eJournals körper tanz bewegung 9/3

körper tanz bewegung
9
2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2021
93

Der Satzergänzungslaufkreis (SelK)

71
2021
Thomas Haudel
In diesem Artikel wird eine vom Autor entwickelte, einfach handhabbare Intervention vorgestellt, die durch die Verbindung von Bewegung und Sprechen sowohl eine Antriebssteigerung als auch einen verbesserten sprachlichen Zugang zur Primärpersönlichkeit der Klienten bewirkt. Die Intervention wurde in der ambulanten Praxis mehrfach erprobt und hat insbesondere bei depressiven Klienten eine positive Wirkung entfaltet.
9_009_2021_003_0151
Forum: Aus der Praxis 151 körper-- tanz-- bewegung 9. Jg., S. 151-154 (2021) DOI 10.2378/ ktb2021.art20d © Ernst Reinhardt Verlag Der Satzergänzungslaufkreis (SelK) Eine Biodynamische Intervention zur Antriebssteigerung und Ressourcenaktivierung bei depressiven Patienten Thomas Haudel In diesem Artikel wird eine vom Autor entwickelte, einfach handhabbare Intervention vorgestellt, die durch die Verbindung von Bewegung und Sprechen sowohl eine Antriebssteigerung als auch einen verbesserten sprachlichen Zugang zur Primärpersönlichkeit der Klienten bewirkt. Die Intervention wurde in der ambulanten Praxis mehrfach erprobt und hat insbesondere bei depressiven Klienten eine positive Wirkung entfaltet. Schlüsselbegriffe Biodynamik, therapeutisches Gehen, Primärpersönlichkeit, verwurzeltes Sprechen Sentence-Completing-Walking-Circle. A Biodynamic Intervention for Increasing Physical Movement and the Activation of Resources in Depressive Patients This article presents an easy to use intervention developed by the author, which improves physical activation and verbal access to the primary personality through the combination of movement and language. The intervention was tested repeatedly in ambulant therapy and showed positive effects, especially on depressive patients. Key words biodynamic, therapeutic walking, primary personality, rooted talking I n den sogenannten Richtlinienverfahren (VT, TP, AP), die hierzulande in der ambulanten Psychotherapie am meisten angewendet werden, ist es üblich, dass der Patient in der Therapiestunde entweder sitzt oder liegt (Reimer / Rieger 2000; Rudolf 2005; Levine 2013). Diese Festlegung, auf eine körperlich sehr passive Art über sich nachzudenken und miteinander zu sprechen, ist eine unnötige Einengung des Haltungs- und Bewegungsspektrums der PatientInnen. Sie ist symptomatisch für die körperentfremdende Art der Psychotherapie in Deutschland. Auch Berührungen und andere Formen der nonverbalen Kommunikation miteinander sind im Methodenspektrum der Richtlinienverfahren nicht vorgesehen und stellen eine weitere Einengung der Möglichkeiten von Begegnungen zwischen TherapeutIn und PatientIn dar. Damit wird den PatientInnen eine Vielzahl wirksamer und hilfreicher Interventionen vorenthalten. Ich möchte in diesem Artikel eine Intervention aus dem Spektrum der Körperpsychotherapie, genauer gesagt der Biodynamischen Psychotherapie vorstellen, die ich selbst entwickelt habe: den Satzergänzungslaufkreis (SelK). Sie 152 3 | 2021 Thomas Haudel ist sehr einfach und in beinahe jeder ambulanten psychotherapeutischen Praxis anwendbar. Es ist bekannt, dass Menschen im Stehen und Laufen sehr konstruktive, kreative und zielorientierte Gedankengänge entwickeln können, da sich die Gehirnhälften besser vernetzen (Hürter 