eJournals körper tanz bewegung 9/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Im Kern sind wir unverletzt

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Matthias Wenke
Vor dem Hintergrund des Erscheinens von Davis’ Monografie Funktionale Analyse (2020) wird dessen körperpsychotherapeutischer Ansatz vorgestellt. Dieser beinhaltet auch die unmittelbare Arbeit am Bindegewebe. Mit einer teilweisen Reorganisation des Bindegewebes und einer tiefen Befriedung des vegetativen Nervensystems beobachtete Davis zugleich die autonome Reorganisation der Selbst- und Objektbeziehungen seiner PatientInnen. Der Autor dieses Artikels arbeitet und lehrt in der Tradition von Alfred Adler und hat Davis’ Funktionale Analyse im Rahmen einer Weiterbildung kennengelernt. Dabei fiel eine bestätigende und vertiefende Komplementarität zu Adlers ganzheitlichem somatopsychischem Ansatz ins Auge, weshalb versucht wird, die beobachteten Phänomene und Zusammenhänge – neben Davis’ eigenen Modellen – auch mit individualpsychologischen Konzepten zu begreifen.
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Fachbeitrag 170 körper-- tanz-- bewegung 9. Jg., S. 170-182 (2021) DOI 10.2378/ ktb2021.art25d © Ernst Reinhardt Verlag Im Kern sind wir unverletzt Die Funktionale Analyse von Will Davis aus individualpsychologischer Sicht Matthias Wenke Vor dem Hintergrund des Erscheinens von Davis’ Monografie Funktionale Analyse (2020) wird dessen körperpsychotherapeutischer Ansatz vorgestellt. Dieser beinhaltet auch die unmittelbare Arbeit am Bindegewebe. Mit einer teilweisen Reorganisation des Bindegewebes und einer tiefen Befriedung des vegetativen Nervensystems beobachtete Davis zugleich die autonome Reorganisation der Selbst- und Objektbeziehungen seiner PatientInnen. Der Autor dieses Artikels arbeitet und lehrt in der Tradition von Alfred Adler und hat Davis’ Funktionale Analyse im Rahmen einer Weiterbildung kennengelernt. Dabei fiel eine bestätigende und vertiefende Komplementarität zu Adlers ganzheitlichem somatopsychischem Ansatz ins Auge, weshalb versucht wird, die beobachteten Phänomene und Zusammenhänge-- neben Davis’ eigenen Modellen-- auch mit individualpsychologischen Konzepten zu begreifen. Schlüsselbegriffe Bindegewebe, Körperpsychotherapie, Individualpsychologie, Trauma, Unbewusstes At The Core We Are Unharmed. Will Davis’ Functional Analysis From an Adlerian Perspective Against the background of the publication of Davis’ monography “Functional Analysis” (2020; in German), his body psychotherapy approach is introduced. This also includes the direct work on connective tissue. With a partial reorganisation of the connective tissue and a deep pacification of the autonomous nervous system Davis observed an autonomous reorganisation of the self and object relations of his patients. The author of this article works and teaches in the tradition of Alfred Adler and became acquainted with Davis’ functional analysis within the scope of advanced training. A confirming and deepening complementarity to Adler’s holistic somatopsychic approach caught the eye, which is why an attempt is made to understand the observed phenomena and interrelations in the context of Adlerian individual-psychologic concepts-- in addition to Davis’ own explications. Key words body psychotherapy, connective tissue, Adlerian psychology, trauma, unconscious Funktionale Analyse aus individualpsychologischer Sicht 4 | 2021 171 Wie einer sich bewegt, so ist der Sinn seines Lebens: Körperpsychotherapie A lfred Adler führt uns eine fundamentale Wahrheit vor Augen: „Alle sich bewegenden Lebewesen (…) können vorausschauen und die Richtung, in der sie sich bewegen müssen, abschätzen. (…) Dieses Vorhersehen der Bewegungsrichtung ist das zentrale Prinzip des Geistes. (…). Alle psychologischen Fehler sind so Fehler bei der Wahl der Bewegungsrichtung.