eJournals körper tanz bewegung 9/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Emotionen als leibnahe Phänomene

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2021
Margit Koemeda-Lutz
Bei praktisch allen psychopathologischen Störungsbildern sind emotionale Probleme ein wesentlicher Aspekt. Im folgenden Beitrag wird ein individualisierter, störungsübergreifender Ansatz für die körperpsychotherapeutische Arbeit mit Emotionen vorgestellt. Bei der Erläuterung des zugrundeliegenden Modells wird besonderes Augenmerk auf körperliche Kennzeichen emotionaler Prozesse gelegt. Emotionale Beweggründe sind oft stärker verhaltensbestimmend als gedankliche Pläne und Zielsetzungen. Anhand von zwei Fallbeispielen wird ein somato-psycho-sozialer Umgang mit dysfunktionaler Emotionsregulation beschrieben.
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Fachbeitrag 3 körper-- tanz-- bewegung 9. Jg., S. 3-16 (2021) DOI 10.2378 / ktb2021.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Emotionen als leibnahe Phänomene Zur klinisch-körperpsychotherapeutischen Arbeit mit Emotionen Margit Koemeda-Lutz Bei praktisch allen psychopathologischen Störungsbildern sind emotionale Probleme ein wesentlicher Aspekt. Im folgenden Beitrag wird ein individualisierter, störungsübergreifender Ansatz für die körperpsychotherapeutische Arbeit mit Emotionen vorgestellt. Bei der Erläuterung des zugrundeliegenden Modells wird besonderes Augenmerk auf körperliche Kennzeichen emotionaler Prozesse gelegt. Emotionale Beweggründe sind oft stärker verhaltensbestimmend als gedankliche Pläne und Zielsetzungen. Anhand von zwei Fallbeispielen wird ein somato-psycho-sozialer Umgang mit dysfunktionaler Emotionsregulation beschrieben. Schlüsselbegriffe Körperpsychotherapie, Emotionswahrnehmung, Emotionsregulation, emotionales Ausdrucksverhalten, emotionale Erfahrungen und Persönlichkeit Emotions as Body-Related Phenomena. A Body-Psychotherapeutic Approach to Clinical Work with Emotions Psychopathological disorders quintessentially include emotional problems. The following article presents an individualized, trans-disorder approach to body-psychotherapeutic work with emotions. In explaining the underlying model, attention is focussed on somatic aspects of emotional processes. Emotional motives often determine behavior more strongly than mental plans and objectives. Using two case vignettes, a body-psycho-social approach to dysfunctional emotion regulation is described. Key words body psychotherapy, emotion perception, emotion regulation, emotional expression, emotional learning and character formation E motionen ereignen sich im Hier und Jetzt. Intensive emotionale Erfahrungen prägen die Persönlichkeit. Schmerzhafte Erfahrungen möchte man möglichst nicht noch einmal erleben müssen. Sie führen unmittelbar zu Abwendung oder Flucht und langfristig zur Ausbildung von Abwehrstrukturen und Vermeidungsverhalten. Positive und angenehme Erfahrungen bewirken kurzfristig Hinwendung und langfristig eine verstärkte Neigung, solches Erleben erneut aufzusuchen bzw. herbeizuführen. Nur ein Teil menschlicher Lebenserfahrung wird bewusst erinnert. Die daraus gezogenen „Lehren“, davon abgeleiteten Verhaltensneigungen und Routinen werden überwiegend in nicht bewusstseinsfähigen, impliziten Gedächtnisstrukturen gespeichert. Es ist eines der Verdienste körperpsychotherapeutischer Ansätze, PatientInnen außer aufder kognitiv-sprachlichen Ebene (Narrative) auch auf einer emotional-körperlichen Ebene „anzusprechen“; das heißt, die emotionale Grundstimmung und aktuelle Ge- 4 1 | 2021 Margit Koemeda-Lutz fühlsbewegungen sowie den Umgang damit zu beachten und auch gegenüber eigenen Gefühlen aufmerksam zu sein, die in der Interaktion mit dem Patienten ausgelöst werden. Vermiedenes Fühlen, unterdrückter Emotionsausdruck, Handlungsimpulse, die nur im Ansatz sichtbar werden, liefern Geübten wertvolle Hinweise zum Verständnis dysfunktionalen Verhaltens und den zugrundeliegenden lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Emotionen werden subjektiv erlebt und lassen sich andererseits anhand körperphysiologisch-biochemischer Prozesse objektivieren. An ihnen zeigt sich in besonderem Maße ihre somato-psychische Doppelnatur. In der Vergangenheit galt gefühlshaft Emotionsgeleitetes unter aufgeklärten Menschen als „unsachlich“. Es wurde in seriösen Diskussionen disqualifiziert und nicht selten als unerwünscht an das weibliche Geschlecht delegiert. In den 1980er Jahren begann man, sich in der Wissenschaft, insbesondere der Psychologie, den Neurowissenschaften und der Philosophie, mit Emotionen zu befassen. Eine Flut von Fachartikeln und Büchern zum Thema wurde publiziert. Körperorientierte und humanistische Ansätze der Psychotherapie hatten jedoch das Veränderungspotenzial, das Emotionen innewohnt, schon länger erkannt und mehr oder weniger systematisch zu nutzen begonnen, zum Beispiel Wilhelm Reich (Reich 1999), Fritz Perls (Gestalttherapie), Alexander Lowen (Bioenergetische Analyse), Arthur Janov (Urschrei-Therapie) und Daniel H. Casriel (New Identity