körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Leitfaden für ein erfülltes Alleinsein
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Krisztina Berger
Die Corona-Zeiten bringen besondere Herausforderungen mit sich. Dem Schutz vor dem Virus werden Bedürfnisse wie Nähe, Bewegung und Kommunikation untergeordnet. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse trägt jedoch zu einer ausgeglichenen Psyche bei. Problematisch ist auch, dass psychische Vorerkrankungen durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus verstärkt werden. Kontaktbeschränkungen scheinen kurzfristig sinnvoll, könnten aber mittel- bis langfristig schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit haben. Im vorliegenden Artikel werden umfassende und erprobte Methoden skizziert, um der sozialen Isolation konstruktiv begegnen zu können. Eine Veränderung der inneren Einstellung, vor allem der inneren Einstellung zu uns selbst, hilft, damit die Zeit des ungewollten Alleinseins zu einer erfüllten Lebenszeit wird.
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Fachbeitrag 73 körper-- tanz-- bewegung 9. Jg., S. 73-81 (2021) DOI 10.2378/ ktb2021.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Leitfaden für ein erfülltes Alleinsein Krisztina Berger Die Corona-Zeiten bringen besondere Herausforderungen mit sich. Dem Schutz vor dem Virus werden Bedürfnisse wie Nähe, Bewegung und Kommunikation untergeordnet. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse trägt jedoch zu einer ausgeglichenen Psyche bei. Problematisch ist auch, dass psychische Vorerkrankungen durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus verstärkt werden. Kontaktbeschränkungen scheinen kurzfristig sinnvoll, könnten aber mittelbis langfristig schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit haben. Im vorliegenden Artikel werden umfassende und erprobte Methoden skizziert, um der sozialen Isolation konstruktiv begegnen zu können. Eine Veränderung der inneren Einstellung, vor allem der inneren Einstellung zu uns selbst, hilft, damit die Zeit des ungewollten Alleinseins zu einer erfüllten Lebenszeit wird. Schlüsselbegriffe Corona-Krise, Alleinsein, Einsamkeit, soziale Isolation, emotionale Belastung, Resilienz, Selbstreflexion, Beziehung zu uns selbst, Selbstakzeptanz Guide for a Fulfilled Solitude Corona times have brought us special challenges. Specific needs like closeness, movement, and communication are subordinated to protection against the virus. However, fulfilling these needs contributes to a balanced psyche. It is problematic that pre-existing mental illnesses may be aggravated by measures taken to control the spread of the virus. Contact restrictions seem to be reasonable in the short run, but in the medium or long run, these measures could have serious mental health consequences. In the present article, comprehensive, tried and tested methods to counteract social isolation in a constructive manner are outlined. A change in the inner attitude, in particular the inner attitude towards ourselves, helps to transform the time of unwanted solitude into a time of fulfilment. Key words Corona crisis, solitude, loneliness, social isolation, emotional distress, resilience, self-reflection, relationship to the self, self-acceptance Die psychischen Folgen der Corona-Pandemie D ie meisten Menschen sorgen sich in der Corona-Krise mehr als zuvor um die Gesundheit ihrer Angehörigen, erleben einen Kontrollverlust über die eigene Lebensgestaltung, haben Ängste um ihren Arbeitsplatz und ihre finanzielle Lage. Hinzu kommt für viele die schwerwiegendste Folge der sozialen Isolation: die Einsamkeit. Auf Dauer macht das Menschen krank. und erhöht das Mortalitätsrisiko (Holt-Lunstadt et al. 2010). Die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage (Erhebungszeitraum Ende September bis Anfang Oktober, Haas/ Kunz 2020) im Auftrag des Bun- 74 2 | 2021 Krisztina Berger desarbeitsministeriums und des Forschungsinstituts IZA sind alarmierend: Fast 70 Prozent der Erwachsenen fühlen sich emotional belastet, weil sie um die Gesundheit von Angehörigen fürchten. 