“ (Adler 1931 / 1979, 30 ff ). Und dies schon ab ovo für die befruchtete Eizelle, „(…) die bereits ein Vollendetes ist. (…) Es ist das Ich, das ins Leben hineinwächst, das wir später als schöpferische Kraft ersehen. (…) Wer bewegt das Seelenleben, und in welche Richtung bewegt er? Immer handelt es sich um das Ich.“ (Adler 1932a, 84) Es geht also um Triebkraft und Richtung von Intentionen des Gesamtorganismus, eine „nahezu inhaltslose seelische Bewegung“ (Adler 1912 / 1928, 19). Die Bewegungen des Körpers, die Motorik, sind für alle Menschen das allererste Ausdrucks- und Dialogmittel, für lange Zeit auch das einzige. Aber genau in dieser präverbalen Lebensphase entwickelt jedes Kind mittels seiner schöpferischen Kraft seinen Lebensstil, die gesamte Haltung zu sich und zur Welt, noch ganz ohne Begriffe, als leibhaftiges Lebensgefühl, als Körpererfahrungen und Körperbereitschaften. Man wird, was man erfährt und tut. Das ist anerkanntes Wissen in der Säuglingsforschung (Stern 1985), Entwicklungspsychologie (Dornes 1997) und Hirnforschung (Fuchs 2008). Alle motorischen, sinnlichen und Beziehungserfahrungen bilden so im impliziten Gedächtnis den Untergrund und das Baumaterial zur Gestaltung des Lebens. „Mittels seiner Organe kommt der Mensch in Berührung mit seiner Umwelt und empfängt Eindrücke von ihr. Wir können deshalb aus der Art, wie er seinen Körper übt, auf die Art von Eindrücken schließen, auf deren Aufnahme aus der Umwelt er vorbereitet ist, und auf den Gebrauch, den er von seiner Erfahrung zu machen gedenkt.“ (Adler 1931 / 1979, 37 ff ). Der Körper ist buchstäblich „die geronnene Gestalt der Existenz selbst“ (Merleau-Ponty 1966, 273). So zeigt schon der allererste Eindruck von Körperhaltung und Blick eines Patienten eine Grundtendenz seines Lebensstils: eher ängstlich-vermeidend oder eher aktiv-annähernd. „Wie einer sich bewegt, so ist der Sinn seines Lebens.“ (Adler 1933 / 1973, 77) Diese Einsicht Adlers zeigt auf die Einheit der Person und offenbart, dass Psyche und Körper ineinander aufgehen. Fast immer sind neurotische Störungen das Ergebnis einer unterbrochenen Verbindung zum Körpererleben, die von einer Blockierung einst spontaner Fähigkeiten bis zur Abspaltung in psychosomatische Symptome gehen kann. Gilligan (2011) spricht von der Trennung von Kognitivem und Somatischem Selbst. Heisterkamp (1999) erkennt eine notgeborene Selbstbehinderung. Im klassischen Modell von Beratung oder Psychotherapie geht man davon aus, dass zwei Individuen mit ihren Abwehrstrukturen, Übertragungen und Gegenübertragungen aufeinandertreffen, quasi mit ihren Oberflächen, und sie sich dann Schicht für Schicht zum Kern durcharbeiten. In einem individual- und körperpsychotherapeutischen Resonanzmodell (Reich 1942 / 2009; Heisterkamp 1999; Davis 2014) wird das Setting so verstanden, dass sich beide bereits unmittelbar in ihren organismischen Kernen begegnen und alles immer präsent ist. „Die Allianz in der Funktionalen Analyse im Sinne einer Ausrichtung am Patienten (…) ermöglicht bewusste und unbewusste Widerstände und Blockaden auf der psychosomatischen Ebene zu umgehen und sich direkt und gemeinsam auf die empathische, endo-psychische Ebene zu begeben, in der Kommunikation, Kontakt und echte Übertragung möglich sind.