Process)- - um nur einige zu nennen. Heute finden Emotionen in nahezu allen psychotherapeutischen Ansätzen Berücksichtigung. Personen lassen sich auf einem Kontinuum von „über-“ zu „unterreguliert“ bzw. von „introvertiert“ zu „expressiv“ einschätzen. Wenn sich emotionale Bewegungen zeigen, obwohl der/ die Betreffende dies nicht möchte, würde man die Person dem unterregulierten Pol zuordnen. Werden hingegen Gefühlsbewegungen kaum bis gar nicht gespürt, neigt die Person dem sogenannten überregulierten Pol zu. Sogenannt „überregulierte“ Menschen bekämpfen- - zumeist ganz unbewusst und quasi-automatisch-- jede noch so winzige aufkeimende Gefühlsbewegung sofort mit Gegenmaßnahmen und haben scheinbar gar keine Gefühle. Sie wirken nach außen hin unbeteiligt und kühl. Mit Hilfe von Atemübungen und sogenannten Stresspositionen lassen sich einerseits unterdrückte bzw. nicht gespürte Gefühle provozieren. Andererseits lässt sich- - bei Übererregung- - Entspannung induzieren (z. B. Koemeda-Lutz 2019). Fallbeispiel 1: Susanne Auf dem Nachhauseweg von der Arbeit sah ich vor ein paar Wochen eine junge Frau mit zerrissenen Hosen und verweintem Gesicht am Straßenrand sitzen. Sie gestikulierte heftig. Ich hielt an, stieg aus und ging zu ihr. Sie konnte kaum sprechen, griff sich immer wieder ans Herz und flüsterte: „Es rast, es stolpert.“ Sie strich über ihre Unterarme: „Es kribbelt furchtbar.“ Sie atmete rasch und sehr flach. Mein Eindruck, dass es sich hier nicht um eine primär somatisch, sondern eher um eine emotional ausgelöste Krise handelte, wurde durch das junge Alter und den schlanken Körper der Frau unterstützt sowie durch die Tatsache, dass sich ihr Zustand seit dem ersten Blick, den ich auf sie geworfen hatte, nicht verschlechtert hatte, sondern dass sie sich, im Gegenteil, mit jeder Frage, die ich ihr stellte, und jeder Antwort, die sie gab, ein wenig mehr zu beruhigen schien. „Sie haben das nicht zum ersten Mal? “, fragte ich, und sie nickte. Ich fragte, ob sie meinen Eindruck bestätigen könne, dass sich ihr Zustand, seit ich hier bei ihr sei, schon eine Spur gebessert habe. Sie nickte wieder. Da sie nichts weiter sagte, nahm ich, ihr Einverständnis abwartend, eine ihrer unruhig suchenden und sich selbst berührenden Hände in meine. Emotionen als leibnahe Phänomene 1 | 2021 5 Das schien sie weiter zu beruhigen. Dann sagte ich: „Ich vermute, Sie haben eine Panikattacke.“ Sie schwieg. „Es ist unglaublich anstrengend“, fuhr sie fort. „Dieses Kribbeln in meinen Armen …“ Nach einer Weile bat ich sie aufzustehen. Wir gingen, während ich weiter mit ihr sprach, auf dem Gehsteig ein wenig hin und her. Ich unterstellte, dass eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Angsterleben auf eine leichte körperliche Betätigung das Angsterleben abschwächen würde. Im Verlauf des weiteren Gesprächs erwähnte die Frau, dass sie schon zwei kardiologische Abklärungen hinter sich habe, die keine Auffälligkeiten ergeben hätten. Dann teilte sie mir mit, dass sie Schulden bei der Krankenkasse habe, weshalb sie unter Leistungssperre stand. Ich fragte sie, was sie denn heute noch vorhabe. Ihre Erregung hatte inzwischen deutlich nachgelassen. Sie schien keinen besonderen Plan zu haben. Ob sie jetzt wieder nach Hause fahren könne, fragte ich sie. Sie begann, von Problemen mit ihrem Partner zu erzählen. Ich fragte sie, ob sie es schon mit einer psychotherapeutischen Behandlung versucht habe. Das würde sie gerne, aber die Krankenkasse zahle nicht, und sie habe kein Geld. Sie müsse sich an das Sozialamt in ihrer Wohngemeinde wenden, schlug ich vor. Kurze Zeit später meinte sie, sie könne jetzt nach Hause fahren. Kommentar PatientInnen, die an Panikstörungen leiden, erscheinen selten bzw. so gut wie nie mit einem akuten Anfall in der psychotherapeutischen Praxis. Die beschriebene Krisenintervention auf offener Straße zeigt eine extern induzierte Emotionsregulation (wie sie auch Eltern bei Kleinkindern leisten). Auf der Basis einer Reihe von diagnostischen und differenzialdiagnostischen Überlegungen (z. B. es handelt sich nicht um eine kardiovaskuläre Krise) widersteht die Therapeutin der Gefühlsansteckung und dem sich daraus ergebenden Impuls, sofort einen Krankenwagen zu rufen, sondern stellt sich als ruhigen Gegenpol zur Verfügung. Sie lädt die Patientin zu kognitiver Betätigung ein (Faktenklären als Gegenmittel zu emotionaler Überschwemmung) und bietet Berührung an (Handkontakt). Sie fordert die Patientin nach erster Beruhigung zum Aufstehen und Bewegen auf: Ebenfalls als Gegenmittel zur emotionalen Überflutung, ein Herausführen aus der ängstlichen Kontraktion-- dies alles in kontinuierlicher Abstimmung mit der jungen Frau, sprachliche und körperliche Reaktionen auf jede Intervention im Auge behaltend. Durch dieses Vorgehen konnte-- für dieses Mal-- eine kostspielige Notaufnahme ins Spital vermieden werden. Die junge Frau hatte bestimmte, sie beunruhigende Körperempfindungen wahrgenommen: das rasende Herz, das Kribbeln in den Armen. Und das hatte ihre Erregung und Angst ins Unerträgliche gesteigert. Sie selbst verfügte über