eJournals körper tanz bewegung 8/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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6. Nationales Schmerzforum

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Krisztina Berger
Jährlich tagt das Nationale Schmerzforum, das von der Deutschen Schmerzgesellschaft mit hochrangigen Vertretern des deutschen Gesundheitswesens organisiert wird. Am 8.?November 2019 stand das Thema „Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen“ im Fokus. Im Folgenden wird ein Gesamtüberblick über die aktuelle Lage gegeben, die angestrebte Verbesserung der Prävention, der Versorgung und der Nachsorge präsentiert sowie ausgewählte, für die Leserschaft dieser Zeitschrift relevante Forschungsergebnisse beschrieben. [...]
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Kongresse & Tagungen 133 körper-- tanz-- bewegung 8. Jg., S. 133-136 (2020) © Ernst Reinhardt Verlag 6. Nationales Schmerzforum Alarmierende Ergebnisse zu Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen J ährlich tagt das Nationale Schmerzforum, das von der Deutschen Schmerzgesellschaft mit hochrangigen Vertretern des deutschen Gesundheitswesens organisiert wird. Am 8. November 2019 stand das Thema „Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen“ im Fokus. Im Folgenden wird ein Gesamtüberblick über die aktuelle Lage gegeben, die angestrebte Verbesserung der Prävention, der Versorgung und der Nachsorge präsentiert sowie ausgewählte, für die Leserschaft dieser Zeitschrift relevante Forschungsergebnisse beschrieben. Schmerz bei Kindern und Jugendlichen: Die aktuelle Lage Schmerzen im Kindes- und Jugendalter sind eine stille Epidemie. Die Prävalenz chronischfunktioneller Schmerzen nimmt stetig zu. Eltern und Lehrer schlagen Alarm. Negative Folgen der Schmerzen, wie Schulfehlzeiten, führen dazu, dass Kinder ihr Bildungspotenzial nicht voll ausschöpfen. Schmerzen im Kindesalter sind zudem ein starker Prädikator für Schmerzen bei Erwachsenen. Neben dem beträchtlichen individuellen Leid der betroffenen Kinder und deren Familien verursachen unbehandelte chronische Schmerzen einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden und Kosten für das Gesundheitswesen. Wenn Schmerzen nach Operationen oder bei lebensverkürzenden Krankheiten auftreten, steht die Leidreduktion ganz im Mittelpunkt. Jedoch sind viele Analgetika und Co-Analgetika nicht für das Kindes- und Jugendalter zugelassen. Ergebnisse der KiGGS-Studie Statistiken und Fakten unterstreichen die Besorgnis um die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Christiane Hermann, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und -forschung (DGPSF), berichtet über eine umfangreiche Studie mit 11.791 Teilnehmern in den Altersklassen 3-6, 7-10, 11-13 und 14-17 Jahre mit wiederkehrenden Schmerzen. Es wurde dabei die Häufigkeit von Bauch-, Kopf- und Rückenschmerzen gemessen (Erhebungszeitraum 2014-2017, KiGGS Welle 2). Chronische Schmerzen sind im Kindes- und Jugendalter mit einer Prävalenz von 30-50 % sehr häufig. Etwa 8 % aller Kinder und Jugendlichen berichten, dass ihre Schmerzen stark und beeinträchtigend sind. Mädchen sind von chronischen Schmerzen häufiger betroffen als Jungen. Bei Mädchen lässt sich mit den Jahren eine Zunahme an Kopfschmerzen beobachten. Bauchschmerzen haben in den letzten zehn Jahren an Häufigkeit signifikant zugenommen. Rückenschmerzen tauchen schon ab elf Jahren auf. Kinder zwischen 0 und 10 Jahren haben vor allem Bauchschmerzen, 11bis 13-Jährige häufig Kopf- und Bauchschmerzen, und bei 14bis 17-Jährigen beobachtet man alle drei Symp- Abb. 1: Krisztina Berger, Vertreterin der Bundesarbeitsgemeinschaft Künstlerische Therapien, mit Thomas Isenberg, Geschäftsführer der Deutschen Schmerzgesellschaft Foto: Dt. Schmerzgesellschaft e. V. 134 3 | 2020 Kongresse & Tagungen tome (Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen), die häufig auch gemeinsam auftreten. Die Kinder begegnen dem Schmerz mit Hinlegen und Ausruhen, wobei die Einnahme von Medikamenten bei 11bis 17-Jährigen deutlich steigt, da sie z. B. schlecht schlafen können. Ein Viertel der Heranwachsenden wendet