“ (Davis 2020, 87) Es geht in körperorientierter Therapie eher um spontane Mitbewegung (Heisterkamp 1999) 172 4 | 2021 Matthias Wenke und unmittelbare Einfühlung in den Körperzustand als um das Verstehen einer Erzählung; um Emotion, Triebkräfte und Intention. „Don’t get lost in the content“, sagte Will Davis einst in einem persönlichen Gespräch. Menschenkenntnis durch Form: Bindegewebe Adler hatte festgestellt, dass menschliche Organismen nicht starr sind, sondern fließender Ursprung und Ergebnis ihres Lebensstils in wechselnden Kontexten. „Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler.“ (1930, 7) „Wir müssen hinzufügen, dass wir das Ich als eine Gebundenheit betrachten, die sich selbstschöpferisch bildet, unter Gebrauch aller Möglichkeiten (…), und die unter Verwendung aller äußeren Eindrücke zu einer Form zu gelangen trachtet, die wir als geronnene Bewegung betrachten können.“ (Adler 1932b, 242) Der Körper ist uns selbst Material und Gebäude zugleich, ein sich bewegendes Fließgleichgewicht (turnover) in geschützter Form aus Stoffwechsel, Atem und Strebungen. Die Struktur unseres Körpers und unser Charakter sind also geronnene Gewohnheiten, die auch wieder verflüssigt werden können. „Die Plastizität der lebendigen Form hat sicher ihre Grenzen, aber innerhalb dieser wirkt sich (…) Bewegung aus. Bewegung wird gestaltete Bewegung: Form. So ist Menschenkenntnis aus Form möglich, wenn wir die gestaltende Bewegung in ihr erkennen.“ (Adler 1933 / 1973, 77 f ) Form folgt Funktion ist ein verbreitetes Prinzip in der Welt des Lebendigen, und Davis erklärt: „Dass eine Katze ‚katzengleich‘ ist, hat mit der Gestalt ihres Körpers zu tun. Dasselbe gilt für andere Lebewesen und auch die verschiedenen Menschen. Das Verhalten einer Patientin- - ihre Überzeugungen, ihr Erleben von Emotionen, ihre Bewegungen- - sind in hohem Maße beeinflusst durch ihre Form und Gestalt. Und Form und Gestalt sind eine direkte Wirkung der Bindegewebsfunktionen.“ (Davis 2018, 7) Verschiedenste Arten von Bindegewebe (connective tissue, CT) umhüllen und formen menschliche und tierische Körper, sie geben ihm sein äußeres Erscheinungsbild. Ebenso schafft das Bindegewebe alle Formen und Räume im Inneren, so dass jedes Organ, buchstäblich jede Zelle, ihren Platz hat. Zusätzlich verbindet, verkapselt und trennt das Bindegewebe verschiedene Teile und Organe des Körpers. Auch das Nervensystem besteht zu einem großen Teil aus Bindegewebe. Viele neurotische Mechanismen, der Charakterpanzer (Reich 1942 / 2009, 106) oder ein auf Dauer gestellter Alarmzustand des Nervensystems sind chronische vegetative Bereitschaften, muskuläre und fasziale Haltemuster aus der präverbalen Zeit. Die körperpsychotherapeutische Pionierin Gerda Boyesen entdeckte schon in den 1950 / 60er Jahren, dass die unmittelbare Arbeit an Organen, Muskeln und Bindegewebe psychotherapeutisch zutiefst wirksam ist, und entwickelte aus ihren Erkenntnissen über viele Jahrzehnte die Biodynamische Psychologie (Boyesen / Boyesen 1977). Sie hatte auch eine analytische Vegetotherapie bei ihrem Mentor Ola Raknes gemacht, einem Schüler von Wilhelm Reich. Reich (1942 / 2009, 226 f ) berichtet folgendes: „Es überrascht immer wieder, wie die Lösung einer muskulären Verkrampfung nicht nur vegetative Energie entbindet, sondern darüber hinaus diejenige Situation in der Erinnerung reproduziert, in der die Triebunterdrückung sich durchgesetzt hatte. Wir dürfen sagen: Jede muskuläre Verkrampfung enthält den Sinn und die Geschichte ihrer Entstehung.