körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Erfahrungsbericht zum Umgang mit Corona-Auswirkungen
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Andrea Goll-Kopka
Marianne Eberhard-Kaechele
In diesem Beitrag wird eine Momentaufnahme im November 2020 der Herausforderungen für Beteiligte der Psychotherapie, Körperpsychotherapie, Tanz- und Bewegungstherapie und ihrer Bewältigung während der Corona-Pandemie vorgestellt und zum kollegialen Austausch aufgerufen. Dabei werden die Kontexte Beratung, Therapie, Supervision und Hochschullehre berücksichtigt. Die Bedeutung der Erfahrungen für die Konzeption von Tanz- und Bewegungstherapie und Körperpsychotherapie wird reflektiert.
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Forum: Aus der Praxis 82 körper-- tanz-- bewegung 9. Jg., S. 82-93 (2021) DOI 10.2378/ ktb2021.art12d © Ernst Reinhardt Verlag Erfahrungsbericht zum Umgang mit Corona-Auswirkungen Therapie, Supervision und Hochschullehre Andrea Goll-Kopka und Marianne Eberhard-Kaechele In diesem Beitrag wird eine Momentaufnahme im November 2020 der Herausforderungen für Beteiligte der Psychotherapie, Körperpsychotherapie, Tanz- und Bewegungstherapie und ihrer Bewältigung während der Corona- Pandemie vorgestellt und zum kollegialen Austausch aufgerufen. Dabei werden die Kontexte Beratung, Therapie, Supervision und Hochschullehre berücksichtigt. Die Bedeutung der Erfahrungen für die Konzeption von Tanz- und Bewegungstherapie und Körperpsychotherapie wird reflektiert. Schlüsselbegriffe Corona-Pandemie, Psychotherapie, Körperpsychotherapie, Tanz- und Bewegungstherapie, Social Distancing, Bewältigung Experiential Report on Dealing with the Effects of the Coronavirus. Therapy, Supervision and University Education In this article, we present a snapshot in time in November 2020 of challenges for those involved in psychotherapy, body psychotherapy, dance / movement therapy, coping solutions during the Corona pandemic and a call for collegial exchange. In so doing, the contexts of counselling, therapy, supervision, and university education are considered. The meaning of these experiences for the conceptualization of dance / movement therapy and body psychotherapy will be briefly reflected upon. Key words corona / covid-19 pandemic, body psychotherapy, dance / movement therapy, movement therapy, social distancing, coping D ieser Erfahrungsbericht wurde im November 2020 verfasst, und sollte der Auftakt zu einem konstruktiven inhaltlichen Austausch mit den LeserInnen über Herausforderungen und Ansätze der Bewältigung im Umgang mit den Auswirkungen der Corona- Pandemie werden. Als wir im Januar 2021 die Reviewer-Kommentare einarbeiteten, war die Situation bereits anders: noch höhere Inzidenzzahlen, festere Lockdowns, neue ansteckendere Mutationen und der Beginn der Impfungen mit ihren jeweiligen Folgen. Dieser sich ständig verändernde Prozess über die Kenntnisse zum Virus, der wechselnden Gefahrenlage und der darauf bezogenen Maßnahmen verlangte immer wieder neu und aktuell, uns dynamisch auf die äußeren Gegebenheiten einzustellen und zu reagieren. Dieses dynamische Geschehen, zusätzlich zu unseren professionellen Anforderungen durch die Entwicklungen unserer PatientInnen oder gar der Dynamiken im Hochschulgeschehen, forderte uns sehr heraus. Erfahrungsbericht zum Umgang mit Corona-Auswirkungen 83 2 | 2021 Wir sehen uns nicht als Vorreiterinnen der Auseinandersetzung mit den Corona-Folgen und Bedingungen, die andere neue Wege im Umgang damit aufzeigen können. Lediglich MEK hatte durch ihre Kontakte zu Wuhan in Januar etwas früher als die meisten KollegInnen mit Online-Hilfsangeboten für Betroffene in China begonnen. Spätestens im März 2020 waren alle in Deutschland betroffen und mussten einen kreativen Umgang mit der Pandemie in ihrem Wirkbereich finden. Das, was wir im Frühjahr 2020 als innovativ empfanden, ist heute für viele Standard geworden. Wenn diese Zeilen die Leserinnen und Leser erreichen, liegt die akute Gefahr von dem Virus eventuell sogar schon hinter uns und stattdessen stehen die Spätfolgen von u. a. Isolation, häuslicher Gewalt, Arbeitslosigkeit oder strukturellem Wandel im Vordergrund. Wozu dann eine Momentaufnahme zu den Herausforderungen des Coronavirus? Zum einen kann es als Zeitdokument dienen, das zum kollegialen Austausch animiert. Zum anderen sehen wir in den Bewältigungsmöglichkeiten, die wir gefunden haben, einen ermutigenden Beleg für die Resilienz und Kreativität der Tanztherapie und anderer Kreativ- und Körpertherapien in einer Zeit, in der wesentliche Bestandteile ihrer Wirkkraft beeinträchtigt waren. Hierunter fielen u. a. Verbote oder Einschränkungen der räumlichen Bewegungsfreiheit, der Fortbewegung, dem Bilden von Gruppenformationen, der Berührung oder die Übertragung von Gewicht, Zug- und Schubkraft sowie direkter Kontakt für Halt oder Grenzen oder das symbolische und funktionale Arbeiten mit Medien und