keine geeigneten Selbstberuhigungsmöglichkeiten. Auch war sie offensichtlich nicht in der Lage, ihre Angst in den größeren Kontext ihrer Lebenssituation einzuordnen-- es gab da einige zu lösende Probleme- - um auf dieser Ebene zu zielorientiertem Handeln zu kommen. Stattdessen wurde sie, wie sie berichtete, immer wieder von Panikattacken überfallen, deren Ursache sie nicht verstand, die sie in Todesangst versetzten und zu deren Regulation ihr die Mittel fehlten. Grundlagen Im Folgenden möchte ich einige Informationen zu dem meiner klinischen Arbeit zugrundeliegenden Emotionskonzept geben. Ich vertrete einen individualisierten Behandlungsansatz und versuche, störungsübergreifend Prinzipien (im Sinne von Geuter 2019) der Emotionsregulation zu folgen. „Emotion“ verwende ich im Folgenden als übergeordneten Begriff. Unter 6 1 | 2021 Margit Koemeda-Lutz „Affekten“ verstehe ich emotionale Vorgänge von meist plötzlichem Beginn und hoher Intensität und grenze davon zeitüberdauernde „Grundstimmungen“ sowie das subjektive Erleben von „Gefühlen“ ab. Was sind Emotionen? Emotionen sind Reaktionen auf äußere und innere Reize, Situationen und Ereignisse. Sie beinhalten ● eine subjektive Betroffenheit: z. B. Erschrecken über einen unerwartet lauten Knall, der Lebensgefahr bedeuten könnte. ● kognitive Bewertungen: Beinahe ohne Unterlass schätzen wir äußere und innere Wahrnehmungen, Situationen und Ereignisse als bedeutsam oder unwichtig für uns selbst ein, als angenehm oder unangenehm. ● Dies löst Reaktionen in diversen Zentren unseres Gehirns und in der Folge physiologische Veränderungen im ganzen Körper aus, wodurch sich unser allgemeines Erregungsniveau, die Funktionsweise unserer Organe, der Blutdruck und die Spannung in einzelnen Muskelgruppen entsprechend anpassen. ● Dies hilft uns, die anschließend notwendigen Verhaltensreaktionen vorzubereiten: Annäherung, Abwendung, Distanznahme, Kampf- oder Fluchtverhalten, ein Erstarren oder Begehren. Emotionale Vorgänge ● werden subjektiv erlebt, z. B.: „Ich könnte platzen vor Wut.“ ● Verhaltensaspekte und emotional bedingte körperliche Veränderungen können von außen beobachtet werden: Ein Verliebter folgt seiner Angebeteten auf Schritt und Tritt. Ein anderer wird rot vor Wut. ● sind Mittler zwischen Selbst und Welt. Sie dienen der Feinabstimmung des Verhaltens und sozialer Beziehungen. Während bei Reptilien weitgehend programmierte Verhaltensmuster in Abhängigkeit von inneren physiologischen Zuständen durch äußere Reizkonfigurationen ausgelöst werden, können zwischengeschaltete Gefühle bei Menschen Verzögerungen, taktische Umwege bis hin zur vollständigen Unterdrückung eines den eigenen Bedürfnissen entsprechenden Verhaltens bewirken. ● haben einen sich über die Zeit verändernden Verlauf. ● heben aus dem Strom der Wahrnehmungen und Ereignisse solche hervor, die persönlich bedeutsam sind, die zur eigenen Grundstimmung passen und der aktuellen Bedürfnis- und Motivationslage entsprechen. ● tragen zur Strukturierung der Wahrnehmung bei und prägen die Architektur des Gedächtnisses (z. B. Ciompi 2005). Die unter den beiden letzten Punkten genannten Strukturbildungen und Reaktionsbereitschaften sehen wir als Bausteine der Persönlichkeit an. Beispiel: Wer gestresst-aggressiv unterwegs ist, dem erscheinen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch seine Mitmenschen entsprechend kritisch, gereizt und unfreundlich. Sie begegnen ihm vielleicht tatsächlich so, weil sie auf ihn reagieren. Seine Erinnerung, falls befragt, wird ihm bestätigen, dass die Welt hauptsächlich aus unfreundlichen und unangenehmen Menschen bestehe, mit denen man sich nur selten wohlfühle. Eine vorherrschende Grundstimmung beeinflusst die Wahrnehmung und unsere Erinnerung so, dass dazu Passendes erlebt bzw. erinnert und der Grundstimmung Widersprechendes eher ausgeblendet wird. Wiederholte, persönlich bedeutsame Erfahrungen lösen, falls diese sich bewähren, immer wieder ähnliche Reaktionen aus und werden im zumeist unbewussten Erfahrungsgedächtnis als Denk-, Fühl- und Verhaltensneigungen auf bestimmte Auslöser hin eingeprägt. Emotionen als leibnahe Phänomene 1 | 2021 7 Als psychotherapeutisch Tätige wissen wir, dass viele Menschen, häufig bereits als Kinder, schlechte Erfahrungen mit dem Ausdruck ihrer Gefühle, besonders sogenannt negativer und starker Emotionen gemacht haben; sie wurden von Eltern oder anderen Bezugspersonen dafür bestraft oder damit allein gelassen. In der Folge haben sie gelernt, auf die Mitteilung von Ärger, Angst, Ekel und Abneigung zu verzichten, und vermeiden z. T. bereits deren Wahrnehmung. Dadurch können Spannungen und Gefühlsstaus entstehen, die sich nicht selten unvorhersehbar entladen oder zu psychosomatischen Störungen führen. Zur Vielfalt der Gefühle-- Basisemotionen Unsere Sprache hält eine große Zahl von Wörtern für unterschiedliche Gefühlszustände bereit. Linguisten haben herausgefunden, dass verschiedene Sprachen in manchen Bereichen des Gefühlsspektrums genauer und in anderen Bereichen weniger differenzieren als andere Sprachen. Im Deutschen finden wir