wir unser Trainerteam erweitert: Christiane Becker hat die früher von Eli unterrichtete Biodynamische Traumatherapie übernommen und gibt darin zusätzlich zu den Ausbildungsseminaren Anfang 2020 eine Weiterbildung in Hamburg. Dennis Heydrich und Weniamin Zervos sorgen jetzt als erfahrene Kollegen dafür, dass auch die männliche Seite gut repräsentiert ist, und eine weitere Kollegin arbeitet sich ein, um künftig die Geburtsarbeit zu leiten. Marianne Wailand-Ricklefs hat ihre Büroarbeit verringert, ist aber noch immer voll im Einsatz als Ausbilderin unserer Studenten. Sonja Sternberg als Biodynamikerin und Heilpädagogin und Marianne haben außerdem ein neues Konzept erarbeitet, das sie „Biodynamische Pädagogik“ nennen und für Fachkollegen gedacht ist, die mit Kindern arbeiten. Sie beginnen Anfang 2020 eine Weiterbildung darin, das könnt ihr auf unserer Homepage sehen [www.biodynamik.de]. Doris Rauen- Dietz unterrichtet unsere Studenten in Deep Draining. Ein entsprechendes Handbuch für diesen Kurs wurde erarbeitet, und ein neues Massagehandbuch ist auch in Arbeit. Unsere gut besuchte Homepage haben wir bereits vor einiger Zeit um zwei lebendige Filme zur Ausbildung erweitert. Unsere Trainer haben sich außerdem in kleinen Vorträgen zu verschiedenen Themen geäußert. Diese Filme veröffentlichen wir in regelmäßigen Abständen auf der Homepage und ebenfalls auf You- Tube. In Frankreich ist letztes Jahr ein Buch über Biodynamik erschienen, und wir haben vor, Gerdas Buch „Über den Körper die Seele heilen“ endlich auf Englisch herauszubringen, weiter planen wir eine dänische und eine tschechische Ausgabe im Boyesen-Verlag. Und es gibt eine neue englischsprachige Homepage: biodynamic.psychology.org. Ebba arbeitet darüber hinaus an einem Textbuch über Segmentale Vegetotherapie und Mona Lisa an einem Text über die Vermeidung frühkindlicher Störungen. Ihr seht, es passiert viel im biodynamischen Feld- - sowohl persönlich als auch professionell. Unsere Schule beginnt ein bis zwei neue Ausbildungsgruppen pro Jahr, und deshalb sind wir sehr zufrieden mit der ESBPE. Du hast zusammen mit deiner Mutter Gerda Boyesen das Buch „Biodynamik des Lebens“ geschrieben. Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Errungenschaften der Biodynamischen Psychologie, die auch heute noch Bestand haben? Die wichtigsten Errungenschaften der Biodynamischen Psychologie, die heute noch Bestand haben, sind in „Biodynamik des Lebens“ und anderen unserer Artikel beschrieben. Ich will hier nur einige Stichworte nennen: die organische Selbstregulation via Psychoperistaltik, Eingeweide- und Gewebepanzerung als Ergänzung zu Wilhelm Reichs Muskelpanzer und die therapeutischen Methoden, um diese Panzerungen zu lösen. „Primärpersönlichkeit“ (gesund) versus „Sekundärpersönlichkeit“ (angepasst/ neurotisch) sind weitere essentielle Begriffe, ebenso wie das Konzept des „Unabhängigen Wohlbefindens“. Unsere jahrelange Arbeit mit diesen Ansätzen hat uns immer wieder bestätigt, wie wirkungsvoll diese Konzepte in der therapeutischen Praxis sind. Von daher hat nichts davon heute an Aktualität eingebüßt! 