viele weitere grundlegende Interventionsmöglichkeiten. Wir möchten einen weiterführenden Austausch mit den LeserInnen zu den Herausforderungen, die sich durch die Corona-Maßnahmen für unsere Arbeit ergeben, zu den ressourcenorientierten Möglichkeiten des Umgangs, die es zu finden gilt, und dem daraus resultierenden Selbstverständnis unserer Verfahren. Nun zeigen wir streiflichtartig mit unterschiedlichen Akzentuierungen auf, mit welchen Herausforderungen unsere PatientInnen, SupervisandInnen, Studierenden und wir selbst in unseren beruflichen Feldern der Therapie, Beratung, Supervision und Hochschullehre durch die Corona-Maßnahmen konfrontiert waren. Mit großem Respekt und Hochachtung vor der engagierten Bereitschaft der Menschen, die wir begleiten, möchten wir einen Einblick in die Wege der Bewältigung geben, die wir gemeinsam mit ihnen entwickelt haben. Auswirkungen der Pandemie in Therapie, Supervision und Hochschule Die Corona-Pandemie betrifft uns alle, aber nicht jede und jeden von uns im gleichen Ausmaß in den physischen, psychischen, sozialen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder ökologischen Auswirkungen. Die Gebote der physischen Distanzierung, auch Social Distancing genannt, die eine Ausgangsbeschränkung bis hin zu Kontaktverboten beinhalten, konfrontieren uns mit einer zunehmenden Verengung des öffentlichen, sozialen und persönlichen Raumes. Die Begrüßung per Handschlag oder gar freundschaftliche Umarmung, von flüchtigen Küssen begleitet, ist im Herbst 2020 fast vollkommen aus unserem Repertoire verschwunden, wird zum gesellschaftlichen No-Go, dessen Beobachtung im November 2020 Befremden auslöst (Clemens/ Stegbauer 2020; IPU 2020). Auch Szenen mit Menschen in engen Interaktionen in Filmen und Fernsehsendungen, aufgezeichnet vor der Pandemie, wirken irritierend und/ oder lösen Sehnsucht aus. Eine Pandemie dieses Ausmaßes führt zu einer allgemeinen Verunsicherung und Angst auf verschiedenen Ebenen, z. B. von der konkreten Angst vor Ansteckung über Existenzängste bis hin zu diffusen Sorgen und Angstwellen, die in einen regelrechten Teufelskreis führen können, da diese Ängste und Sorgen 84 Goll-Kopka, Eberhard-Kaechele 2 | 2021 nicht zu fassen sind und somit Ohnmachtsgefühle und Kontrollverlust verursachen können. Grundsätzlich verweist die Forschungslage auf die Selbstheilungskräfte und das psychische Potenzial von Menschen, psychische Gefährdungen zu durchleben. Aber diese werden überfordert, je länger Krisen dauern, so dass psychische Risikolagen und Erkrankungen entstehen können (BPtK 2020). Die negativen Folgen von Isolations- und Quarantänemaßnahmen sind in Studien belegt, inzwischen spricht die Forschungslage von einer gesellschaftlichen Krise, die Spuren in der Psyche hinterlässt (Bühring 2020; BPtK 2020; DAK 2020; Heinz 2020; McMullen 2020; Ravens-Sieberer et al. 2020). Es besteht Forschungsbedarf, vor allem auch dazu, wie sich die soziale Ungleichheit unter Pandemiebedingungen weiter verschärft. Ein fortlaufender kritischer Diskurs zu den psychosozialen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der Corona- Schutzmaßnahmen ist grundlegend notwendig sowie eine vermehrte Aufmerksamkeit auf Bewältigungsmöglichkeiten (Clemens/ Stegbauer 2020; Heinz 2020; Von der Lippe et al. 2020). Wir möchten uns hier auf unsere Kontexte und die psychosozialen Auswirkungen unserer Gruppen beschränken, die wir professionell begleiten und die die Schwerpunkte unserer Arbeitsfelder bilden. Bei AGK sind dies PatientInnen mit emotionalen Traumatisierungen und PatientInnen mit körperlichen (lebensbedrohlichen) chronischen Erkrankungen und Einschränkungen sowie Supervisanden und Hochschulstudierende der Psychosozialen Beratung und Sozialen Arbeit. Bei MEK sind es komplex traumatisierte Patientinnen, die jahrelange Gewalt auf mehreren Ebenen-- physisch, emotional, strukturell oder sexuell-- durchgestanden haben, sowie Supervisanden und Hochschulstudierende der Bewegungstherapie, Rehabilitation und Prävention durch Bewegung. Kontext Therapie Was waren die Vorbedingungen der PatientInnengruppen vor der Pandemie? Menschen mit körperlichen chronischen Erkrankungen sind im Behandlungs-, Reha-, Pflege- und Alltagsmanagement auf soziale Unterstützungsnetzwerke wie Partner, Familienangehörige, Freunde und gute Bekannte angewiesen, sie sind buchstäblich (über-)lebensnotwendig. Diese begleiten den Weg dieser PatientInnen häufig über viele Jahre. Sie sind für diese in vielerlei Hinsicht unentbehrlich in einer schweren akuten Phase oder bei chronischen körperlichen Erkrankung. Ohne diese Netzwerke würden die PatientInnen die Informationsflut, das Gefühl des Alleingelassen-Werdens im immer spezialisierteren und personalreduzierteren Medizinsystem oder die erheblichen finanziellen Lasten durch ihre Erkrankungen kaum durchstehen können (Goll-Kopka 2019a). In emotionalen Ausnahmezuständen übernehmen diese die Funktion von „Anwälten“ oder