beispielsweise folgende Bezeichnungen: A wie Angst, Anmaßung, Arroganz, B wie Bitterkeit, C wie cholerisch, cool, D wie Dankbarkeit, Demut, E wie Einsamkeit, Erschöpfung, Ekel, Eifersucht, F wie Freude, Frustration, G wie Groll, Gleichmut, Gelassenheit, H wie Heiterkeit, Hochmut usw. Es handelt sich dabei um kategoriale Emotionen. Hieraus haben Forscher (z. B. Ekman 1999) jeweils fünf bis acht Grundkategorien, sogenannte Basisemotionen, hervorgehoben, die über Grenzen von Kulturen hinweg auf der ganzen Welt zu finden sein sollen. In der menschlichen Entwicklung seien sie früh be- Abb. 1: Rad der Emotionen (in Anlehnung an Plutchik 1980) 8 1 | 2021 Margit Koemeda-Lutz obachtbar, und sie ließen sich relativ klar voneinander unterscheiden. Es sind dies-- je nach Autor- - eine Auswahl aus den folgenden: Angst/ Furcht, Ärger / Wut, Ekel, Trauer, Freude, Überraschung, Verachtung, Liebe, Vertrauen, Neugier / Interesse. Für diese Forschungstradition steht auch Robert Plutchik (1980), der die von ihm ausgewählten Grundemotionen in seinem sogenannten „Rad der Emotionen“ anordnet, wobei einander ähnliche Gefühle nebeneinander und gegensätzliche Emotionen einander gegenüberstehen. Als dritte Dimension fügt er die emotionale Intensität hinzu, die für jedes Gefühl variieren kann. Dieses Rad lässt sich als diagnostisches Hilfsmittel einsetzen, indem man beispielsweise vertraute, abgelehnte und vermiedene Gefühle, die einem fremd erscheinen, mit unterschiedlichen Farben markieren lässt. Für diagnostische Zwecke kann es nützlich sein, Emotionen als „Einzellage“ aus der Gesamtpartitur des Verhaltens und der Kommunikation einer bestimmten Person herauszuhören, d. h. unabhängig vom Inhalt einer Rede oder eines Gesprächs auf die emotionale Färbung zu achten. Grunddimensionen: Aktivierung und Wertigkeit Abgesehen von einer kategorialen Zuordnung diskreter Emotionen lassen sich emotionale Zustände und Vorgänge auch mithilfe von Grunddimensionen beschreiben (z. B. Stern 1992; Krause 1997): Unabhängig davon, ob jemand wütend oder ängstlich ist, wird bei diesem Ansatz festgestellt, wie stark erregt der Betreffende ist und ob der Zustand als angenehm oder unangenehm erlebt wird, auf welches Objekt in der Umwelt er sich bezieht, welches Verhalten gezeigt wird und ob die emotionale Reaktion am Anschwellen oder Abklingen ist. Auf den ersten Blick würde man Langeweile bei wenig aktiviert und unangenehm, Wut bei hoch aktiviert und unangenehm, Liebe bei aktiviert und angenehm und Gelassenheit bei wenig aktiviert und angenehm verorten. Aber schon an diesen einfachen Beispielen wird klar, dass der Aktivierungsgrad je nach Person und Situation erheblich variieren wird. Man kann sich eine stille bis hin zu einer hoch leidenschaftlichen Liebe vorstellen, und dies wäre dann mit sehr unterschiedlichen Aktivierungsgraden verbunden. Auch können Liebesgefühle so heftig sein, dass sie als unangenehm und Leid bringend erlebt werden, insbesondere wenn die Liebe nicht erwidert wird. Wohingegen eine milde Wut als durchaus angenehm empfunden werden kann, vor allem wenn die betroffene Person weiß, wie sie ihr gelegentlich Luft verschaffen wird, und sie sich gute Chancen ausrechnet, die Situation, die sie wütend macht, nach ihren Bedürfnissen ändern zu können. Innerhalb ein und derselben Gefühlskategorie kommen also unterschiedliche Ausprägungen von Aktivierung und wahrgenommener Wertigkeit vor. Daher ist die Feststellung von Koordinaten auf den genannten Dimensionen zusätzlich zur Feststellung von Gefühlskategorien geeignet, individuelle Befindlichkeiten zu beschreiben. Für beide der genannten Dimensionen gibt es extreme Ausprägungen, unter denen die Funktion anderer Fähigkeiten, wie Wahrnehmen, Denken, Sich-Erinnern, Empathie für andere, nahezu ausgeschaltet ist. Dies geschieht insbesondere bei traumatischen Erfahrungen. Weitere Bestimmungsgrößen für emotionale Zustände sind, wie bereits gesagt, der Objektbezug und eine Verortung im zeitlichen Verlauf. Objektbezug Gefühle haben in aller Regel einen Bezug zur Mitwelt. Um Emotionen zu beschreiben, hat sich deshalb zusätzlich eine räumliche Komponente als nützlich erwiesen. Diese beschreibt eine Tendenz, sich zum Objekt hin oder von ihm weg zu bewegen oder in Erstarrung zu verharren. Einige Autoren (z. B. Panksepp 1998; Le- Doux 2001) sehen besonders diesen Teilaspekt Emotionen als leibnahe Phänomene 1 | 2021 9 von emotionalen Prozessen als in der Evolution verankert an. Sie beschreiben relativ klar konturierte Verhaltensprogramme, die schon bei Säugetieren und Reptilien zu beobachten sind: Kampf-, Fluchtverhalten und Erstarrung im Totstellreflex. Diese sind bei uns Menschen mit Gefühlen von Wut, Angst/ Panik oder Begehren assoziiert. Basisemotionen, für die sich in der Evolution affekt-motorische Programme entwickelt haben, laufen beim Menschen nicht starr, sondern lebensgeschichtlich geprägt und individuell nuanciert ab. Emotionen im zeitlichen Verlauf Emotionale Bewegungen haben einen beschreibbaren zeitlichen Verlauf. Ausgelöst durch äußere Ereignisse oder durch Signale aus dem eigenen Inneren