aktuell Arzneimittel ohne ärztliche Verordnung an (Selbstmedikation). Hier muss auf die Gefahr einer entgleisten Selbstmedikation bei Kindern und Jugendlichen hingewiesen werden: Nicht ausreichend behandelte chronische Schmerzen können die Betroffenen dazu verleiten, aus Angst vor den immer wiederkehrenden Schmerzen zu viel und zu häufig Schmerzmittel einzunehmen-- meist Medikamente, deren Wirkung rasch einsetzt und schnell wieder abklingt. Als Risikofaktor für das Entstehen von chronischem Schmerz hat sich eine erhöhte psychosoziale Belastung herauskristallisiert: Schulstress, keine Freizeit, Konflikte, Mobbing, generelle Unzufriedenheit, hohe Erwartungen der Eltern. Risiko- und Resilienzfaktoren der Schmerzchronifizierung Über die Ergebnisse einer longitudinalen Erhebung (fünf Zeitpunkte in drei Monaten) mit 2.280 Schülern und ihren Eltern (n=1.660) berichtete Julia Wager, Leiterin der BMBF-Nachwuchsforschergruppe CHAP (Chronic Headache in Adolescents). Sie fanden eine ähnlich alarmierende Prävalenz (40,3 %) von chronischen Schmerzen wie die KiGGS-Studie. 52 % der Mädchen und 48 % der Jungen zwischen 10 und 18 Jahren haben in der Woche mehrmals Schmerzen. Es wurden außerdem die folgenden Risikofaktoren der Schmerzchronifizierung gefunden: ● Risikofaktoren bei Kindern sind das Alter, das Geschlecht und der Body-Mass-Index (BMI). Mit steigendem Alter und auch BMI steigt das Risiko der Chronifizierung. Mädchen haben ein dreifach erhöhtes Risiko der Schmerzchronifizierung. Man beobachtet auch einen Anstieg der Selbstmedikation mit dem Alter, z. B. 10 % der 10-jährigen Jungen nutzen Medikamente, bei 17-jährigen Jungen hingegen sind es schon 62,5 %. ● Risikofaktoren auf Seiten der Eltern: Chronischer Schmerz der Mutter hängt mit dem chronischen Schmerz des Kindes zusammen (des Vaters nicht! ), außerdem spielen Depression und Angst der Eltern eine Rolle. ● Risikofaktoren auf Seiten der Schule: schlechte Schulleistungen, kein Wohlfühlen in der Schule, starker Medienkonsum (ab fünf Stunden pro Tag) ● Risikofaktoren in Bezug auf die Gesundheit: schlechter Schlaf, Depression und Angst Bei den angewandten Therapien muss die häufige psychische Komorbidität (Schmerz- - Schlafstörung-- Angststörungen-- Depression) bedacht werden. In der Studie hat sich gezeigt, dass die Resilienzfaktoren der Schmerzchronifizierung schwer erforschbar sind. Im Allgemeinen lässt sich sagen: Empowerment von Kindern und Jugendlichen soll im Fokus stehen! Verbesserung der Versorgung: multimodale und multiprofessionelle Behandlungsteams Trotz der alarmierenden Zahlen und Fakten ist die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit akuten und chronischen Schmerzen in Deutschland immer noch mangelhaft. Hier stellt sich die Frage, was für Strukturen für die zukünftige Versorgung notwendig sind, die nicht den Mangel managen, aber auch nicht kommerzialisieren-- also keiner ökonomischer Handlungslogik folgen- - sondern fürsorglich und nicht entwürdigend mit den PatientInnen umgehen. Es müssen daher ganzheitliche Lösungen erarbeitet werden. Kongresse & Tagungen 3 | 2020 135 Heidrun Gitter, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, betrachtet die Digitalisierung und die damit verbundene Nutzung von Apps in der Schmerzbehandlung kritisch. Apps führen gerade von der Wichtigkeit der therapeutischen Beziehung, von dem persönlichen Kontakt weg. Außerdem wird die Nutzung von Apps abgebrochen, wenn die PatientInnen keine Ansprechpartner haben. In einer patientenzentrierten Behandlung soll den Ärzte-Patient-Gesprächen und auch anderen Behandelnden sowohl eine Kompetenzerweiterung (Gesprächsführung) als auch eine angemessene Gesprächszeit eingeräumt werden, was sich auch in den finanziellen Ressourcen abbilden soll. Begrüßens- und auch erstrebenswert ist, dass im 6. Nationalen Schmerzforum eine Übereinkunft über eine vernetzte Versorgung besteht. D. h. alle medizinischen Berufe müssen in der Schmerzversorgung vernetzt arbeiten, multimodale und multiprofessionelle Behandlungsteams sollen gebildet werden. Auf diese verzahnte und nicht konkurrenzorientierte Versorgung hat im Forum gerade ein ärztlicher Vertreter, Jochen