55 Prozent leiden unter der Unsicherheit, wie es in den nächsten Monaten weitergehen soll. Auch die Einschränkungen des Handlungsspielraums, der Verlust sozialer Kontakte und Sorgen um die Gesundheit setzen einem großen Teil der Bevölkerung zu. 15 Prozent nennen finanzielle Schwierigkeiten als Bürde. Die fehlende Trennung von Arbeit und Privatleben im Homeoffice belastet etwa jeden Zehnten. Frauen leiden grundsätzlich stärker unter der Krise und haben mehr psychische Probleme als Männer: Verlust sozialer Kontakte und Sorgen um die Gesundheit sind die Hauptfaktoren. Durch zusätzliche Heimarbeit, Kinderbetreuung und Homeschooling sind sie besonders belastet. Es ist zu befürchten, dass die durch die Corona-Krise ausgelösten emotionalen Belastungen und Ängste zu einer Zunahme von psychischen Erkrankungen führen werden, und zwar nicht nur pandemiebegleitend, sondern auch in den folgenden Jahren. Eine aktuelle Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO 2020) unter ihren 26,5 Millionen Versicherten zeigt, dass psychische Leiden bereits in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 für 16,4 Prozent der Krankheitstage verantwortlich waren. Im Vorjahr waren es noch 15,8-Prozent. Es zeigen sich gleichzeitig deutlich weniger Krankschreibungen als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Das kann darauf zurückzuführen sein, dass viele psychisch Erkrankte in der Lockdown-Phase zu Beginn der Pandemie aus Angst vor Ansteckung auf einen Arztbesuch verzichtet haben. Parallel zur Abnahme der Fallzahlen von psychisch bedingten Krankschreibungen zeigt sich allerdings eine sprunghafte Zunahme der Länge dieser Krankschreibungen. Offenbar haben psychisch Erkrankte verstärkt auf die Einschränkungen und Belastungen reagiert, die mit der Pandemie einhergingen, und waren dadurch über einen längeren Zeitraum arbeitsunfähig, so die Hypothese im WIdO-Bericht. Auch andere Krankenkassen verzeichnen Zuwächse beim Anteil der Depressionen und Angstzustände, der Rückfall- und Überdosierungsrate- - bei insgesamt fallenden Krankheitsständen während der Corona-Krise. Angst vor Stigmatisierung: allein mit den Sorgen Die Forsa-Umfrage (Haas / Kunz 2020) zeigt auch, dass viele mit ihren Sorgen allein bleiben. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, sich in emotional belastenden Situationen selten oder nie Hilfe von anderen zu holen. Leider zögern viele zu lange, sich professionelle Hilfe zu suchen. Die meisten versuchen es, allein durchzustehen, lässt sich aus den Daten abzulesen: Nur eine Minderheit der emotional Belasteten sucht ab und zu Rat bei Ärzten und Psychologen (30 %) oder in Beratungsstellen (8 %). Bleibt die Quote so niedrig, werden die Beschwerden bei psychisch Kranken immer stärker. Ein Grund für die verhältnismäßig geringen Zahlen an Behandlungen ist möglicherweise die Angst vieler psychisch Kranker, das Haus zu verlassen und sich dabei zu infizieren. Eine weitere, unserer Gesellschaft betreffende Ursache ist die Angst vor Stigmatisierung. Um diesem Prozess der Diskreditierung entgegenzuwirken, wurde ein bundesweites Präventionsprojekt „Offensive Psychische Gesundheit“ der drei Bundesministerien BMAS, BMG und BMFSFJ mit der zentralen Fachgesellschaft für psychische Gesundheit, der DGPPN, gestartet (DGPPN 2020). Mehr gesellschaftliches Bewusstsein für psychische Erkrankungen und bessere Aufklärung sind zwei der erklärten Ziele. Die Pandemie hat das Thema der Tabuisierung psychischer Krankheiten noch mal stärker in den Fokus gerückt. Die Leitfaden für ein erfülltes Alleinsein 2 | 2021 75 Initiative ist ein wichtiges Zeichen zur richtigen Zeit. Ausnahmesituation meistern Häusliche Isolation und Quarantäne sind Ausnahmesituationen, welche die meisten Menschen noch nicht erlebt haben. Ansteckungsängste, Frustration