bewirken sie eine Fokussierung der Aufmerksamkeit. Sie heben sich von einer vorherrschenden Grundstimmung ab, verändern diese und veranlassen eine Unterbrechung dessen, womit der Betreffende bis dahin beschäftigt war. Sie gehen mit einer Veränderung des Aktivierungsniveaus einher und lösen eine Bewertung der Bedeutsamkeit des aktuellen Geschehens für das eigene Selbst aus- - hinsichtlich der eigenen Bedürfnisse, Motivationen und Absichten. Auch eine Bewertung, ob es sich angenehm oder unangenehm anfühlt, wird vorgenommen. Parallel dazu und vorwiegend unbewusst findet eine Reihe von physiologischen und muskulären Reaktionen im peripheren Körper statt, die der Vorbereitung auf Angriff, Kampf, Flucht oder Erstarrung dient. Es folgen eine Bewegung hin oder weg vom involvierten Objekt oder das Einfrieren sämtlicher Bewegung im Totstellreflex sowie (falls nicht erstarrt) eine entsprechende Handlung: Schlagen, Schreien, Berühren, Schimpfen, Festhalten, Umarmen, Anklammern, Eindringen, Küssen, Einverleiben, Ausspucken, Erbrechen usw. Danach finden ein Rückzug aus der Interaktion, eine Zurückbesinnung auf das eigene Selbst und eine Verarbeitung und Integration des Erlebten statt. Zuletzt folgt eine Ruhephase, die der Erholung dient. Mögliche Störungen In allen Subphasen solcher Verläufe können Störungen auftreten: Manche Menschen nehmen ihre eigenen Gefühle nicht wahr; sie übersehen auch bei anderen entsprechende Signale oder können diese nicht deuten. Andere fühlen zwar, versuchen aber, dies nicht zu zeigen bzw. sich nicht davon bewegen zu lassen. Sie bemühen sich, Ärger und Freude klein zu halten, und möchten möglichst immer „cool“ erscheinen. Sie mögen auf keinen Fall außer Atem kommen oder schwitzen, finden es peinlich, wenn sie rot werden, laufen auf keinen Fall weg, wenn sie Angst haben. Sie sind nicht in der Lage, ihre Liebe zu gestehen oder einem Nachbarn mitzuteilen, dass sie sich ärgern. Es kommt des Weiteren vor, dass Menschen in einem bestimmten Gefühl gefangen bleiben, dass z. B. eine Trauer gar nicht mehr aufhört, sondern zum Grundgefühl wird. Betroffene bekommen dann bei jeder Gelegenheit Tränen in die Augen und könnten losheulen, oder sie weinen tatsächlich, wenn sie eigentlich wütend sein sollten. Häufig ist bei diesen Menschen der Bezug zu dem Ereignis oder der Person, dem bzw. der diese Gefühle gelten, abhandengekommen. Und sie verstehen sich selbst nicht mehr (Geuter / Schrauth 2001; Geuter 2015). Schließlich gibt es Menschen, die sich in einer ständigen emotionalen Erregung befinden, die gar nie entspannen und ausruhen können. Dies betrifft häufig Menschen mit Traumaerfahrungen, die sie nicht verarbeiten konnten. Sie bleiben in einem Zustand andauernder Überaktivierung gefangen. Emotionen und Körper Emotionale Prozesse spielen sich nicht nur im Gehirn, sondern wesentlich auch im peripheren Körper ab (Damasio 2005). Es ist schwer vorstellbar, dass wir wütend werden, ohne 10 1 | 2021 Margit Koemeda-Lutz dass der Blutdruck steigt, ohne dass wir kurz den Atem anhalten, ohne dass sich bestimmte Muskelgruppen anspannen und wir Arme, Beine und Rumpf mobilisieren, um uns auf eine Auseinandersetzung vorzubereiten. Ohne dies hier im Einzelnen ausführen zu können, gilt inzwischen ein Zusammenhang zwischen einem einseitigen Umgang mit Emotionen und einer Vielfalt von somatischen bzw. psychosomatischen Störungsbildern als erwiesen (z. B. Schubert 2015): Wesentlich beteiligt an emotionalen Prozessen sind: ● das Somatische Nervensystem (bei chronischer Anspannung unserer Skelettmuskulatur kann es zu Schmerzstörungen kommen) ● das Autonome Nervensystem (Herz- / Kreislauferkrankungen bei dauerhaftem Stress; Bluthochdruck bei chronisch unterdrücktem Ärger) ● das endokrine (Hormon-) System (Depression bei andauernder Belastung) ● das Immunsystem (Zusammenhänge zwischen Immunschwäche und andauerndem Stress und als mögliche Folge Krebserkrankungen) Emotionsverarbeitende Prozesse im Gehirn Informationen aus unseren Sinnesorganen über die Umwelt und unser Körperinneres gelangen als elektrische Signale über zuleitende Nervenfasern zum Thalamus. Dieser besteht aus über 20 Kernen und leitet die eingehenden Informationen wie eine Relaisstation an verschiedene andere Verarbeitungszentren im Gehirn weiter- - unter anderem an Strukturen des sogenannten limbischen Systems, die für die Emotionsverarbeitung zuständig sind (siehe Abb. 2). In der Amygdala wird der emotionale Gehalt eingehender Informationen beurteilt (z. B. gefährlich / harmlos). Und es werden Signale zur Einleitung körperlicher Reaktionen ausgesendet (z. B. angreifen / flüchten / sich totstellen). Diese Struktur arbeitet ohne Beteiligung des Bewusstseins, sehr rasch, macht aber häufig Fehler. Abb. 2: Sagittalschnitt durch das menschliche Gehirn (S. Koemeda, zitiert nach Koemeda-Lutz 2009) Emotionen als leibnahe Phänomene 1 | 2021 11 Im zingulären Kortex (Gyrus Cinguli) wird die eingehende Information mit persönlichen Vorerfahrungen verglichen und deren emotionale Bedeutung auf dieser Grundlage mit höherem Zeitaufwand nochmals beurteilt. Im