Timmermann, hingewiesen. Ihm ist bewusst, dass einigen KollegInnen gerade diese geteilte Verantwortung, das Einbeziehen anderer Professionen, schwerfällt. Man sollte sich selbstkritisch hinterfragen, schlägt er vor: „Bin ich noch der Richtige, der behandeln soll? “ Schmerzen sind auch psychosomatische Beschwerden, die man mit Verfahren behandeln sollte, die sowohl den körperlichen als auch den psychologischen Aspekt beinhalten. Die psychotherapeutische Behandlung setzt wiederum eine Aufklärungsarbeit voraus, da 70 % der SchmerzpatientInnen eine psychotherapeutische Hilfe immer noch abweisen („Ich bin doch nicht verrückt! “). Prävention chronischer Schmerzen im Kindes- und Jugendalter Kinder mit chronischen Schmerzen von heute haben ein erhöhtes Risiko, auch die erwachsenen chronischen SchmerzpatientInnen von morgen zu sein. Eine wirksame Prävention entlastet nicht nur die Familien und erspart viel Leid für die Betroffenen, sondern bringt mittel- und langfristig auch Ersparnisse für das Gesundheitssystem. Aus diesem Grund sollen schmerzspezifische Präventionsprogramme noch stärker ausgearbeitet und verbreitet werden. Aus ökonomischer Sicht: Was kurzfristig eine Investition bedeutet, führt mittel- und langfristig zu immensen Kostenersparnissen. Über diese Logik müssen die Krankenkassen (weiterhin) überzeugt werden, um mehr (Resilienz)forschung und Umsetzung der Präventionsmaßnahmen zu sichern. Um eine wirksame Prävention zu erarbeiten, werden zunächst die Risikofaktoren analysiert und ihre Wirkung mit Gegenmaßnahmen wie Schlafhygiene, Psychoedukation, Achtsamkeitstraining, verstärktes Bewegungsangebot etc. gesenkt. Zusammenfassung und Ausblick Der steigende Leistungsdruck, die dysfunktionalen Familien, Bewegungsmangel, die Digitalisierung als Stressauslöser etc. sind Faktoren für die Entstehung und Chronifizierung von Schmerzkrankheiten bei Kindern und Jugendlichen. Die Beeinträchtigungen durch chronische Schmerzen auf der einen sowie eine erhöhte emotionale Belastung auf der anderen Seite beeinflussen und verstärken sich dabei gegenseitig. Die Eltern oder Bezugspersonen der Kinder sind häufig emotional stark belastet und neigen zu Reaktionen auf die Schmerzen, die den Teufelskreis der Schmerzen zusätzlich verstärken können. Chronische Schmerzen im Kindes- und Jugendalter bestehen bis ins Erwachsenenalter. Auch die Kosten, die mit einer Chronifizierung einhergehen, stellen ein ernstzunehmendes gesellschaftliches und ökonomisches Problem dar. Zudem fehlt es in Deutschland flächendeckend an Versorgungsstrukturen für chronisch schmerzkranke Kinder. Diesen Umständen soll mit Präventions- 136 3 | 2020 Kongresse & Tagungen programmen, interdisziplinären Behandlungsteams, entsprechenden Curricula im Medizin- und Psychologiestudium sowie in der Psychotherapeutenausbildung entgegengewirkt werden. Das familiäre und soziale Umfeld, in dem die Kinder leben, soll in die Behandlung einbezogen werden. Auch die Eltern sollen Unterstützung und Beratung erfahren. Die Politik soll sich verstärkt für Kinder und Jugendliche stark machen. Wie können wir KörperpsychotherapeutInnen und künstlerische TherapeutInnen zu der Lösung dieser Problemlage beitragen? An erforschter Methodik fehlt es uns nicht. Wir haben ein großes Spektrum an Interventionen, um mit der emotionalen Belastung durch den Schmerz besser umgehen zu können. Es fehlt uns aber an Sichtbarkeit und fokussierter Kraft an manchen Stellen. Die Vertreter der Achtsamkeitslehre haben Vereinigungen gegründet (MBSR-, MBCT-Verband, AkiJu), werben aktiv mit ihren Forschungsergebnissen, betreiben internationale und auch EU-geförderte Projekte, haben eine Vision und trauen sich zu, auch die Politik aufzufordern, Achtsamkeitstrainings als Pflichtfach in Schulen einzuführen. Vor diesem Hintergrund finde ich das berufspolitische Engagement sowohl unserer künstlerisch therapeutischen Berufs- und Fachverbände, aber auch der einzelnen Kolleginnen und Kollegen extrem wichtig. Glauben wir daran, was wir können? Und wenn ja, wie tief? Das wird sich zeigen, denn nach den Worten von Otto Rank gilt: „Was wir Innen erreichen, verwirklicht sich im Außen.“ Dr. Krisztina Berger