78 2 | 2020 Thomas Haudel Was hat euch bewogen, Gerda Boyesens Buch „Über den Körper die Seele heilen“ in eurem eigenen Verlag neu herauszugeben? Gerdas Buch wurde seit seiner ersten Veröffentlichung in Deutschland (1987 im Kösel Verlag) sehr gut angenommen und hat in so wunderbar authentischer Weise die Entdeckung und Entwicklung ihres therapeutischen Ansatzes geschildert. Viele Menschen sind aufgrund dieses Buches in unsere Ausbildung gekommen, weil sie unsere Methode darin gut nachvollziehen konnten und sich davon sehr angesprochen fühlten. Als der Kösel Verlag vor einigen Jahren entschieden hat, das Buch nicht wieder neu aufzulegen, und das Buch nur noch antiquarisch zu bekommen war, waren viele sehr enttäuscht, dass diese populäre und lebendig erzählte Autobiographie Gerdas über ihre Pionierarbeit nicht mehr zur Verfügung stand. Deshalb haben wir uns nun schon lange gewünscht, es wieder neu herauszubringen. Mein Sohn Dorian hat dann den Boyesen Verlag gegründet, und Ebbas und mein Anliegen war, zunächst unsere Studientexte als Lehrmaterial für unsere Studenten in einem Buch zu sammeln und zusammenzufassen. „Über den Körper die Seele heilen“ ist nun über den Verlag verfügbar. Und Dorian hat vor, auch Gerdas Buch „Von der Lust am Heilen“ neu aufzulegen. Du bist auch Mitbegründerin der Gesellschaft für Biodynamische Psychologie / Psychotherapie (GBP), die kürzlich in Goslar ihr 25-jähriges Bestehen feierte. Welche Bedeutung hat dieser Verein für dich heute? Ehrlich gesagt war ich nicht nur die Mitbegründerin, sondern zusammen mit Ebba die Initiatorin für die Gründung der GBP. Aufgrund unserer Initiative hat damals im Jahr 1994 die ESBPE die Einladungen zur Gründungsversammlung in Lübeck an alle Kollegen verschickt, denn wir fanden, es sollte unbedingt einen Biodynamischen Berufsverband geben. Der Meinung sind wir auch heute noch, denn wir haben im Laufe der Jahrzehnte sehr viele Biodynamiker ausgebildet, die eine berufsständische Vertretung brauchen. Bei der Tagung 2020 werden wir beide bei euch sein, um über die „Wurzeln der Biodynamik“ zu sprechen. Was sind aus deiner Sicht die Gründe, warum die Biodynamik und die gesamte Körperpsychotherapie an den Psychologiesektionen der deutschen Universitäten bisher trotz ihrer Heilungserfolge in der Praxis so selten als Lehrinhalt vermittelt werden? Das bedauern wir sehr! Wie wir ja alle wissen, ist schon der sehr differenzierte Antrag der Humanistischen Psychologie (als deren Teil wir uns auch empfinden), ihre Arbeit innerhalb des Krankenkassensystems in Deutschland anzuerkennen, mit teilweise sehr seltsamen Begründungen gescheitert. Es gibt offenbar eine erhebliche Spaltung zwischen den „zugelassenen“ Methoden und den Methoden, die seit den 1970er Jahren im Bereich der Körperpsychotherapie entstanden sind und sich parallel dazu immer weiterentwickelt haben. Das hat vermutlich auch wirtschaftliche Gründe, aber es geht auch um die ganz grundsätzliche Frage, wie viel von der ganz ureigenen Identität in unserer Arbeit wir aufgeben müssten, um dann Teil eines „offiziellen“ Systems zu werden. Als wir unsere Anerkennung bei der Europäischen Gesellschaft für Psychotherapie beantragt haben, haben wir uns mit dieser Frage sehr intensiv auseinandergesetzt. Und wir haben von dort die wissenschaftliche Anerkennung für unsere Methode bekommen: so, wie wir sie definieren und lehren. Das war uns sehr wichtig, denn wir können und wollen unser tiefstes Wissen nicht verleugnen. Das schleswig-holsteinische Gesundheitsministerium hat uns bescheinigt, dass wir ordnungsgemäß auf den Beruf des Heilpraktikers für Psychotherapie vorbereiten, und