vorderen zingulären Kortex werden emotionale Bewertungen mit Handlungsimpulsen verknüpft. Hier werden auch mögliche Konsequenzen von Handlungen geprüft, bevor entsprechende Signale für die Freigabe von Handlungsimpulsen ausgesendet werden. Das Ergebnis der Bewertungen wird sodann im Hippocampus mit Informationen zur räumlichzeitlichen Einordnung der aktuellen Situation versehen. Rasche Reaktionen werden direkt von der Amygdala aus initiiert, langsamere über Verarbeitungsschritte in der Großhirnrinde moduliert. Der Hypothalamus beeinflusst über verschiedene Regelsysteme das Autonome Nervensystem; er aktiviert hormonell und neuronal die Zielorgane von Stressreaktionen-- das Herz-Kreislaufsystem, die Lunge und die Skelettmuskulatur. In der Amygdala findet eine grobe, sensorisch-emotionale, allerdings zusammenhangslose Erinnerungsbildung statt. Im Hippocampus wird eine zeitliche und örtliche Kodierung vorgenommen; dies betrifft insbesondere für das Überleben wichtige Ereignisse. In der Hirnrinde (Kortex) werden einzelne Komponenten der erlebten Ereignisse als sogenannte Langzeitgedächtniseinträge gespeichert, die bei dem aktiven Vorgang des Erinnerns immer wieder neu zusammengesetzt werden müssen. Zur Entwicklung der Exekutivfunktionen Hirnstrukturen, die für emotionale Reaktionen wichtig sind (das limbische System), entwickeln sich früher als die Teile des Gehirns, die für die Kontrolle von Handlungen, die Unterdrückung von Impulsen, für fokussierte Aufmerksamkeit und die Nutzung von Erfahrungswissen (Gedächtnis) zuständig sind (sogenannte Exekutivfunktionen im Präfrontalen Kortex, z. B. Spitzer 2002; Bauer 2005; Sattler 2006). Anfänglich sind Säuglinge und Kleinkinder auf eine Regulation von außen durch ihre Eltern und andere Bezugspersonen angewiesen. Nach und nach lernen sie, ihre Emotionen selbst zu regulieren, sich zu beruhigen, sich abzulenken, Gefühle zurückzuhalten und Probleme eigenständig zu lösen. Diese Fähigkeiten beginnen, sich im Vorschulalter zu entwickeln, und müssen im Verlauf der Entwicklung weiter ausdifferenziert, insbesondere während der Pubertät mit ihren hormonellen Veränderungen und emotionalen Herausforderungen neu ausbalanciert werden. Stress, Erregung und Trauma Stress wird als körperlich-seelischer Zustand unter Belastung bzw. als unspezifische Antwort von Organismen auf Anforderungen definiert. Stress wird auch als Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen der Umwelt und den Ressourcen oder Ansprüchen des Individuums aufgefasst (Selye 1974). Man unterscheidet zwischen „positivem“ und „negativem“ Stress. Ersterer erhöht die Aufmerksamkeit und fördert die Leistungsfähigkeit, ohne schädliche Nebenwirkungen. Eine gelungene Bewältigung der Belastungssituation führt zu erhöhtem Selbstvertrauen und möglicherweise sogar zu Glücksempfinden. „Negativer“ Stress wird als nicht bewältigbar und überfordernd erlebt und ist durch das Fehlen von zur Bewältigung notwendigen Fähigkeiten gekennzeichnet. Die entsprechende Situation löst Gefühle von Hilflosigkeit und Versagen aus und wirkt sich langfristig nachteilig auf das eigene Selbstvertrauen aus. Modell der unvollständigen Stress-Reaktion Das Modell der unvollständigen Stress-Reaktion (nach Levine 2011, 2016) geht davon aus, dass ein Organismus nach einem überfordernden Ereignis (zu schnell, zu stark oder zu lang anhaltend) den Aktivierungs-Deaktivierungs- Zyklus nicht vollständig durchlaufen kann. Die für die Stressbewältigung mobilisierte musku- 12 1 | 2021 Margit Koemeda-Lutz läre Spannung und entsprechende biochemische Prozesse können nicht vollständig deaktiviert werden und bleiben als Restaktivierung im Körper. Glücklicherweise werden die meisten alltäglichen Reize rasch, effizient und unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle verarbeitet. Bei der Bewältigung von Herausforderungen gelingt es uns normalerweise, unsere Stressreaktionen zu regulieren. Wir können die auslösenden Konflikte oder Probleme klären und lösen und / oder unsere kognitiven, emotionalen, muskulären und vegetativ-hormonellen Reaktionen so beeinflussen, dass sich die Belastung und nachfolgende Stressreaktion innerhalb unseres Toleranzfensters bewegt. Als Gegenpol zu Stress steht Gelassenheit. Sie bedeutet Ruhe und Sicherheit, geistige Präsenz und Klarheit sowie eine ausgewogene Spannung in Körpergeweben und Muskulatur. Ruhezustand-- Homöostase, Toleranzfenster In solchen Ruhezuständen sind wir offen für Wahrnehmungen, Einfälle und Gedanken, auch gegenüber eigenen Bewegungs- und Verhaltensimpulsen, ohne diese unbedingt umsetzen zu müssen. Wir müssen nicht zwanghaft irgendwelchen Dingen nachgrübeln und sind nicht von sich ständig wiederholenden Gedanken besetzt. Kein bestimmtes Gefühl hat uns fest im Griff. Wir können, je nachdem, was uns einfällt oder begegnet, angemessen reagieren, mit Neugier und Interesse oder mit Abneigung, mit Lust, Unlust, Zu- oder Abwendung, fokussierter Aufmerksamkeit oder Gleichgültigkeit, Angst, Wut oder Traurigkeit. Und sobald die erforderliche Interaktion mit den jeweiligen inneren oder äußeren „Objekten“, „Reizen“ bzw. Auslösern vorbei ist, kehren wir wieder in unseren entspannten, ausgeglichenen Ruhezustand zurück. Zur klinischen Arbeit mit Emotionen Fallbeispiel 2: Peter Peter, knapp 50 Jahre alt, äußert in einer Selbsterfahrungsgruppe, die sich gerade zum zweiten Mal trifft, dass er noch nicht viel Erfahrung mit Psychotherapie habe, weshalb er unsicher sei, ob er sich der Gruppe zumuten dürfe. Abb. 3: ANS-Aktivierung und Erholung bei massiver Stress-Belastung (in Anlehnung an Levine 2011) Emotionen als leibnahe Phänomene 1 | 2021 13 Er berichtet von einem Freitagabend. Er habe mit der Deutschen Bahn vom Arbeitsort zu seinem etwa 300 km entfernten Wohnort reisen wollen. Wegen Sturmschäden seien an diesem Tag bereits zwei Züge ausgefallen. Er habe sich mit großer Mühe in einen nun endlich fahrenden, völlig überfüllten Zug gequetscht und sogar einen Sitzplatz ergattert, als kurz vor Abfahrt eine alte Frau mit Behindertenausweis in den Zug stieg und um einen Platz bat. Die anderen Fahrgäste schauten einfach weg, keiner tat etwas dergleichen. Peter stand auf und machte der Frau Platz-- obwohl, wie er sagte, eine Menge Jüngere dagewesen wären, die hätten aufstehen können. Im Gang war es noch voller als im Waggon, weshalb Peter plötzlich das Gefühl bekam, nur noch raus zu müssen. In letzter Sekunde gelang es ihm, die Türen nochmals zu öffnen und auf den Bahnsteig zu springen. Dort schleuderte er seine Tasche auf den Boden, trat gegen Müllcontainer und abgestellte Transportfahrzeuge, schimpfte lautstark, wandte sich nochmals zum gerade anfahrenden Zug und erhob seinen Arm mit geballter Faust wütend und drohend gegen die dort Sitzenden. Er erlebte diese Szene als totalen Kontrollverlust und empfindet noch heute tiefe Scham, wenn er darüber berichtet. Kommentar Auch in diesem Beispiel wurde der Betroffene von seinen Gefühlen überschwemmt. Er spürte intensiv Wut und Ärger. Im Gegensatz zum ersten Fallbeispiel zieht er sich aber nicht angstvoll zusammen, hilflos an seine Mitwelt appellierend, sondern er setzt aggressive Handlungsimpulse um; dies allerdings in einer sozial nur knapp verträglichen Weise. Fallbeispiel (Fortsetzung) Im Laufe der Arbeit stellte sich heraus, dass Peter, ein überdurchschnittlich sensibles Kind, als Sohn von Migranten in der Schule gemobbt worden war. Seine Eltern hatten als sogenannte Gastarbeiter zwar Arbeit gefunden, fühlten sich in ihrem Aufnahmeland aber wenig willkommen. Peter hatte schon als kleines Kind erspüren müssen, was die anderen von ihm wünschten, hatte solche Anpassungsleistungen und solches Entgegenkommen- - wahrscheinlich mehr als ihm guttat-- erbracht, was ihm als Schwäche ausgelegt wurde. Statt sich die Liebe seiner Mitschüler zu erwerben, was er sich sehnlichst wünschte, wurde er von diesen manipuliert und ausgenutzt. Das führte in ihm zu einem wachsenden und sich anstauenden, weil nirgends zu entladenden Groll den anderen gegenüber. Kommentar Das heißt, unverarbeitete frühere Erlebnisse (die nicht gelungene Integration der Familie) beeinflussen gegenwärtiges Erleben und Verhalten wesentlich. „Eingefleischte“ emotionale Tendenzen (die Neigung, sich zu unterwerfen, und anschließende Wutempfindungen) zementieren dysfunktionale Beziehungsmuster. Eine mangelnde Regulierungsfähigkeit (Peter hält die wachsende Spannung, weil niemand aufsteht, nicht aus) führt nicht zur Befriedigung eigener Bedürfnisse-- im Gegenteil: Er steigt aus dem Zug und muss auf den nächsten warten. Fallbeispiel (Fortsetzung) In der Selbsterfahrungsgruppe konnte Peter, als er genügend Vertrauen zu den anderen gefasst hatte, seine seit Jahrzehnten angestaute Wut zeigen und in einer späteren Gruppensitzung vollständig zum Ausdruck bringen. Er nutzte seine Fäuste, um auf eine an die Wand gestellte Matratze einzuschlagen. Er trat mit den Füßen dagegen. Er schrie sich seine Wut aus dem Leib. Sein Zorn speiste sich, wie seinen Worten zu entnehmen war, aus einer langen 14 1 | 2021 Margit Koemeda-Lutz Reihe von kränkenden und verletzenden Episoden aus seiner Schulzeit. Anschließend an seine emotional sehr bewegende Ausdrucksarbeit war es Peter wichtig, Kontakt mit einzelnen Gruppenmitgliedern aufzunehmen und zu fragen, wie sie ihn erlebt hätten. Dabei war es heilsam für ihn, die Berechtigung seiner Gefühle und die Erfahrung bestätigt zu bekommen, dass, anders als in seiner Kindheit, die anderen seine Emotionen tolerierten und dass er für seinen Gefühlsausdruck nicht bestraft wurde. Die anderen Gruppenmitglieder signalisierten ihm stattdessen, dass sie, nachdem sie Zeugen seines archaischen Gefühlsausdrucks geworden waren, Sympathie und Mitgefühl für ihn empfänden. In der Folge begann Peter, sich selbst zu mögen. Er lernte, aufkommenden Ärger frühzeitig und genauer wahrzunehmen und besser angepasste Formen und Zeitpunkte zu finden, um seine Gefühle zu kommunizieren. Dabei versucht er zu unterscheiden, inwieweit sich momentane Gefühle auf die aktuelle Situation beziehen oder inwieweit die aktuelle Situation eher die aus früheren Episoden angestaute Wut auslöst. Diesen gestauten Zorn bearbeitet