“ Adler hatte Ähnliches beobachtet und für Erinnerungen gefolgert: „(…) sicher ist ihr Zusammenhang mit dem äußeren perzipierenden und ausführenden Organe, dessen Relation zur Umgebung Art und Inhalt aller zentralen Vorgänge bestimmt. So kann man Funktionale Analyse aus individualpsychologischer Sicht 4 | 2021 173 behaupten, daß jedem Organe seine Erinnerung, sein Gedächtnis im zentralen psychomotorischen Überbau zukommt, als eine Funktion dieses psychischen Feldes.“ (Adler 1907 / 1977, 99) Davis (2018) erläutert, dass Reichs Konzept eines muskulären Charakterpanzers mit dem heutigen Wissen neu gedacht werden muss, chronische Körperhaltungen sind vor allem im Bindegewebe zu finden, nicht in der Muskulatur. Er erklärt: „Unter geeigneten Bedingungen entspannen die Muskeln nach dem Ende der Belastung und kehren in den Zustand vor dem Ereignis zurück (Gegenwart). Bindegewebe hingegen ist eher ‚historisch‘. Falls die Anspannung nicht gelöst wird, kommt das Bindegewebe der gestressten Muskulatur zu Hilfe. Es bilden sich Bindegewebsfasern in der belasteten Region und bauen ein Stützungssystem für die Muskeln auf. (…) Darum ist unser Konzept des Muskelpanzers in Wahrheit der Aufbau von neuem Bindegewebe im betroffenen Bereich.“ (Davis 2018, 3) So können etwa Fibroblasten als eine spezielle Art Bindegewebszellen jederzeit an jede beliebige Stelle im Körper wandern und sich in die gerade dort z. B. durch Verletzung oder verstärkte Belastung nötige Zellart verwandeln. Auch das Plasma oder die Grundsubstanz ist Bindegewebe, ebenso wie Sehnen, Bänder und Knorpel. Und ganz wichtig für die körperpsychotherapeutische Arbeit ist die Arbeit an den Faszien, die jedes Organ wie einen Sack umhüllen, sich zur Verstärkung in Muskelstränge einlagern und die Muskelansätze und -ursprünge bilden. „Faszien sind die markantesten Formen von Bindegewebe und sind daran beteiligt, den Körper vor Eindringen, Verletzungen und Angriffen zu schützen, physisch wie psychisch. Fasziale Nervenendungen sind beteiligt an Propriozeption (Wahrnehmung des Körpers in der äußeren Welt), Nozizeption (Schmerz und gefährliche Reize) und erstaunlicherweise auch der viszeralen Introzeption (Wahrnehmung der inneren Organe).“ (Davis 2018, 12 f; Übersetzung durch den Autor). Damit ergibt sich ein dreidimensionales, alles durchdringendes und alles verbindendes Bindegewebsnetz im menschlichen und tierischen Organismus-- über das Cytoskelett bis hinein in jeden Zellkern. „So entsteht eine Einheit. Ein vereinigter Zustand erzeugt ein Netzwerksystem, eine „Matrix“ durch den gesamten Körper.