Begleitern der PatientInnen und stehen an ihrer Seite-- durch Höhen und Tiefen (Goll-Kopka 2019b; Von der Lippe et al. 2020). Bei komplex traumatisierten Personen liegen die Belastungen etwas anders. Für diese Gruppe ist die Fragilität ihrer sozialen Bindungen und die wiederholte Erfahrung, verraten, verlassen und isoliert zu sein, charakteristisch (Wöller 2013). Hinzu kommt ein überreagibles Nervensystem, das Reize aus Extero- oder Interozeption als lebensbedrohlich interpretiert, meist ungeachtet des objektiven Gefahrenpotenzials (Van der Kolk 2015). Manche PatientInnen haben Übergriffe durch maskierte Menschen erlebt oder wurden eingesperrt oder gefangen gehalten, nicht nur an entlegenen Orten, sondern auch im eigenen Zuhause. Einige PatientInnen haben negative Erfahrungen mit medizinischem Personal nach Gewalterfahrungen gemacht, wie eine Patientin, die verachtende Vorwürfe erfahren hatte und nach ihrer Covid-Erkrankung in ihrer Hausarztpraxis Ähnliches empfand. Erfahrungsbericht zum Umgang mit Corona-Auswirkungen 85 2 | 2021 Die Kombination aus mehreren problematischen Faktoren- - Zugehörigkeit zu Corona- Risikogruppen, Wegfallen von Netzwerken als zentrale Bewältigungsressourcen, Aktualisierung früher emotionaler Traumatisierungen- - führte in der Zeit der Kontaktsperre und des Lockdowns für einen Teil beider PatientInnengruppen zu einer fatalen Kumulation von schwierigen Effekten. Sie kamen in Berührung mit schwierigen, unbearbeiteten Themen oder biographisch belasteten Erinnerungen an Phasen ihrer Kindheit, in denen z. B. Stille herrschte und zum Sinneseindruck des „Alleingelassen-Seins“ wurde, wo Berührung fehlte oder massive Überforderung geschah. Frühere emotionale Ausnahmezustände oder Bindungserfahrungen, etwa wenn PatientInnen sich als Kind stark isoliert erlebten oder anderen emotionalen Vernachlässigungen ausgesetzt waren, wurden wieder lebendig. Szenen des Eingesperrt-Seins oder Qualen durch maskierte Menschen wurden reaktiviert. Für manche PatientInnen war die Auseinandersetzung mit den ständig wechselnden Geboten und Verboten eine Reinszenierung von Elternbeziehungen, in der sie mit Willkür, Einschränkung und Strafen traktiert wurden. Sie hatten ständig Angst, etwas falsch zu machen, während ihr heutiges Umfeld sie als schwach und ängstlich belächelte und somit wieder als falsch bewertete. Sie empfanden die Bedrohung und den Zwang zur (Selbst-) Isolation existenziell. Eine Patientin, die im ersten Lockdown über Wochen durch ihre entstandenen Ansteckungsängste nicht mehr das Haus verlassen konnte, sagte mir (AGK) in einer unserer Videosprechstunden: „Bei meiner Krebserkrankung hatte ich eine intensive Unterstützung durch Familie und Freunde. Krebs ist nicht ansteckend, und es gibt klare medizinische Behandlungsvorgaben. Jetzt kann ich keinen mehr direkt außerhalb meines Haushaltes sehen, bei Corona kennt man noch keine Behandlungsmöglichkeiten, und ich traue mich nicht mal mehr vor die Tür zu einem notwendigen Arztbesuch.“ Die bisherigen Unterstützungsnetze von chronisch kranken Menschen waren nicht mehr erreichbar, die regelmäßigen Besuche beispielsweise in der unterstützenden Familie oder die regelmäßigen Treffen mit Freunden in Cafés oder Sportvereinen-- alles war mit einem Mal weg. Die abgeschnittenen Netzwerke zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen führten somit oft auch zu Therapierückschritten oder -stagnationen oder zu einem blockierten Weg „zurück ins Leben“ nach frisch überstandener medizinischer Behandlung, die es aufzufangen und zu bearbeiten galt. Für einige PatientInnen gab es auch positive Aspekte im Zusammenhang mit den Kontaktbeschränkungen. Manche PatientInnen, die unter emotionalen Traumatisierungen litten und schon vor Corona einsam und isoliert lebten, empfanden eine neue Würdigung ihres Leidens, als viel über die Folgen der Einsamkeit und Gegenmaßnahmen in den Medien berichtet wurde. Sie fühlten sich als Teil einer Gemeinschaft statt wie Außenseiter und waren temporär entlastet vom Gedanken, selbst an ihrer Isolation schuld zu sein. Nachbarschaftsinitiativen führten in einigen Fällen dazu, dass KlientInnen zum ersten Mal von ihren Nachbarn wahrgenommen und mit Unterstützung bedacht wurden. Einzelne KlientInnen, die unter unerbittlichen Leistungsansprüchen litten, waren unerwartet durch den Lockdown zur Ruhe gekommen. Weil die ganze Welt quasi stillstand, war es auch für sie in Ordnung, Ruhe zu genießen. Obwohl es nach der Öffnung schnell zum alten Muster kam, gab es ihnen die Hoffnung, irgendwann auch ohne äußere Notwendigkeit zur Ruhe kommen zu können, weil sie es tatsächlich einmal bei sich erlebt hatten. Dies kann laut Pârvan (2017) zur Modifikation von Selbstrepräsentanzen führen. Diese Erfahrungen, die sich im Frühjahr 2020 durch den Beginn der Pandemie und die strengen Anforderungen der sozialen Distanzierung zeigten, begleiten uns jetzt in anderen Formen wieder mit dem Ansteigen der