und Langeweile, Einschränkung der materiellen Versorgung, Fehlinformation, finanzielle Nöte und Stigmatisierung von Betroffenen sind die wichtigsten Stressoren hierbei-- besonders wenn die Quarantäne länger andauert (Brooks et al. 2020). Es gibt wissenschaftlich erforschte und bewährte Verhaltensmaßnahmen sowie mentale Strategien, die es ermöglichen, diese Ausnahmesituation zu meistern. Die Well-Being-Kurzzeittherapie zur psychischen Stabilisierung vermittelt eine Haltung, durch die PatientInnen ihr Wohlbefinden aktiv selbst beeinflussen können (Brakemeier 2020). Bei diesem Ansatz sind positive Gefühle nicht das Ergebnis äußerer Einflüsse, sondern man kann lernen, auf sie einzuwirken, was äußerst hilfreich ist zu einer Zeit, in der man kaum auf die äußeren Einflüsse einwirken kann. Bei Jacobi (2020) findet man eine Checkliste hilfreicher Maßnahmen, die man folgenderweise strukturieren kann: ● emotionale Ebene: Raum für Gefühle geben ● mentale Ebene: positive Einstellung (Quarantäne als Dienst an der Gesellschaft), Besinnung auf die eigenen Stärken, Grübeln begrenzen, Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen ● physische Ebene: Bewegung / Sport ● Verhalten: Tagesstruktur einhalten, bewusster / gezielter Medienkonsum ● soziale Kontakte: Kontaktpflege über die Distanz In dem vorliegenden Ansatz möchte ich zum Kernproblem der sozialen Isolation und die damit verbundene Einsamkeit zurückkehren und aus der differenzierten Betrachtung dieses Kernproblems hilfreiche Maßnahmen für eine positive Einstellung zum Alleinsein ableiten. Alleinsein versus Einsamkeit Alleinsein ist objektiv gesehen nichts weiter als ein Zustand. Man kann also etwas alleine unternehmen, ohne sich zwingend einsam zu fühlen. Einsamkeit ist hingegen ein Gefühl, ein Gefühl des Mangels. So wird in der Sozialpsychologie zwischen „sozialer Isolation“ und „Empfindung der Einsamkeit“ unterschieden. Als einsam gilt dabei eine Person, die Anzahl und Intensität ihrer sozialen Kontakte als unzureichend empfindet und unter diesem Mangel leidet. Dies kann auch von weiteren Gefühlen begleitet sein, wie Sehnsucht, Angst, Verlassenheit, innere Leere, fehlende Zugehörigkeit und das Empfinden, von der Welt und Freude ausgeschlossen zu sein. Die Einsamkeit ist auch oft schambesetzt, weil manche Menschen das Alleinsein mit sozialem Versagen gleichstellen und in Selbstschuldzuweisungen verharren (Bohn 2006). Es handelt sich hier schließlich um ein Gefühlskomplex und kein isoliertes Gefühl. In dem Gefühl der Einsamkeit sind mehrere Schichten von Teilgefühlen miteinander vor dem Hintergrund einer multikausalen Psychodynamik verwoben, so lautet meine Devise. Man kann sich neben einem Partner oder auch in einem turbulenten sozialen Leben einsam fühlen. Dies nenne ich „soziale oder verborgene Einsamkeit“. In solchen Fällen ist jemand von vielen umgeben, aber die Beziehungen sind oberflächlich und geben nicht die Erfahrung einer echten Verbindung. Das heißt, es besteht eine Beziehung, aber es entsteht kein Gefühl der seelischen Verbundenheit. Die Gefahren „sozialer / verborgener Einsamkeit“ sind, Kälte, Distanzierung und Unliebsamkeit zu erfahren und mit den Gedanken, Freuden und Sorgen trotz der physischen 76 2 | 2021 Krisztina Berger Anwesenheit des Partners ganz allein zu bleiben. Wer das Leben mit einer solchen Person verbringt, flüchtet zum Beispiel in eine Krankheit, um den Anderen auf sich aufmerksam zu machen. Hier spielt die unbewusste Abwehrreaktion der Somatisierung eine Rolle und zeigt sich gerne in somatoformen Störungen. Wenn jemand sich einsam fühlt, obwohl man viele Kontakte hat, kann man auf noch mehr Unverständnis der Umgebung stoßen. Es fällt schwer, mit negativen Gefühlen, insbesondere mit Einsamkeitsgefühlen, umzugehen, und zwar sowohl mit der eigenen Einsamkeit als auch mit der Einsamkeit anderer Menschen. Deshalb ist ein Rückzugsverhalten zu beobachten, wenn jemand mit Einsamkeit