das Finanzamt hat unseren Verein mit seinen Zielen als Wurzeln und Zukunft der Biodynamik 2 | 2020 79 gemeinnützig anerkannt. Unsere Bemühungen haben also auf vielen Ebenen Früchte getragen. Es kommen auch immer wieder „klassisch“ ausgebildete Kollegen zu uns und bilden sich in der Biodynamik weiter. Sie sagen, dass ihnen in ihrer bisherigen praktischen Arbeit der Körper und die Lebendigkeit fehle, denn es wird ja immer offensichtlicher, dass therapeutische Arbeit ein ganzheitlicher Prozess ist und sich nicht begrenzen lässt, wenn er von Erfolg gekrönt sein soll. Wenn die Universitäten sich mehr für unsere Erkenntnisse öffnen und ein kreativer Austausch zustande käme, dann würden wir das sehr begrüßen. Aber wir werden der Essenz unserer Arbeit treu bleiben und die Lebensenergie auch weiterhin Lebensenergie nennen. Wie siehst du die Zukunft der Biodynamischen Körperpsychotherapie? Es gibt sie als Therapieform und als Ausbildung international seit 1970. Schon 1955 in Oslo hat Gerda begonnen, in ihrer praktischen Arbeit als Diplom-Psychologin, Physiotherapeutin und reichianische Therapeutin ihre eigene Methode zu entwickeln. Von daher beruht die Biodynamische Psychologie auf jahrelanger professioneller Arbeit und Praxis und war eine der ersten Methoden der Körperpsychotherapie in Europa. Sie basiert auf wissenschaftlichen und professionellen Fakten, und das Ausbildungsprogramm der ESBPE wurde sowohl von der Europäischen Gesellschaft für Körperpsychotherapie (EABP) akkreditiert als auch von der Europäischen Gesellschaft für Psychotherapie (EAP) als wissenschaftlich anerkannt. Mit ihrem fundamentalen Kern und ihrer weit gefächerten Dimension hat die Biodynamische Körperpsychotherapie ihre Wirksamkeit als Therapieform und Ausbildung sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart bewiesen-- und das wird sie auch in der Zukunft fortsetzen. So viele wunderbare Menschen kommen zu uns, um die biodynamische Methode zu erlernen und angesichts der gesellschaftlichen Situation um uns herum können wir uns nicht vorstellen, dass unsere Arbeit nicht mehr aktuell sein könnte. Im Gegenteil! Wir hoffen auch, dass die Erforschung des enterischen Nervensystems so weit fortschreitet, dass man erkennt, dass das Verdauungssystem nicht nur als „zweites Gehirn“ (Gershon 2000) arbeitet, sondern ebenso als unser emotionaler Regulationsmechanismus, der durch seine peristaltischen Aktivitäten fähig ist, nervöse Flüssigkeit zu verteilen und zu eliminieren und auf diese Weise eine „Verdauung“ toxischer Komponenten und hormoneller Reste, die bereits von unserer Kindheit an in unserem Körper eingelagert sind (Chomostasis), zu bewirken (siehe Sigmund Freud’s Konzept der „Restaffekte“). Wann und wo kann man dich und deine Schwester Ebba Boyesen in naher Zukunft als Referentinnen erleben? In Deutschland arbeite ich sowie auch Ebba ausschließlich mit Studenten in unseren Ausbildungsseminaren der ESBPE. Ein offenes Seminar werde ich dieses Jahr Pfingsten beim Wilhelm-Reich-Institut in Wien geben (28.-31.5.2020-- www.wilhelmreich.at). Und im Oktober sind Ebba und ich Referentinnen bei eurer GBP-Tagung in Reimlingen mit einem 3-Stunden-Workshop über die Wurzeln der Biodynamischen Psychologie. Vielen Dank für das Interview. Die Fragen stellte Thomas Haudel von der Gesellschaft für Biodynamische Psychologie / Körperpsychotherapie (GBP).