“ (Davis 2018, 12 f ) Hinzu kommt, dass Bindegewebe elektrische Halbleitereigenschaften hat (Frank/ Grodzinsky 1987a / b). Wegen dieser Halbleiterqualität ist die Bindegewebematrix zugleich eine Art elektromagnetisches Kontinuum durch den ganzen Körper, welches als ein eigenes Informationsbzw. Kommunikationssystem fungiert- - jenseits des neuronalen Systems (Langevin 2006; Szent-Györgyi 1941). Die zahlreichen mit Bindegewebsstrukturen gefüllten Organzwischenräume sind also nicht nur passive Pufferzonen, sondern ein eigenes Transportsystem. Dieses System wird als Interstitium bezeichnet (Benias et al. 2018). Reich, Adler, viele körperpsychotherapeutische Ansätze und die Phänomenologie des Leibes nehmen an, dass eine Identität von Psyche und Soma besteht. Das phänomenologische Bewusstseinserlebnis auf der Innenseite der von außen beobachteten Bindegewebematrix ist der Leib als einheitlicher, primordialer Erlebensraum, in dessen Horizont um das eigene Zentrum herum in unterschiedlicher Dichte und Entfernung sowohl alle viszeralen, emotionalen, gedanklichen Empfindungen und Erlebnisse wahrgenommen werden als auch die Sinnesempfindungen, die von der Außenwelt einströmen. Alles ist unmittelbar und zugleich präsent, und wir sind mit jedem Teil verbunden. Es ist ein sinnlich gefühlter, leibhaftiger Bewusstseinshintergrund des Jetzt, der uns stets begleitet. Wenn man sich nun auch das Zentralnervensystem unter dem Aspekt der Beteiligung von Bindegewebe anschaut, findet man Erstaun- 174 4 | 2021 Matthias Wenke liches, nämlich eine Art duales Nervensystem. Davis bezieht sich auf Forschungsergebnisse des Arztes, orthopädischen Chirurgen und Elektrotherapeuten Robert O. Becker (1962, 1965, 1974, 1990, 1991): „Becker hat gezeigt, dass es im Zentralnervensystem eigentlich zwei Nervensysteme gibt, ein digitales und ein analoges. Das eine ist das wohlbekannte System aus Nervenfasern und Synapsen, das quasi digitale elektrische Impulse aus Wechselstrom (AC) überträgt. Diese Nerven sind umhüllt von einem isolierenden Mantel aus Bindegewebe- - den Myelinscheiden. Diese Ummantelungen werden als Perineurium bezeichnet, und zusammen mit anderen nichtneuronalen Zellen aus Bindegewebe (Gliazellen, Schwannzellen, graue Substanz usw.) überträgt es einen analogen Gleichstrom (DC) durch den gesamten Körper.“ (Davis 2018, 17 f, siehe auch Oschman 2012) Das Perineurale System ist auch das Medium des in der Medizin als Verletzungsstrom bezeichneten Niederspannungsstroms, welcher die Reparatur von Wunden steuert. Auch primitive Lebewesen wissen so, dass und wo sie verletzt werden (Einzeller, Quallen, Oktopusse u. ä.). Zusammengefasst kann man also sagen, dass es in allen Lebewesen ein Verletzungsheilungssystem gibt, welches durch Gleichstrom im Bindegewebe arbeitet. Davis betont weiter, dass dieser analoge Gleichstrom beim Menschen derselbe ist wie die Gehirnströme (brain waves). Und dieser hat Einfluss auf Wachheit, Schlaf und die Schmerzempfindung. „Es liegt hier nahe zu vermuten, dass Berührung möglicherweise auf die perineuralen Systeme im gesamten Körper einwirkt und somit direkt mit Primärprozessen in Verbindung kommt und sowohl physische als auch psychische Verletzungen heilen kann.“ (Davis 2018, 18) Hier besteht offensichtlich ein Zusammenhang zum hypnagogischen oder tranceähnlichen Zustand (Instroke), den viele Menschen erleben, die mit der von Davis entwickelten Points & Positions-Berührungstechnik behandelt werden. Dabei werden bestimmte Punkte von Bindegewebe und Muskeln nacheinander sanft wandernd in einem langsamen Rhythmus von Druck und Loslassen meist mit den Daumenspitzen berührt, beispielsweise die in Faszien gehüllten Muskeln neben den Dornfortsätzen der Wirbelsäule. Bei der festgestellten ubiquitären Beteiligung von Bindegewebe an fast jedem Prozess im menschlichen Organismus verwundert es nicht, dass dessen systematische Einbeziehung in