konfrontiert wird. Diese Angst vor Einsamkeit zeigt, wie mächtig dieses Gefühl ist. In einem Experiment (Wilson et al. 2014) fügte sich zum Beispiel jede zweite Versuchsperson-- vor allem Männer (25 % von Frauen, 67 % von Männern)- - lieber einen Stromschlag zu als eine Viertelstunde mit ihren Gedanken allein zu sein. Im Fall der „sozialen Isolation“ wird das durchschnittliche Maß an Kontakten unterschritten, das innerhalb der demographischen Bezugsgruppe einer Person als üblich gilt. Wenn diese „soziale Isolation“ auch subjektiv gesehen von Mangelgefühlen der Einsamkeit begleitet wird, findet man unterschiedliche Facetten der Einsamkeit, angefangen von Kindern, die in der Schule gemobbt werden, über ein Single-Dasein bis hin zur Alterseinsamkeit. Sowohl die äußeren Faktoren, wie z. B. die Zugehörigkeit zu einer sozialen Risikogruppe, als auch die inneren Faktoren, wie die Struktur der Persönlichkeit und ihre innenliegenden Aufarbeitungs- und Reaktionsmechanismen (z. B. negatives Selbstbild, selektive negative Wahrnehmung, negative Attribuierungsmuster des sozialen Misserfolgs …), ergeben immer eine andere Färbung des Grundgefühls „Einsamkeit“. Nach dem IW-Report (Eyerund / Orth 2019) fühlte sich in Deutschland im Jahr 2019 etwa jede zehnte Person oft oder sehr oft einsam. Der Großteil von 60 Prozent hat dieses Gefühl nur selten oder nie. Einsamkeit tritt zwar häufiger bei älteren Personen auf, jedoch weist auch die mittlere Altersklasse der 30bis 39-jährigen relativ hohe Werte auf. Am stärksten hatte die Einsamkeit im Jahr 2019 in den jüngeren Altersgruppen zugenommen. Für das Jahr 2020 kann wegen den sozial isolierenden Maßnahmen der Corona-Pandemie eine zunehmende Einsamkeit erwartet werden. Aus der Studie geht außerdem hervor, dass Einsamkeit starke negative individuelle sowie gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen hat. Maßnahmen, die indirekt positiv auf die Einsamkeit auswirken, wie Gesundheit, Erwerbstätigkeit sowie Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von Freizeitaktivitäten sind meines Erachtens nur ein Teil der Lösung. Es sollte eine Veränderung der inneren Einstellung stattfinden, damit die Zeit des ungewollten Alleinseins zu einer erfüllten Lebenszeit wird. Denn Alleinsein hat auch viele Vorteile, wenn sie gut genutzt wird. Vorteile des Alleinseins Alleinsein kann erholsam und gesund sein. Die Forschung zur Work-Life-Balance konzentrierte sich in der Vergangenheit in erster Linie auf die zwei Dimensionen Arbeits- und Sozialleben. Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass viele Menschen darüber hinaus Zeit für sich selbst benötigen. Die Ergebnisse einer umfassenden Studie (Grisslich et al. 2012) zeigen, dass ein dreidimensionaler „Life-Balance“-Ansatz (Zeit für Arbeit, Zeit für Soziales, Zeit für Persönliches) ein besserer Prädiktor für Gesundheit ist als ein zweidimensionaler Work- Life-Balance-Ansatz mit den Komponenten Arbeit und Soziales. Personen mit einem hohen „Life-Balance“-Wert berichten hohe Gesundheitswerte. Insofern sind Phasen des Alleinseins gut und wichtig für uns. Leitfaden für ein erfülltes Alleinsein 2 | 2021 77 Alleinsein kann Kreativität fördern, denn wer allein und auf sich gestellt ist, muss eigene Ideen und Lösungswege entwickeln. Außerdem hilft Alleinsein, solche Gedanken zu entwickeln, die in ständiger Kommunikationsflut oder in einer hektischen Meetingsituation keine Chance zur Reifung hätten (Csíkszentmihályi 2010; Knauß 2018). In diesem Zusammenhang können wir über schöpferisches Alleinsein reden. Alleinsein stärkt Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen und Unabhängigkeit. Wer alleine zurechtkommt und Lösungen für seine Probleme findet, stärkt natürlich das Selbstvertrauen. Wenn man außerdem die Gewissheit gewinnt, dass man eine gute Gesellschaft für sich selbst ist, wird man unabhängiger von anderen. Entsprechend braucht man auch wenig Feedback von außen, wenn man selbst weiß, wer