2017). Viele bekannte Schriftsteller, wie z. B. Goethe, haben im Stehen geschrieben, und auch zeitgenössische Autoren, wie z. B. Christoph Hein, praktizieren diese Art des Denkens und Schreibens. Andere Denker, wie Friedrich Nietzsche, haben das Wandern für sich als Gedankenschmiede entdeckt. Sie entwickelten beim Wandern kreative Gedankengänge, die sie anschließend aufgeschrieben haben und aus denen zum Teil bekannte Werke entstanden sind (Raabe 2005). Auch unter Ihnen als LeserInnen werden viele sein, die schon einmal die Erfahrung gemacht haben, dass es sich im Stehen und Laufen gut denken lässt. Man kennt z. B. die besondere Qualität eines Dialoges beim Spazierengehen im Vergleich zum Reden im Sitzen. Es liegt nahe, diese Erkenntnis auch für unsere PatientInnen nutzbar zu machen. Dabei ist es nicht unbedingt nötig, den geschützten Rahmen des Therapieraumes zu verlassen, obwohl dies in der Geschichte der Psychotherapie auch schon praktiziert wurde. August Aichhorn beispielsweise, der bekannte Wiener Kinder- und Jugendanalytiker, ist mit seinen jugendlichen Klienten oft spazieren gegangen und hat dabei mit ihnen seine therapeutischen Gespräche geführt (Aichhorn 1951). In seinem Hauptwerk „Verwahrloste Jugend“ berichtet er darüber. Bei der von mir praktizierten Form des Laufdialoges kann man im Raum bleiben, vorausgesetzt er hat eine Mindestgröße von etwa 16 qm. Ideal wären Räume zwischen 20 und 40 qm. Mit ähnlichem Laufen im Kreis arbeitet bereits der Traumatherapeut Ralf Vogt (Vogt 2013). Er nennt seine Intervention LMDR (Leg-Movement-Desensitization-Reprocessing). Bei ihm geht es, anders als beim assoziativem SelK, um die Anregung des Erinnerungsvermögens. Die Intervention Es geht beim Satzergänzungslaufkreis darum, den Körper und das Denken in Bewegung zu bringen und den Patienten aus eingefahrenen, oft zwanghaften und destruktiven Denkmustern herauszuholen. Die Verbindung von Gehen und Sprechen ist ein geeignetes Mittel dafür. Damit können wir das sogenannte „Verwurzelte Sprechen“ (Southwell 2013; Geuter 2019) fördern, das in der Biodynamischen Psychotherapie angestrebt wird. Diese Art des Sprechens unterscheidet sich vom weit verbreiteten unverbundenen Sprechen dadurch, dass dabei der Körper als der Ort, in welchem sich emotionale Erfahrungen manifestiert haben und abgespeichert sind, stärker einbezogen wird. Der Körper befindet sich durch das Gehen in einem höheren Aktivitätsniveau, und sowohl die Atmung als auch der Herzschlag sind leicht erhöht. Die Stimme ist meist kräftiger und angereicherter mit Emotionen. Das Gesagte wird bedeutsamer und erzeugt auch beim Zuhörer mehr Aufmerksamkeit (Silbernagl/ Despopoulos 2012). Da depressive Patienten meist nicht ohne äußere Hilfe zu so einem verbundenen Sprechen gelangen, reicht das Gehen allein nicht aus, dies zu bewirken. Deshalb habe ich mich entschlossen, bei dieser Methode Satzanfänge vorzugeben, ähnlich wie das im Satzergänzungstest (u. a. Lüpertz 2015) für Kinder geschieht. Der Vorteil besteht darin, dass der Patient nicht unter Druck gerät, jetzt etwas Besonderes sagen zu müssen, und auch keine Versagensängste entwickeln kann, wenn ihm nichts einfallen sollte. Der zweite Vorteil besteht im Ausschalten von Überichinstanzen, denn die Vorgabe ist, möglichst spontan den Satz zu ergänzen. Das dritte Argument für die Satzvorgaben ist, dass Patienten oft nicht in der Lage