Fallzah- 86 Goll-Kopka, Eberhard-Kaechele 2 | 2021 len im Herbst und Winter 2020 und den erlassenen Einschränkungen. Bei den PatientenInnen sehen wir eine Zunahme von depressiven und ängstlichen Symptomen oder die psychosozialen Folgen manifester Corona-Erkrankungen. Letztere bewirken eine noch stärkere Zuspitzung der zuvor benannten Triggerung von Traumata durch die Quarantäne, das Erleben von Kontrollverlust, das Gefühl, sich trotz engagierter Maßnahmen nicht schützen zu können, oder das Empfinden, den Körper wieder als Feind zu erleben, zu dem gerade ein wachsendes Vertrauen aufgebaut wurde. Kontext Supervision Im Bereich der Supervision war unabhängig von der gestiegenen psychischen Belastung der PatientInnen die praktische Verwirklichung der Körper-, Tanz- und Bewegungstherapie in der stationären Versorgung eine gewaltige Herausforderung. Maskenpflicht behinderte die Emotionserkennung, die konditionelle Belastbarkeit und die verbale Verständigung. Räumlichkeiten, die vielleicht schon vorher wenig Platz für Bewegung boten, ließen unter dem Gebot des Mindestabstandes nur noch eine eingeschränkte Auswahl an Bewegungen und keine Fortbewegung zu. Der Umgang mit Medien, der wesentlich für die Förderung sozialer Interaktion und die Gestaltung von ressourcensowie konfliktorientierten Interventionen ist, wurde aus Angst vor Schmierinfektionen eingeschränkt oder untersagt. Einige KollegInnen waren in einer Identitätskrise, verzweifelten daran, etwas, das dem eigenen Bild von Tanz- und Bewegungstherapie / Körperpsychotherapie (TBT / KPT) nahekam, noch durchführen zu können. Sie fragten sich, ob das, was von Ihrem Verfahren übrig blieb, noch wirksam den PatientInnen helfen könnte. Kontext Hochschule An den Hochschulen fanden praktischer Unterricht, Hospitationen, Exkursionen, Lehrproben und Lehrübungen nur sehr eingeschränkt statt oder waren allesamt ausgesetzt. Die Studierenden fanden keinen Praktikumsplatz, und wenn, waren die Bedingungen für Interventionen völlig anders als das, was sie bis dahin gelernt hatten. Als Dozierende waren wir damit konfrontiert, Körpererfahrung, insbesondere körperliche Interaktion, individuell und virtuell zu vermitteln. Bis auf wenige Ausnahmen soll dieser Zustand bis Juli 2021 fortbestehen. Studierende, insbesondere diejenigen, die ein Studium unter Online-Bedingungen beginnen, stehen vor psychosozialen Herausforderungen, wie in einer fremden Stadt auf sich selbst zurückgeworfen zu sein oder aus finanziellen Gründen ins Elternhaus zurückkehren zu müssen (IPU Berlin 2020; McMullen 2020). Ressourcenorientierte kreative Lösungswege Trotz der aus psychologischer Sicht erheblichen Netzwerk-Brüche waren wir positiv beeindruckt von der Offenheit und Bereitschaft unserer PatientenInnen, SupervisandInnen und Studierenden, sich-- notgedrungen-- auf neue Formen der Vernetzung wie Videosprechstunden, Online-Lehre, die ganze Breite von Online-Medien sowie therapeutische Treffen in der Natur oder im Therapieraum mit weitem Sicherheitsabstand einzulassen. Im Folgenden zeigen wir einige Möglichkeiten in unseren Arbeitsfeldern auf, die wir gefunden haben, um mit den beschriebenen neuen Herausforderungen umzugehen. Vielleicht finden sich LeserInnen darin wieder. Wir sehen dies als Auftakt zu einer professionellen Sammlung und sind gespannt auf die Anregungen und Wege der Kolleginnen und Kollegen. Lehre an der Hochschule Mit meinen Studierenden (AGK) habe ich mir vor allen Online-Lehrseminaren seit März 2020 die Zeit genommen, jeden einzelnen Studierenden in seinem individuellen persönlichen Erfahrungsbericht zum Umgang mit Corona-Auswirkungen 87 2 | 2021 Raum zu begrüßen mit der Bitte, die jeweilige Kamera einzuschalten, und mit einer Nachfrage zur aktuellen Stimmungslage des jeweiligen Studierenden. Auch bei inhaltlichen Gruppenaufgaben habe ich bewusst mehr Zeit für Kleingruppen eingeräumt mit dem Hinweis, diese zusätzlichen Zeiteinheiten bei Interesse für einen persönlichen Austausch als „kleinen“ Ersatz für die Begegnungen am Kaffeeautomaten und in den Pausen zu nutzen. Bei Evaluationen und Rückmeldungen zu den Seminaren wurde diese Möglichkeit zur informellen Online-Begegnung jeweils als sehr positiv und unterstützend bewertet, um die Herausforderungen eines Online-Studiums in einer fremden Stadt oder zurück im Elternhaus besser bestehen zu können. Manche Studierenden formulierten sogar, dass die Seminareinheiten mit individueller Begrüßung und einem Eingehen auf persönliche Stimmungslagen zu Beginn des Unterrichts für sie zu Highlights in manch einsamer Situation wurden, auf die sie mit Vorfreude blickten. Forschungen zu neuroemotionalen Prozessen bei interpersonaler Kommunikation zeigen, dass ein Stimmungscheck vor dem Beginn einer inhaltlichen Videokonferenz Oxytocin freisetzt und Angst reduziert (McCluskey 2020; Zak 2017). MEK hat den Mangel an Demonstrationspartnern während den Online-Lehrveranstaltungen zunächst durch einen