man ist und was man wert ist (Bohn 2006). Alleinsein lässt die Gesellschaft anderer mehr genießen. Vor allem Menschen mit geringem Selbstwert ertragen das Alleinsein schwer. Wer wenig Selbstbewusstsein besitzt, braucht die Bestätigung anderer. Doch nur wer allein sein kann, kann die Gemeinschaft mit anderen wirklich genießen. Dann bereichern einen diese Menschen, ohne dass man von ihnen abhängig ist (Bohn 2006). Leitfaden für ein erfülltes Alleinsein In Anlehnung an diese positiven Wirkungen vom Alleinsein habe ich einen Leitfaden entwickelt, den wir TherapeutInnen selbst für unsere Resilienz nutzen können, aber auch an unsere KlientInnen und PatientInnen weitergeben können. Das Alleinsein ist nach meiner Auffassung ein Spiegel der Beziehung zu uns selbst. In dieser Innenschau, wo der Blick nicht von äußeren Reizen wie Medien oder auch Familie und Freunde gestört wird, kommt zu Tage, welches Selbstbild wir über uns hegen. Diesen Prozess kann man auch fördern und konstruktiv leiten. Das Kernthema des Alleinseins und auch der sozialen Isolation in der Corona-Pandemie ist also „die Beziehung zu uns selbst“. Wenn die Beziehung zu uns selbst auf Akzeptanz und Liebe basiert, kann eine soziale Isolation nicht zu einer Bürde werden. Körperliche Basis: Die Beziehung zu uns selbst beginnt mit der Beziehung zu unserem Körper, was im Allgemeinen gerne zu Gunsten der mentalen Ebene vergessen wird. Das Ziel ist hier, ein körperliches Grundgefühl zu schaffen und das auch zu stabilisieren. In der Zeit des Alleinseins können also Übungen zur Selbstwahrnehmung, Achtsamkeit (z. B. Bodyscan) und Stabilisierung der somatischen Basis durchgeführt werden. Selbstreflexion: Die Beschäftigung mit uns selbst führt zu zahlreichen Erkenntnissen. Aus diesen Erkenntnissen in diesem komplexen Selbstfindungsprozess erwächst eine Identität, die authentisch und unverfälscht individuell ist, die keine Maskeraden, keine Entschuldigungen und keine Erklärungen mehr braucht. „Ich bin so“. Diese umfassende Selbsterkenntnis geht (optimalerweise) mit einer tiefen Selbstakzeptanz einher, die in der Selbstliebe mündet. Wie können wir diesen Prozess fördern? Die Voraussetzung für eine gelungene Selbstreflexion ist die Ehrlichkeit zu uns selbst. Naheliegend ist im Weiteren, die Zeitachse zu nutzen: Vergangenheit- - Gegenwart- - Zukunft. Folgende Fragen können dabei hilfreich sein: 1. Vergangenheit: Was waren Ihre Glücksmomente? Was waren Ihre tiefsten Enttäuschungen? Was steckt eigentlich dahinter? Was sind die wiederkehrenden Muster in Ihrem Leben? Was macht Sie aus? Was hat Sie bis hierher geführt? Was können Sie daraus ziehen, um die Kraft zu haben, in die Zukunft zu gehen? Das tiefe Verstehen und Reifen der bisherigen Erfahrungen, das Verständnis der eigenen individuellen Funktionsweisen und auch allgemeinen menschlichen Gesetzmäßigkeiten ist 78 2 | 2021 Krisztina Berger wichtig, damit man zielgerichteter, (selbst)bewusster, und / oder gelassener in die Zukunft schreitet. 2. Gegenwart: Innere Ordnung in den aktuellen Erlebnissen und Erfahrungen schaffen. Wachsamkeit: Was ist gerade die Botschaft des Lebens für Sie? Was steht an, was sollten Sie lieber lassen? Genauso gehört hierhin auch der Fokus und vollständiges Erleben des gegenwärtigen Moments. Das berühmte „Hier und Jetzt“. Im Alleinsein kann man außerdem leichter auf eigene Bedürfnisse achten und sie auch erfüllen. Aus diesen Bedürfnissen kann man wiederum Entscheidungen und Handlungen für die Zukunft ableiten. 