sind, das, was in ihnen vorgeht, angemessen sprachlich auszudrücken. Dem Patienten wird zunächst die Methode kurz erläutert und sein Einverständnis dazu eingeholt. Die Widerstände dagegen sind ge- Satzergänzungslaufkreis 3 | 2021 153 ring, bei den meisten Patienten überwiegt die Neugier. Dann wird der Patient aufgefordert, aufzustehen und einen kleinen Ball in die Hand zu nehmen. Der Ball soll während der Übung locker von einer Hand zur anderen bewegt werden. Das dient der hirnhemisphärischen Verbindung. Sodann wird der Patient aufgefordert, in einer bestimmten Richtung im Raum in einem ihm angenehmen Tempo im Kreis zu gehen. Als Therapeut läuft man am gegenüberliegenden Punkt des Kreises im gleichen Tempo in der gleichen Richtung mit. Es empfiehlt sich, während des Laufens gelegentlich die Richtung zu wechseln. Wenn der Patient sich eingelaufen hat und bereit ist, kann mit den Satzanfängen begonnen werden. Diese können sowohl spontanen Einfällen entspringen, als auch vorher eingeübt werden. Wichtig ist, die Satzanfänge in normalem Tempo laut und deutlich mit emotionaler Schwingung auszusprechen. Zwischen den Sätzen sollte eine Pause von mindestens 10- Sekunden sein, um dem Patienten Zeit zu geben, den Satz in sich nachwirken zu lassen. Ich verwende bisher drei Arten von Satzanfängen: 1. Positive Gedanken und Impulse verstärkende Satzanfänge wie: „Ich würde mich freuen, wenn …“ und „Ich würde gern einmal…“ 2. Neutrale, selbstexplorative Satzanfänge wie: „Es kommt mir manchmal so vor, als …“ oder „Mein Körper fühlt sich an wie …“ 3. Angst, Trauer und Schmerz aufdeckende Satzanfänge wie: „Meine größte Sorge ist …“, „Es beunruhigt mich, dass …“ Man könnte auch andere Gefühlsbereiche ansprechen, wie zum Beispiel Aggressionen oder Ekel. Es wäre z. B. möglich, spontan einen entsprechenden Satzanfang zu verwenden, wenn ein bestimmtes Thema in der Therapie gerade bedeutsam geworden ist. Eine Aufstellung möglicher Satzanfänge erfolgt am Ende des Artikels. Es empfiehlt sich, am Anfang mit den positiven und neutralen Satzanfängen zu beginnen. Bei Patienten, die über ihre Ängste wenig sprechen können, kann man bei der Wiederholung der Übung auch mal einige Sätze aus der Kategorie 3 einstreuen, aber nicht mehrere hintereinander. Die meisten Patienten antworten sehr schnell und sind oft selbst von ihren Antworten überrascht. Die Übung dauert ungefähr 10-15 Minuten. Danach setzt man sich wieder hin und spricht darüber. Dabei kann man z. B. fragen, welcher Satz dem Patienten am meisten in Erinnerung geblieben ist oder welcher Satz ihn am meisten überrascht hat. Alle PatientInnen, mit denen ich die Übung bisher durchführte, erlebten sie als angenehm, aktivierend und abwechslungsreich. Die Übung kann in jeder Stunde eingesetzt werden, und es ist nicht schlimm, wenn dabei Satzanfänge wiederholt werden. Jeder Therapeut kann sich, abweichend von meinen Vorschlägen, selbst Satzanfänge ausdenken, die für den jeweiligen Patienten geeignet sind. Die Satzanfänge sollten in einer einfachen, für jedermann verständlichen Sprache formuliert werden und keine Fremdwörter enthalten. Resümee Die Intervention des Satzergänzungslaufkreises (SelK) stellt eine wertvolle Ergänzung zum Repertoire sowohl gesprächsbasierter als auch körperorientierter Psychotherapien dar und ist besonders wirkungsvoll bei depressiven Patienten. Studien dazu gibt es bisher nicht, dazu ist die Intervention für sich genommen zu klein. Sie könnte auch gut in Kombination mit anderen körperpsychotherapeutischen Methoden eingesetzt werden und dabei ebenfalls eine signifikante Wirkung entfalten. Es wäre auch möglich, die Intervention in der Gruppentherapie einzusetzen. Dann müsste man vorher festlegen, in welcher Reihenfolge die Teilnehmer antworten, damit nicht mehrere zugleich sprechen. 