körperpsychotherapeutische Methodik tiefgreifende Prozesse anstoßen kann. Phänomenologisch ist das eine unmittelbare Arbeit am Leib, um Dinge zu verändern, die nie in Worte gefasst wurden, geronnene Gewohnheiten zu verflüssigen oder den Charakterpanzer ein wenig zu öffnen. Das ist möglich wegen der sogenannten Thixotropie des Bindegewebes. Thixotropie beschreibt die Eigenschaft von Gallerte wie etwa Plasma, sich bei Druck oder Wärme zu verflüssigen und sich bei Ruhe zu verfestigen. Dank dieser Plastizität sind fast alle Prozesse reversibel. So berichtete eine Patientin in der Praxis des Autors vom Rückgang einer Skoliose. Davis (1997, 2020) hebt hervor, dass sich die funktionale Körperarbeit am Bindegewebe vor allem auf frühe Störungen günstig auswirken kann, die sonst kaum therapeutisch ansprechbar sind. Er nimmt an, dass eine kognitiv-neuromuskuläre Abwehr von Bedrohungen erst in späteren Entwicklungsstadien des Säuglings oder Kleinkindes möglich ist. Eine sehr frühe Bedrohung führt dann zu einer Allesoder-Nichts-Schockstarre, weil noch kaum Willkürmuskulatur, Differenzierungen und Ich- Grenzen vorhanden sind, so dass das Individuum wie eine Amöbe, die einen Stromschlag erleidet, nur mit einer tiefen Kontraktion des Bindegewebes des Gesamtkörpers reagieren kann: plasmatische Abwehr. „Wenn diese Kontraktion nachgibt und das Abwehrsystem zusammenbricht, gibt es nichts mehr, was hält. Funktionale Analyse aus individualpsychologischer Sicht 4 | 2021 175 Das ist die Gefahr für die schizoide Struktur. Wir beziehen (…) auch die narzisstische und die Borderline-Struktur in unsere Konzeption mit ein.“ (Davis 2020, 108) Der Mensch weiß mehr als er versteht: Selbstbeziehung, Unbewusstes und das Gehirn Davis’ Ansatz der Funktionalen Analyse ist weder Körperpsychotherapie im eingeschränkten Sinne einer Psyche, die auch einen Körper hat, noch psychosomatische Arbeit an psychischen oder somatischen Symptomen. Der Terminus „funktional“ zielt auf eine tiefere organische Ebene, auf die Ebene der primären vegetativen Triebkraft, dort, wo Psyche und Soma entspringen. „Funktionale Arbeit ist ein Verständnis der energetischen Abläufe in Menschen. Sie beschäftigt sich nicht mit der Beziehung zwischen Psyche und Soma, sondern mit deren Verhältnis zu energetischen Abläufen. (…) So werden in dieser Herangehensweise alle physischen und psychischen Strukturen eingeschlossen.“ (Davis 1991, 98) Auf der Ebene der Funktion kann man die Urform des Lebensstils nach Adler finden, den Prototyp. Es sind die frühesten gefühlten Fiktionen, das implizite Wissen. „Auch das nichtbegriffliche Denken, von dem wir jeden Moment unseres Lebens erfüllt sind, ist bewusst im Sinne des Bewusstseins, weil wir es immer gegenwärtig haben, weil es niemals verschwindet.“ (Adler 1932a, 85) Es ist das basale Apperzeptionsschema des Leibes, durch welches alles primäre Erleben von Ich, Welt und Anderen gesteuert wird. Adlers berühmtes „Ja- - aber! “ als Neurosendefinition ist eine ganzheitliche Körperantwort, ergo ist es auch vegetative Triebkraft bzw. deren Blockierung. Ein zweites wichtiges Merkmal funktionaler Arbeit ist die Betonung intrapsychischer Prozesse der Selbstbeziehung anstelle interpersoneller Beziehungsarbeit. Denn: „Während des prä- und perinatalen Stadiums kennt das Kind nur sich selbst. Alle Ereignisse und Erfahrungen werden als Selbst-Erfahrungen erlebt. (…). Es ist diese Selbst-zu-Selbst-Beziehung, die die Grundlage für alle nachfolgenden Beziehungen bildet.