er in einer laufenden psychotherapeutischen Behandlung. Er baut ihn nach und nach ab und integriert das Erlebte in seine bewusstseinsfähige Erinnerung. Er lastet es nun nicht mehr grundsätzlich sich selbst an, wenn andere mit seinen Emotionen nicht klarkommen. Kommentar Im Unterschied zu dem spontan erfolgten- - einsamen- - Wutausbruch auf dem Bahnhof wird Peter im Gruppensetting dazu aufgefordert, seine Wut Menschen, die ihm etwas bedeuten (die anderen Gruppenmitglieder, die Therapeutin), zu zeigen. Es handelt sich hierbei um einen bewusst herbeigeführten kommunikativen Akt. Zuvor war der Konflikt zwischen gefühlter Wut und der Angst, dass sich seine Bezugspersonen von ihm abwenden würden, wenn er sie zeigte, thematisiert worden. Peter ging das Risiko ein, diese alte Erfahrung erneut zu machen in der Hoffnung, diesmal vielleicht doch etwas Neues, anderes zu erleben. Er kannte die in der Gruppe etablierten Regeln, dass Stimme, Fäuste und Füße benutzt werden durften, um eine eigens dafür aufgestellte Matratze zu malträtieren (siehe auch Lowen / Lowen 1977). So könne er jederzeit unterbrechen. Es wurde vereinbart, dass sowohl er als auch die Therapeutin unterbrechen dürfte, falls die Gefahr einer Selbst- oder Fremdverletzung bestünde. Im Anschluss an seine volle emotionale Reaktion, die er diesmal, ohne die Kontrolle über sich zu verlieren, zum Ausdruck gebracht hatte, war das Einholen von Rückmeldungen der anderen wesentlich. Emotionsausdruck innerhalb menschlicher Beziehungen wird in aller Regel als sinnvoll und Sinn stiftend erlebt, während ins Leere gelaufene Emotionen wirkungslos bleiben und in der Folge häufig Scham auslösen. Die Gruppe validierte Peters Emotionen als nachvollziehbar und berechtigt. Durch deren archaischen Ausdruck gewann er Sympathien und Mitgefühl von den anderen. Zusammenfassung und Ausblick Ein bioenergetisches Verständnis von Emotionen beruht auf folgenden Annahmen: Menschliche Organismen bauen ihre Persönlichkeit (d. h. eine somatopsychische Charakterstruktur; Lowen 1958; Johnson 1994) unter anderem, um sich gegen emotionalen Schmerz zu schützen und um weiteres Verletztwerden zu vermeiden. Abwehrmechanismen verfestigen sich zu chronischen Muskelspannungen, Körperhaltungen, Denk- und Fühlgewohnheiten, physiologischen Reaktionstendenzen und automatisierten Verhaltensmustern. In Therapien geht es darum, automatisierte dysfunktionale Reaktionsmuster zu unterbrechen, daraus entstehende Gefühle, insbeson- Emotionen als leibnahe Phänomene 1 | 2021 15 dere Ängste, wahrzunehmen und neue Lösungen für Konflikte zwischen Wunsch und Ängsten zu entwickeln, in erster Linie aber dysfunktional gewordene Abwehrstrukturen zu „schmelzen“ und automatisierte Reaktionsmuster mit besser geeigneten zu „überschreiben“. Zum emotionalen Zyklus gehört: ● das Wahrnehmen von Körperempfindungen ● das Wahrnehmen des aktuellen Gefühls ● die Frage nach zugrundeliegenden Bedürfnissen ● das Erkennen und Meistern (d. h. Verstärken, Gestalten oder Zurückhalten) von Handlungsimpulsen ● die richtige Wahrnehmung und Einschätzung von Interaktionspartnern ● eine Abstimmung des eigenen Verhaltens auf zu erwartende Konsequenzen ● das In-Gang-Setzen von zielführender Kommunikation und Verhalten ● die Rückkehr zu einem entspannten Ruhezustand Der zuletzt genannte Punkt kann durch gezieltes Meditieren geübt werden. In Abb. 4 befindet sich das (Selbst-)Bewusstsein in der Mitte. Emotionen entstehen dort, wo wir betroffen sind. Unser (Selbst-)Bewusstsein wird durch Sinneseindrücke, äußere Begebenheiten, Gedanken, Erinnerungen und Gefühle angeregt, manchmal aufgewühlt. Wir sollen und dürfen uns bewegen lassen, um Erfahrungen zu machen, zu handeln und zu lernen. Wir sollten aber auch dafür sorgen, dass wir immer wieder zur Ruhe und in die Mitte unseres (Selbst-) Bewusstseins zurückkehren. Emotionen sind wesentliche Elemente unserer Lebendigkeit. Sie haben seelische und körperliche Aspekte, sind Beweggrund für unser Handeln. Sie verbinden uns mit unserem Leib im Hier und Jetzt und sind ein Brennpunkt unserer persönlichen Präsenz. Dieser Beitrag basiert auf drei Vortragsmanuskripten: Vortragsreihe „Emotionale Intelligenz- - Intelligente Emotionalität“, Dr. Ursula Germann- Müller. Öffentliche Veranstaltungen Psychologie / Psychotherapie, 30.4.2019, Universität St. Gallen 5. Tagung der bioenergetisch-analytischen Gesellschaft. „Den Bogen spannen. Die Arbeit mit Gefühlen in der Bioenergetischen Analyse. Jetzt.“ 27.-29.9.2019, Kirchschlag bei Linz 15. Grazer Psychiatrisch-Psychosomatische Tagung, Leitthema: „Leib“. 16.-18.1.2020, Graz Literatur Bauer, J. (2005). Warum ich fühle, was du fühlst. 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Klett-Cotta, Stuttgart Dr. Dipl. Psych. Margit Koemeda-Lutz Eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin in eigener Praxis; Bioenergetische Analytikerin; Fakultätsmitglied SGBAT, IIBA; Weiterbildungsleitung SGBAT; Mitherausgeberin „körper-- tanz-- bewegung“. ✉ Dr. Dipl. Psych. Margit Koemeda-Lutz „Breitenstein“ Fruthwilerstrasse 70 | CH-8272 Ermatingen koemeda@bluewin.ch