154 3 | 2021 Thomas Haudel Anhang mit Satzanfängen Positive Gedanken und Impulse verstärkende Satzanfänge „Ich wollte schon immer mal gerne …“ „Ich habe Appetit auf …“ „Ich wäre jetzt am liebsten in …“ „Am Wochenende werde ich …“ „Ich würde mich freuen, wenn …“ „Es tut mir gut, wenn ich …“ „Ich habe Lust auf …“ „Ich sollte öfter mal …“ „Am liebsten würde ich …“ „Es gefällt mir, wenn …“ „Um wieder glücklich sein zu können, bräuchte ich …“ Neutrale, die Selbstexploration fördernde Satzanfänge „Es kommt mir manchmal so vor, als …“ „Wenn ich mich in ein Tier verwandeln könnte, wäre ich gern ein …“ „Mein Körper fühlt sich an wie …“ „Das ganze Leben ist ein …“ „Ich bin ein Mensch, der …“ „So langsam bekomme ich eine Ahnung davon, was es heißt, …“ „Die meisten Menschen sind …“ „Ich habe noch nie im Leben …“ „Ich frage mich manchmal …“ „Es gibt Momente, da …“ Angst, Trauer und Schmerzerfahrungen aufdeckende Satzanfänge „Manchmal schrecke ich nachts auf und denke …“ „Es macht mir Angst, wenn …“ „Meine größte Sorge ist …“ „Es tut mir weh, wenn …“ „Ich möchte nicht noch mal erleben, dass …“ „So richtig wohl ist mir nicht bei dem Gedanken …“ „Ich könnte heulen, wenn ich daran denke …“ „Es ist für mich beunruhigend …“ „Ich finde es sehr ungerecht, dass …“ Literatur Aichhorn, A. (1951): Verwahrloste Jugend. Verlag Hans Huber, Bern Geuter; U. (2019): Praxis der Körperpsychotherapie. Springer, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 662-56596-4 Boyesen, G. (2019): Über den Körper die Seele heilen. Boyesen Verlag, Kiel Boyesen, G., Boyesen, M. L. (1987): Biodynamik des Lebens. Synthesis, Essen Hürter, T. (2017): So kommen Sie weiter! Zeit-Wissen 3 vom 25.4.2017. In: www.zeit.de/ zeitwissen/ 2017/ 03/ gehen-intelligenz-evolutiongeist-spazierengehen-denken, 9.2.2021 Levine, P. A. (2013): Sprache ohne Worte. Kösel, München Lüpertz, S. (2015): Satzergänzungen für Jugendliche. Verhaltenstherapie mit Kindern & Jugendlichen-- Zeitschrift für die psychosoziale Praxis 1 / 2, 21-24 Raabe, P. (2005): Spaziergänge durch Nietzsches Sils-Maria. Arche, Zürich / Hamburg Reimer C., Rieger, U. (2000): Psychodynamik& Psychotherapie. Springer, Heidelberg Rudolf, G. (2005): Psychotherapie, Medizin & Psychosomatik. Thieme, Stuttgart Silbernagl, S., Despopoulos, A. (2012): Taschenatlas Physiologie. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart, https: / / doi.org/ 10.1055/ b-002-50992 Southwell, C. (2013): Gespräch mit dem Unterbewussten. In: GBP (Hrsg.): Lust amHeilen-- Lust am Leben. Beiträge der 15. GBP-Fachtagung in Goslar 2012. BoD, Norderstedt, 12 Vogt, R. (2013) SPIM-30 Manual. Vogt GBR, Leipzig Dipl.-Psych. Thomas Haudel Psychotherapeut in freier Praxis, Ausbildungen in tiefenpsychologisch fundierter, biodynamischer Psychotherapie und Traumapsychotherapie, Psychologe in einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle, 2. Vorsitzender der GBP. ✉ Dipl.-Psych. Thomas Haudel Zionskirchstr. 67 | D-10119 Berlin haudel@biopsych.de