3. Zukunft: Im Alleinsein können unerfüllte Ziele, Sehnsüchte, Träume lauter werden. Hier hat das Hinterfragen der im Alltag verfolgten Ziele seinen berechtigten Platz: Folgen Sie eigentlich Ihren eigenen Zielen oder Ihren auferlegten Zielen? Genauso kann im Alleinsein auch eine Reifung der stimmigen Pläne stattfinden. Die Frage ist an dieser Stelle: Was führt Sie in diese Zukunft? Eine schöne Übung mit befreiender Wirkung ist, sich selbst ohne finanziellen Druck in materieller Fülle vorzustellen: Was wären dann Ihre Lebensziele? Wie würden Sie dann die Prioritäten setzen? Wie würden Sie Ihre Zeit strukturieren? Wie ist das Leben, das Ihre (momentan) tiefste Selbsterkenntnis ausdrückt? Wenn der Prozess dieser Selbstreflexion mit tanztherapeutischen Interventionen begleitet wird, ist die Anbindung an die Weisheit des Körpers gegeben. Die Ergebnisse können in einem Tagebuch festgehalten werden. Anhand dieser Zeitachsen-Methode der Selbstreflexion formt sich in uns: Von wo gehen wir wohin? Wo sind unsere Wurzeln? Die aus der Vergangenheit zurückkehrenden Qualitäten können unterstützen, aber auch die Verwirklichung der vorgestellten, erträumten, ausgedachten, erspürten Ziele ausbremsen. Deshalb ist das Bewusstsein über die Wirkfaktoren so wichtig. Hier können hinderliche Glaubenssätze als die Ursache der Selbstlimitierung entlarvt und transformiert werden. Die Transformation dieser Glaubenssätze kann langfristig wiederum nur dann gelingen, wenn gleichzeitig der zugehörige emotionale Ballast losgelassen wird. Nach diesem vielschichtigen Prozess erhöht sich tatsächlich die Chance, unsere Ziele, Träume und Sehnsüchte zu erreichen bzw. zu verwirklichen. Emotionale Basis: Gerade im Alleinsein werden auch Emotionen intensiver, es wird deutlich, was das vorherrschende Basisgefühl der aktuellen Zeit ist. Sind wir im Grunde ausgeglichen und zufrieden, oder nagt an uns z. B. eine unerklärliche Wehmut, Unzufriedenheit, Nicht- Angekommensein? Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung. Und trotz der Schatzkammer dieser emotionalen Bearbeitung empfehle ich in dieser Krisenzeit meinen KlientInnen, die viel allein sind, ihr Gefühlsleben im Positiven zu verankern: 1. Übung: Warum bin ich glücklich? Es ist eine wirksame Übung, wenn man dieser Frage versonnen nachzusinnen beginnt. Wird das Gefühl des Glücklichseins täglich geübt, so wird man im Alltag zunehmend unabhängiger von äußeren „Glücksquellen“. Das Bewusstsein geht nämlich in diesem versonnenen, wenig kontrollierten Zustand wie ein Jagdhund los, um auf diese Frage eine Antwort zu finden. Es bringt uns innere Bilder, Erinnerungen, Gefühle, die diese Frage positiv bestätigen. 2. Übung: Dankbarkeit. In der Dankbarkeit richten wir unsere innere Aufmerksamkeit auf alles, was in unserem Leben positiv, gar ein Geschenk ist. Und wenn man anfängt zu suchen, wird man immer mehr fündig, so verstärken sich auch die positiven Effekte dieser Übung auf unser Wohlbefinden. Mit der Zeit werden diese Methoden zu inneren Einstellungen und zu tragenden Säulen unserer Resilienz. Allerdings ist die Dankbarkeit auch eine Emotion, aber noch anders als das Glücksgefühl. Das Glücklichsein bringt ein Hochge- Leitfaden für ein erfülltes Alleinsein 2 | 2021 79 fühl, die Dankbarkeit bringt wiederum tiefe Demut. Mit den genannten drei Methoden (körperliche Basis, Selbstreflexion, emotionale Basis) wird die körperliche, mentale und emotionale Ebene des Menschen gleichermaßen angesprochen. Dementsprechend sind auch die Früchte dieser Innenschau / dieser Auseinandersetzung vielfältig. Es ist jedoch nicht einfach, Aufmerksamkeit, die bis dahin nach außen gerichtet war, nach innen zu lenken. Daher ist der Gedanke, dass „nichts passiert“, für manche Menschen unerträglich, denn wenn nichts passiert, hört das Leben auf. Die Brücke zu dieser konstruktiven und komplexen Innenschau können z. B. geführte Meditationen, kreativer Ausdruck, Sport, Genuss von Kultur bis hin zu Gartenarbeit sein. Wichtig ist, dass wir diese Zeit mit Inhalten füllen, in denen wir unsere innere Stille finden können. Die Alchemie der Verwandlung: von der Einsamkeit zum schöpferischen Alleinsein In vielen Fällen, besonders im therapeutischen Kontext, ist die Verankerung im Positivem durch Dankbarkeit oder eine „Übung des Glücksgefühls“ nicht möglich. Der Gefühlsballast ist viel zu groß, um die innere Aufmerksamkeit dauerhaft auf das Positive ausrichten zu können, daher bleibt uns der „Höllengang“ nicht erspart. Wir rufen die Verbindung zwischen Psyche und Körper zur Hilfe. Die Übung habe ich „Wurzelbehandlung der Einsamkeit“ genannt: 1. Einstimmung, Beobachtung des Gefühls: Ich lasse den Klienten im Gefühl seiner Einsamkeit ankommen. Er ist dazu aufgerufen, dieses Gefühl in sich zu beobachten. Welche Facetten hat es? Wahrnehmen und zulassen. Das Gefühl sein lassen. Nicht wegschieben oder verdrängen, nicht in rationale Schranken sperren, sondern zulassen. 