großen Teddybären, später durch vorab gedrehte Videos mit maskierten menschlichen Partnern gelöst. Zuvor hatte sie sich nicht die Arbeit mit Lehrvideos gemacht. Aus der Notwendigkeit heraus entstanden dann aber allmählich Dokumente der flüchtigen Bewegungsphänomene und -methoden, die oft nicht adäquat durch schriftliche Unterlagen vermittelbar sind. Diese ermöglichen den Studierenden, asynchron und ortsunabhängig zu lernen und jederzeit einen Lerninhalt nachzuschauen. In Selbsterfahrungseinheiten vor dem Bildschirm zeigte sich wie in den Therapien, dass Qualitäten wie Gruppendynamik, kinästhetische Empathie und Affektabstimmung, Grenzsetzung und nonverbale persönliche Mitteilung durch visuelle und akustische Eindrücke über den Bildschirm erlebt werden konnten, wenngleich in abgeschwächter Form. Den oben beschriebenen Hürden und Engpässen für Praktika unserer Studierenden begegneten wir mit auf den jeweiligen Leitungsebenen abgestimmten Lösungswegen, z. B. das Schaffen neuer Praktika in wissenschaftsorientierten oder auch in eigenen Projekten. So konnten zum Beispiel zwei Studierende der Sozialen Arbeit ein extra neu geschaffenes Online-Beratungspraktikum in einem Peer-to- Peer-Projekt für studentisches Gesundheitsmanagement absolvieren (SRH Hochschule Heidelberg 2019, 2020). Supervision Manchen Supervisanden wurde die Möglichkeit gewährt, eigene, fachgerechte Corona- Schutzmaßnahmen zu gestalten. In mindestens drei Fällen, die ich (MEK) supervidierte, zeigten sich jedoch Effekte des Power-Distance-Index (Hofstede 2010). Der Index misst u. a. den Grad, zu den Personen in einer Gruppe (Kultur, Familie, Unternehmen) hierarchisch strukturiert sind und akzeptieren und erwarten, dass Macht ungleichmäßig verteilt wird. Steile Hierarchien werden in Hochrisiko- Situationen steiler, obwohl dies zu mehr Fehlern führt als bei flacheren Hierarchien, wo jeder Beteiligte Verantwortung tragen und zum Gesamtergebnis beitragen kann. In den Kliniken mit hohem Power-Distance-Index kam es ohne Rücksprache mit den Körper- und Tanztherapeutinnen zu radikalen Verboten von Vorgehensweisen oder Medien. Die Parallele zum Zero-Risk-Bias-Erklärungsansatz für Toilettenpapier-Hamsterkäufe in der Corona-Krise (FR 2020) drängte sich mir auf. Der Erklärungsansatz beschreibt die Tendenz zur vollständigen Elimination eines kostengünstigen Teilaspektes eines Risikos, obwohl eine teurere Option mehr Gesamtschutz bieten würde (Crosby 2016). 88 Goll-Kopka, Eberhard-Kaechele 2 | 2021 Bzgl. Toilettenpapier ist es kostengünstiger, die Gefahr eines Mangels komplett zu bannen, als sinnvollere Artikel wie Lebensmittel zu kaufen, die teurer im Kauf und verderblich sind, was weitere Kosten verursacht. Methoden oder Arbeitsmaterial einer als rangniedriger wahrgenommenen Berufsgruppe in der Klinik komplett zu verbieten, war für die Leitung wie Toilettenpapier kaufen: eine Illusion von Kontrolle und Schutz, die die Entscheidungsträger wenig belastet. Inhalt der Supervision wurde daher die Ermutigung der Kolleginnen dazu, eine geteilte Verantwortung wieder herzustellen, indem sie eigene Lösungsvorschläge erarbeiteten und ihre Position im interprofessionellen Team vertraten. Die Supervisanden setzten sich mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz zum Verhalten des Virus im Raum und auf Oberflächen auseinander und reflektierten die Wirkfaktoren und Wirkweisen ihrer Arbeit. Was ist essentiell, worauf kann im Notfall verzichtet werden, was können wir verantworten? Es wäre lohnenswert, diese Erkenntnisse systematisch zu sammeln. Therapie Obwohl Therapie in Präsenz nie verboten war, gab es Gründe, weshalb PatientInnen nicht persönlich zu Terminen erscheinen konnten oder wollten. Diese umfassten Quarantäne wegen eigenen Covid-19-Symptomen, Risiko-Begegnungen oder Urlaubreisen, Angst vor Ansteckung (beim Verlassen des Hauses, im ÖPNV, auf dem Weg oder im Kontakt in der Praxis) und Fälle, wo PatientInnen Landesgrenzen überwinden mussten, um zur Therapie zu kommen, und dafür erst ein Attest organisieren mussten. Für unsere PatientInnen galt es, belastende isolierende und zuweilen sehr einsame Lebenssituationen auszuhalten. Für uns als Therapeutinnen bedeutet(e) dies, einen kontinuierlichen, sehr verlässlichen und zu erreichenden Kontakt- und Schutzraum (inkl. kreativer Lösungen im Park und in freier Natur) zu gestalten-- mit Online-Medien, Video durch zertifizierte, datensichere Anbieter, Mails oder Short Message Services nach Klärung des Datenschutzes und mündlicher oder schriftlicher Einverständniserklärung der PatientInnen. Hilfsweise musste ein persönlicher Verlust an Treffen mit u. a. Freunden oder Familienangehörigen kompensiert werden. Andererseits musste eine behutsame Konfrontation mit Grenzen, Frustration und Trauer geleistet werden, z. B. im Fall einer Patientin, die wünschte, dass die Therapeutin (MEK) (vor der Entwicklung der Schnelltests) vor jeder ihrer Sitzungen in ein Testzentrum fährt, um sich testen zu lassen, damit Körperkontakt in der Sitzung möglich wäre. Über das elektronische Teilen von Fotos, Videos, Briefen, Gedichten oder auch gemalten Bildern mit uns als Therapeutinnen wurde eine Stützung der verletzten und isolierten Seele versucht, die zwar die persönliche Begegnung nicht vollkommen ersetzen, aber eine Dekompensation abwenden und einige neue Aspekte zu Tage bringen konnte. Um den Unmittelbarkeitsverlust durch Online-Medien zu kompensieren, galt es, sich explizit und bewusst dem Körper und den inneren und äußeren Ausdrucksmöglichkeiten zuzuwenden und diese zu fördern. Wie können wir gelingend leibliche Wahrnehmungen, körperlichen Ausdruck und Bewegung in der Videoumgebung miteinbeziehen? Es beginnt damit, gemeinsam eine Position vor dem Bildschirm zu finden, in der beide gut sichtbar sind, möglichst auch mit dem gesamten Körper, soweit möglich. Auch ist es wichtig, sich den Unsicherheiten, die durch Videobilder entstehen können, zu widmen. Für manche ist es eine Herausforderung, sich selbst zu sehen oder sich im persönlichen Raum zu zeigen. So ertrug es eine sexuell traumatisierte, magersüchtige Patientin zum Beispiel zu Beginn der Videositzungen nicht, sich selbst zu sehen, und wir suchten mehrere Möglichkeiten, dies zu umgehen. Doch im Laufe der Zeit fand eine Desensibilisierung statt, und die Klientin be- Erfahrungsbericht zum Umgang mit Corona-Auswirkungen 89 2 | 2021 gann, sich bewusst mit ihrem Gesicht zu befassen. Dies hatte also den gleichen Effekt wie bei einer Exposition. Später konnte dieser Prozess in den Präsenzstunden in Übungen zur Selbstannahme und Selbstfürsorge weitergeführt werden. Ein weiteres positives Beispiel: Eine Patientin, die stets Probleme gehabt hatte, den Alltagstransfer von Entspannungsübungen in ihre häusliche Umgebung umzusetzen, hatte die Idee, diese Übungen unter meiner (MEK) Anleitung an diversen Orten und mit unterschiedlichen Möbeln wie Bett, Stuhl, Couch in ihrer Wohnung zu üben. Es kam zu einem Durchbruch, als die Entspannung plötzlich in ihre eigene Umgebung gehörte, nicht nur in den Therapieraum. Während der Videosprechstunde sind wir als Therapeutinnen aufgefordert, auf körperliche Gegenübertragungsgefühle noch deutlicher zu achten und diese in den Prozess miteinzubeziehen. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie wir die zusätzlichen Informationen, die durch Videosprechstunden auch entstehen, gut nutzen können, um eine sinnliche und allumfassende Wahrnehmung zu fördern. Einige Beispiele hierfür sind die Einbeziehung von Haustieren, die zufällig in das Bild hineinlaufen und Interaktionsmuster sichtbar machen, oder die Therapie mit Müttern, die durch Homeschooling und Lockdown mit ihren Kindern zu Hause kaum freie Zeit- und Raumvalenzen für ihre Therapiestunden haben. Hier sind gemeinsame familiäre therapeutische Spiel- und Bewegungseinheiten im systemischen Sinne möglich. In Präsenzsitzungen mit Abstand wurden die Möglichkeiten entdeckt, sich trotz erheblichem Abstand verbunden zu fühlen, wie Kontakt über Stäbe, Seile und Wollfäden oder das Nutzen eines 4 Meter langen Tuches, um ein Gehaltenwerden zu ermöglichen. Der Augenkontakt und Spiegeln als Möglichkeiten, Verbindung herzustellen oder zu verweigern, wurden akuter bewusst und erforscht als vor Corona. Gemeinsam in einem Video mit dem Gegenüber zu tanzen, zu singen oder auch Yoga zu machen, kann einen Effekt erzeugen wie physische tatsächliche Berührung (Anwar 2020; McClusky 2020). „Tanzen gemeinsam, auch durch ein Video verbunden, hat vieles gemeinsam mit Berührung-- ich bin in Verbindung mit dir, wir bewegen uns auf die gleiche Art und Weise.“ (Anwar 2020) Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass die direkte Möglichkeit einzugreifen, wenn PatientInnen sich gefährden oder dekompensieren, nur über die Stimme möglich ist. Eine Patientin, die sich durch Kritik ihrer Schwiegereltern massiv angegriffen fühlte, lud ich (MEK) ein, einen Gegenstand zu suchen, der für diese Kritik stehen könnte. Die Patientin holte zwei große Küchenmesser und wollte damit ihr Erleben tanzen. Zunächst würdigte ich das Gewaltpotenzial der Messer als Abbild der gewaltvoll erlebten Kritik. Doch für den impulsiven Bewegungsstil der Patientin waren diese Requisiten zu gefährlich. Nach etwas Verhandlung tauschte die Patientin die großen Messer gegen zwei kleine Messer aus. Mit diesen konnte sie sich bewegen, ohne sich zu verletzen, und stellte abschließend fest, dass sie ihr Kritikempfinden reduziert hatte, so wie sie die großen Messer für kleinere aktiv ausgetauscht hatte. Obwohl diese Situation glimpflich endete, machte es mir bewusst, dass ich per Video weniger Kontrolle hatte und daher mehr als sonst Vertrauen in die Patientin haben musste, dass sie für ihre eigene Sicherheit sorgt. Ähnlich herausfordernd für die Therapeutin waren Fälle, wo PatientInnen für längere Zeit nicht im Bild zu sehen waren. Diese