2. Beobachtung der körperlichen Reaktion auf das Gefühl: Dann richten wir die Aufmerksamkeit auf den Körper. Was macht der Körper, wenn er in diesem Gefühl verharrt? Welcher Tonus der Muskulatur ist zu beobachten? Eine schlaffe Anspannungslosigkeit, die mit einem lethargischen „Sich-Aufgeben“ als Ausdruck der Sinnlosigkeit und Leere einhergeht? Oder wird der Körper gerade angespannt, um aktions- und fluchtbereit aus der Situation, aus der eigenen Haut, aus dem eigenen Leben wegrennen zu wollen? 3. Vertiefung, die Wurzel finden: Diese körperliche Reaktion, sei es Anspannung oder schlaffe Trägheit, wird zugelassen und das Gefühl der Einsamkeit weiter intensiviert: „Welches Teilgefühl schmerzt Ihnen am meisten darin? Die Angst, für immer allein zu bleiben? Die Verlassenheit, die kalte Leere oder das Gefühl, von niemandem geliebt zu werden? Intensivieren Sie jetzt dieses Gefühl bis zum schmerzhaftesten Punkt. Lassen Sie dazu Ihren Körper frei bewegen, frei mitschwingen, damit dieser eine eigene, sei es auch sonderbare Reaktion auf dieses Gefühl gibt.“ 4. Wandlung, Transformation: An dem tiefsten Punkt, an dem es nicht mehr dunkler wird, an dem alle negativen Gefühle und Schmerzen in der Bewegung ausagiert wurden, beginnt ein Spross der Leichtigkeit zu wachsen. Es kann auch ein anderes, positives Gefühl sein: Frieden, Erleichterung, Ruhe, Akzeptanz, Freude oder Kraft-…-Jetzt wird dieses positives Gefühl aktiv wahrgenommen: „Lassen Sie dieses Gefühl in Ihrem Körper Platz nehmen. Lassen Sie dieses Gefühl in Ihnen wachsen, ausdehnen bis zu den Zehen, bis zum Scheitelpunkt …“ 5. Festigung, Bewegungsmantra: „Finden Sie aus diesem positiven Gefühl heraus eine Bewegung oder eine Bewegungssequenz, die Sie mit der gefundenen Qualität ausfüllt und verbindet, die in Ihnen die Leichtigkeit oder die Kraft verstärkt. Das soll Ihr Bewegungsmantra 80 2 | 2021 Krisztina Berger im Alltag sein, damit Sie sich an Ihre Wandlung erinnern und sich jederzeit mit der positiven Qualität des Alleinseins verbinden können.“ Außer dieser Übung „Wurzelbehandlung der Einsamkeit“, die auf der tanztherapeutischen Methode „Intensivierung und Bildung von Polaritäten“ beruht, gibt es zahlreiche andere Übungen, in denen man dem Thema „Einsamkeit“ konstruktiv begegnen kann. Beispiele: ● In der authentischen Bewegung (Authentic Movement) kann Einsamkeit zu einer intuitiv-expressiven Reise der Selbstbegegnung werden. ● In der Übung „Von der Raupe zum Schmetterling“ bekommt die Einsamkeit die sanften Züge der Selbstliebe. Hier wird die Selbstfürsorge zum Motor der Wandlung von der empfindlichen, zitternden, neurotischen Raupe durch die sich selbst schützende, wohlig einkokonierte Puppe bis hin zum genährten, selbstbewussten, tatkräftigen Schmetterling. ● In dem „Tanz der Dämonen“ oder „Hexentanz“ greife ich das negative Selbstbild auf. Der Ausdruck des Hässlichen, des Unschönen kommt aus dem Butoh-Tanz (jap. Ankoku Butoh-- Tanz der Finsternis). Nach archaischen Vorbildern fertigen wir Masken, wo jeder sich der eigenen Hässlichkeit Ausdruck verschaffen kann. Die Masken und Dämonen-Gewänder helfen, letzte Hemmungen im Tanz loszuwerden. Die Masken verdecken, schützen den Einzelnen in der Gruppe und dienen gleichzeitig dem künstlerischen Selbstausdruck. Dieser Mut zur eigenen Hässlichkeit wirkt befreiend für das Selbstbild und ist ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstakzeptanz. Abschließende Gedanken / Zusammenfassung Die Selbstakzeptanz ist eine Voraussetzung dafür, damit die Zeit des Alleinseins nicht in ein Mangelgefühl der Einsamkeit kippt. Gerade Abb. 1: Vorbereitung auf den Tanz der Dämonen: Maskengestaltung Foto: Krisztina Berger Leitfaden für ein erfülltes Alleinsein 2 | 2021 81 die wertvolle Zeit des Alleinseins kann für eine neue Selbstannäherung genutzt werden und damit als Chance für eine tiefere, reifere Selbstakzeptanz aufgefasst werden. Denn: „Glücklich ist, wer allein sein kann“ (Csíkszentmihályi). Das ist meiner Auffassung nach die höhere Lehre und Entwicklungschance dieser Corona-Zeit: Selbstakzeptanz und Selbstliebe nach innen, Akzeptanz und Liebe nach außen. Literatur Bohn, C. (2006): Einsamkeit im Spiegel der sozialwissenschaftlichen Forschung. Dissertation. Universität Dortmund, Fachbereich Erziehungswissenschaften und Soziologie Brakemeier, E. L. (2020): Die Well-Being-Therapie: Eine Kurzzeittherapie zur psychischen Stabilisierung-- auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Ärztliche Psychotherapie 15 (3), 166-176, https: / / doi.org/ 10.21706/ aep-15-3-166 Brooks, S. K., Webster, R. K., Smith, L. E., Wessely, S., Greenberg, N. (2020): The psychological impact of quarantine and how to reduce it: rapid review of the evidence. The Lancet 395, 912-920, https: / / doi.org/ 10.1016/ S0140-6736(20)30460-8 Csíkszentmihályi, M. (2010): Kreativität: wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden. 8.Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart DGPPN (2020): Offensive Psychische Gesundheit: ein wichtiges Zeichen zur richtigen Zeit. Pressemitteilung vom 5.10.2020. In: www.dgppn.de/ presse/ pressemitteilungen/ pressemitteilun gen-2020/ offensive-psychische-gesundheit. html, 1.12.2020 Eyerund, T., Orth, A. K. (2019): Einsamkeit in Deutschland. Aktuelle Entwicklung und soziodemographische Zusammenhänge. IW-Report 22 / 2019. Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln Grisslich, P., Proske, A., Körndle, H. (2012): Beyond work and life. What role does time for oneself play in work-life balance? Zeitschrift für Gesundheitspsychologie 20, 166-177, https: / / doi.org/ 10.1026/ 0943-8149/ a000076 Haas, C., Kunz, A. (2020): Corona-Krise führt immer häufiger zu psychischen Problemen. In: www.welt.de/ wirtschaft/ article219530668/ Corona-Folgen-Psychische-Probleme-nehmendeutlich-zu.html, 30.11.2020 Holt-Lunstadt, J., Smith, T. B., Layton, J. B. (2010): Social relationships and mortality risk: a metaanalytic review. PLOS Medicine 7 (7). In: jour nals.plos.org/ plosmedicine/ article? id=10.1371/ journal.pmed.1000316, 15.12.2020, https: / / doi. org/ 10.1371/ journal.pmed.1000316 Jacobi, F. (2020): Wie Sie häusliche Isolation und Quarantäne gut überstehen. In: www.psycho logische-hochschule.de/ 2020/ 03/ jacobi_ umgang-mit-quarantaene, 1.12.2020 Knauß, F. (2018): Plädoyer fürs Alleinsein. Einsamkeit als Quelle für Kreativität. In: www.karriere. de/ plaedoyer-fuers-alleinsein-einsamkeit-alsquelle-fuer-kreativitaet/ 23045944.html, 11.9.2018 WIdO (2020): Fehlzeiten in der Pandemie: Weniger Krankmeldungen, aber längere Krankheitsdauer wegen psychischer Erkrankungen. Pressemitteilung vom 15.10.2020. In: www.wido.de/ newsevents/ aktuelles/ 2020/ fehlzeiten-in-der-pandemie, 1.12.2020 Wilson, T. D., Reinhard, D. A., Westgate, E. C., Gilbert, D. T., Ellerbeck, N., Hahn, C., Brown, C. L., Shaked, A. (2014): Just think: The challenges of the disengaged mind. Science 345, 75-77, https: / / doi.org/ 10.1126/ science.1250830 Dr. Krisztina Berger Prom. Physikerin, Tanztherapeutin / Ausbilderin / Lehrtherapeutin BTD, HP Psychotherapie, Embodied Mind Coach, Dozentin HWR Berlin. Seit 2008 eigene Praxis für emotionale Bearbeitung, Affektive Störungen, EQ in der Führung, Stressreduktion, Krisenintervention. ✉ Dr. Krisztina Berger Practice for Integrity and Flow Alt-Moabit 134 | D-10557 Berlin krisztina@krisztina-berger.com www.krisztina-berger.com