Möglichkeit des Zeigens und Versteckens, des Sich- Einbringen- und Sich-Entziehen-Könnens wurden durch die bewusste Gestaltung dessen aus dem impliziten in den expliziten Therapieprozess integriert und handhabbar. Abschließend gebe ich (AGK) ein etwas ausführlicheres Beispiel von der Arbeit mit Bäumen in der Natur, die zu neuen Kraftquellen 90 Goll-Kopka, Eberhard-Kaechele 2 | 2021 führte. Zu Beginn des Lockdowns im März 2020 einigte ich mich mit einer Patientin, die allein lebt und unter erheblichen, seit über einem Jahr bestehenden mittelschweren depressiven Phasen und sozialem Rückzug leidet, auf regelmäßige therapeutische Einheiten in einem nahegelegenen schönen städtischen Park. Dadurch kam die Patientin an die frische Luft und in die Natur und konnte durch die regelmäßigen Bewegungseinheiten ihre sehr niedrige körperliche Kondition aufbauen. Allein hatte sie dies nicht mehr geschafft. Zum anderen konnte sie im Gehen und Bewegen ihre reflektierten Erfahrungen, Gefühle, Themen und inneren Impulse besser zum Ausdruck bringen als im „künstlichen“ Therapieraum. Sie erlebte den Park im Laufe unserer therapeutischen Zusammenarbeit in der Natur immer mehr als Oase der Kraft und Ruhe. Wir nutzten dazu angeleitete Imaginationen, die die Bäume im Park miteinbezogen, und die direkte und sinnliche Berührung und Arbeit mit einzelnen Bäumen. Miyazaki (2020) von der Chiba Universität in Japan hat bei seinen Untersuchungen zum Eintauchen in die Natur herausgefunden, dass die Berührung von Bäumen den Geist beruhigt, den Stresshormonspiegel reduziert, den Blutdruck in Balance bringt und das Immunsystem stärkt. Diese Effekte können sich auch durch die Betrachtung von Wald- und Baumbildern und die Arbeit mit Bäumen ergeben. Zur Verankerung dieser sie aufbauenden und positiv erlebten Einheiten schlug ich ihr ein zusätzliches Fotoprojekt vor, in dem sie unsere wöchentlichen Sitzungen im Park mit ihrem Smartphone durch für sie eindrückliche Perspektiven dokumentierte. Sie war sofort sehr angetan von dieser Idee und setzte diese sehr kreativ um. So entstand ein großes Archiv von eindrücklichen Parkausschnitten über die Jahreszeiten von Frühjahr, Sommer bis zum Herbst und Aufnahmen von einzelnen Bäumen, die es ihr besonders angetan hatten. Diese Fotos sendete sie zwischen unseren Sitzungen auch zur Aufrechterhaltung unseres Kontaktes. Im Sommer reichten wir vier Fotos bei der Süddeutschen Zeitung (SZ) für deren Leserprojekt Corona-Tagebuch ein. Eines der Fotos wurde in die umfangreiche Sammlung des Corona-Tagebuches der SZ aufgenommen (Süddeutsche Zeitung 2020). Als nächsten Schritt schlug ich ihr vor, eine Auswahl ihrer Fotos auszudrucken und daraus neue Collagen zu machen, um diese wiederum als Ausgangspunkt für kleine thematische Bewegungs- und Tanzeinheiten zu nehmen. Hiermit möchten wir unsere praxisbasierten Ausführungen abschließen, um zu allgemeineren Reflexionen und persönlichen Herausforderungen zu kommen. Professionelle Themen und persönliche Herausforderungen Im Diskurs um die Digitalisierung in der Bildung und Therapie liegen Technikeuphorie und Kulturpessimismus in unserer Wahrnehmung eng beisammen. Hier sollte man sich bewusst sein, dass es immense zusätzliche finanzielle und zeitliche Ressourcen und Anstrengungen braucht, um über das derzeitige digitale Notprogramm hinaus gute und gelingende digitale Lehre und Therapie zu verwirklichen. Trotz dieses kritisch zu führendem und notwendigem Diskurs sehen wir auch, was der Anschub der Digitalisierung durch die Pandemie ermöglicht hat: Wir können uns in einem nie zuvor gekannten Maße Menschen nahe fühlen und uns mit ihnen austauschen, ganz gleich, wo sie sich gerade auf dem Erdball befinden. Die internationale tanztherapeutische Gemeinschaft konnte sich beispielsweise in einem Multimedia-Prozess von der kürzlich verstorbenen großartigen australischen Tanztherapeutin, Forscherin und Dozentin Kim Dunphy verabschieden- - mit Musik, Tanzvideos und Gesprächen in Groß- und Kleingruppen. Es war eine unfassbar intensive Erfahrung der Verbundenheit und gegenseitiger Inspiration. Solche Erfahrungsbericht zum Umgang mit Corona-Auswirkungen 91 2 | 2021 Begegnungen über Landesgrenzen hinweg, die für jedermann erschwinglich sind, können großes Potenzial für die Völkerverständigung und die beschleunigte Entwicklung von allen möglichen Disziplinen innehaben. Dieses Potenzial sollten wir ausschöpfen. Die notwendige soziale Distanz gibt uns die einmalige Gelegenheit zu erkennen, was genau geschieht, wenn die dreidimensionale, mit allen Sinnen erlebbare Begegnung fehlt, und im Umkehrschluss fundierter zu beschreiben, was die Arbeit mit Körper, Nähe, Interaktion auf einem sinnlichen Niveau für heilendes Potenzial besitzt. Mehr Studien in diese inhaltliche Richtung zu unternehmen und zu rezipieren, halten wir für unerlässlich für die Weiterführung und Legimitation unseres Feldes. Yalom (2013, 2015) prägte den Begriff des „fellow-travellers“ in seiner existenziellen Psychotherapie: Wir TherapeutInnen sind mit unseren Ängsten, Wünschen, Sinnsuchen etc. in der gleichen existenziellen Lage („existential soup“) wie unsere PatientInnen und sollten uns immer bewusst vor Augen führen, wie dies die therapeutische Beziehung beeinflusst. In der zurückliegenden Zeit haben wir uns so erlebt, dass wir (Mit-)Reisende sind, die sich zunächst selbst orientieren und zurechtfinden müssen mit den u. a. auch für uns neuen Sicherheitsmaßnahmen des Social Distancing. Daraus resultiert unter anderem die Frage, wie wir mit Selbstoffenlegung in diesen herausfordernden Zeiten umgehen. Wir nehmen im Januar 2021 bei uns zuweilen eine professionelle und persönliche Ermüdung wahr, z. B. in Bezug auf die Medienberichterstattung mit ihren Katastrophenszenarien und eskalierender Sprache und der alltägliche Druck, kreative Einfälle zu generieren, um auf ständige Veränderungen zu reagieren. Wir erleben auch angespanntere Situationen in der Therapie und an der Hochschule durch die anhaltende Pandemie und z. B. dem immer noch gebotenen Online-Unterricht. Wir werden als Therapeutinnen angefragt, während wir selbst uns noch in Suchbewegungen des Zurechtfindens in neuen Situationen befinden, und gleichzeitig möchten wir Halt vermitteln in unsicheren Zeiten. Auch in unseren Rollen als Lehrende fühlen wir uns nicht nur für die bloße Inhaltsvermittlung verantwortlich, sondern wollen auch einen Freiraum schaffen für die persönlichen Themen unserer Studierenden in herausfordernden Zeiten. Weitere Fragen und Themen, die wir uns seit März 2020 stellen, sind: Wie wirkt sich die Auflösung des therapeutischen Settings durch die Bewegungseinheiten in der Natur aus? Was bedeutet das „Eindringen“ in die häusliche Umgebung des Patienten oder von Studierenden bei Videositzungen, in den ihnen eventuell die nötige Privatsphäre fehlt? Wie lassen sich die Wechsel zwischen Online- und Präsenzsettings gelingend in die Lehre und in die Therapie integrieren? Welche Auswirkungen haben Online- Medien in der Therapie im Vergleich zu den Präsenzsitzungen? Hier ist eine Auseinandersetzung mit neuen Konzepten der Abstinenz und Grenzwahrung geboten- - zum Schutz sowohl der PatientInnen als auch der TherapeutInnen. Hierzu freuen wir uns auf einen inhaltlichen Austausch mit KollegInnen. Wir sind aber auch gefordert, uns selbst mit eigenen Ängsten, Unsicherheiten, dem Verlust der eigenen Autonomie und Selbstbestimmtheit und Einschränkungen in Bezug auf Bewegungsfreiheit und soziale Kontakte auseinanderzusetzen und einen Umgang damit zu finden. Wir haben auf die Zukunft gerichtete Ängste und fragen uns, wie sich gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Folgen auswirken werden und wie die Welt nach der Krise aussehen wird. Ein diffuses Bedrohungsgefühl breitet sich gelegentlich in uns und in unserer Umgebung aus. Das ist gerade für uns westlich sozialisierte Menschen beängstigend, für die das scheinbare Gefühl der Kontrolle eine wichtige Lebengrundlage bildet und Ohnmachtsgefühle stärker beunruhigen, da wir nicht so damit vertraut sind wie Menschen in anderen Kulturkreisen. 92 Goll-Kopka, Eberhard-Kaechele 2 | 2021 Wir erleben es als förderlich, uns mit unseren eigenen diffusen Gefühlen und Unsicherheiten in eine kontinuierliche Auseinandersetzung zu begeben: in einer fortwährenden Selbstreflexion und auch in einem bewegenden und kreativen Ausdruck. Unerlässlich war und ist ein konstruktiver und offener kollegialer Austausch und Intervision. Besonders hilfreich erleben wir, unsere inneren und äußeren Frei- und Spielräume kontinuierlich auszuloten und herauszufinden, was dennoch innerhalb der Restriktionen und schwierigen Bedingungen möglich ist. Es ist faszinierend zu erleben, wie das Wesen sich auf Veränderungen einstellen und anpassen kann und Entwicklungsprozesse sich trotzdem vollziehen. Im Lichte dessen können wir uns zuversichtlich fragen, wie wir Gestaltungsräume neu besetzen können. Indem wir diese Möglichkeiten und Wege finden und gehen, haben wir das Gefühl des Einflusses und einer wiedererlangten Kontrolle. Dies hat positive Auswirkungen auf unsere persönliche Gesamtsituation, auf unsere Studierenden, PatientInnen und SupervisandInnen und alle, die durch diese wiederum erreicht werden. Literatur Anwar, Y. (2020): Dacher Keltner on how to recover from 2020 and start afresh. In: news.berkeley. edu/ 2020/ 11/ 20/ dacher-keltner-on-how-torecover-from-2020-and-start-afresh, 22.11.2020 Bühring, P. (2020): Psychische Belastungen in der COVID-19-Pandemie: Allgemeine Verunsicherung. Deutsches Ärzteblatt 11, 487-488 Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) (2020: ) Corona-Pandemie und psychische Erkrankungen. BPtK Hintergrund zur Forschungslage. 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Eigene Praxis für Tanz- und Ausdruckstherapie. ✉ Prof. Dr. Andrea Goll-Kopka andrea.goll-kopka@t-online.de