“ (Davis 2020, 80) Auch pränatale Interaktionen mit Mutter oder anderen sind streng genommen Selbsterfahrungen, da noch keine Differenzierung von Ich und Nicht- Ich existiert. Es gibt nicht die Mutter, sondern das In-der-Mutter-Sein. Alle inneren Objekte sind phänomenologisch im Leibraum vorhanden, und die Beziehungen können dort erlebt, verstanden und verändert werden. Adler drückt es so aus: „Das Rohmaterial, mit dem der Individualpsychologe arbeitet, ist das Verhältnis des Individuums zu den Problemen der Außenwelt. (…) Diese Außenwelt schließt den Körper des Individuums, seine körperlichen und seine seelischen Funktionen mit ein.“ (Adler 1935, 70) Nicht nur die Welt und die Anderen, auch unser innerer Erlebensraum inklusive aller Fiktionen und Körpererfahrungen sind uns selbst Umwelt, zu der wir Beziehung aufnehmen. Nach der Auffassung der Funktionalen Analyse sucht das Kind nicht ein Objekt, sondern eine bestimmte Selbsterfahrung (mit dem Objekt), nicht einen Vater, sondern sich bevatert zu fühlen. Die Reorganisation der inneren Objektbeziehungen realisieren die PatientInnen autonom und ohne externe dialogische Abstimmung. So wird es bei der Arbeit am Bindegewebe mittels Points & Positions beobachtet. Auch Adler (1930 / 1974, 62) hatte betont: „Der Vollzug der Änderung im Wesen des Patienten kann einzig nur sein eigenes Werk sein.“ Die PatientInnen sind sich selbst Zeuge bei ihren inneren Prozessen, erfahren sich dabei ohne Bewertung und können manchmal jahrealte Verkrampfungen, Proteste oder Blockierungen loslassen. So finden sie stückweise Zugang zum offenen, freien Lebensgefühl vor oder jenseits ihrer Not. „Eine der deutlichsten Veränderungen kön- 176 4 | 2021 Matthias Wenke nen wir sehen, wenn der Patient spontan die Beziehung zu seinen Eltern verändert. Er hört auf, die Eltern als Objekte zu betrachten, und fängt an, sie als Menschen zu sehen, die einfach seine Eltern sind.“ (Davis 2020, 40) „Einigen fällt es schwer zu akzeptieren, dass die Arbeit sich wirklich so entwickelt. Psychologisch ausgedrückt, sind wir hier Zeuge einer vollständigen Restrukturierung der negativen, primären lebenslangen Objektbeziehungen oder Erfahrungen. (…) Das Objekt bleibt dasselbe. (…) Es ist das Erleben der Patienten, das sich ändert.“ (Davis 2020, 325) Davis’ Methode hilft vor allem PatientInnen mit plasmatischer Abwehr, in einen ruhigen, empfänglichen Zustand zu kommen, wo sie sich trotz traumatischer Kontraktion der einströmenden Phase der Lebenskraft hingeben können, dem sogenannten Instroke. Die Arbeit mit der auswärts gerichteten Aktivierung, dem Outstroke wäre für sie bedrohlich und ungeeignet. „Der Instroke ist eine konzentrierende, organisierende Kraft, die den Organismus reguliert.“ (Davis 2020, 198) Zustände absichtsloser Ruhe scheinen mit einer erhöhten Aktivität des sogenannten Default Mode Network (DMN) im Gehirn zu korrelieren. Raichle (2010) hat gezeigt, dass es eine Art Grundzustand des Gehirns gibt (default mode), ein Hintergrundrauschen, in dem interne Aufgaben abgearbeitet werden. Es ist ein anatomisch definiertes Gehirnsystem und genau dann aktiv, wenn Individuen zur Ruhe kommen, sich mit sich selbst beschäftigen und quasi innerlich sortieren. Damit hängen etwa das autobiografische Gedächtnis und Zukunftsvorstellungen zusammen oder die Perspektiven anderer einzunehmen. „Raichles Arbeit ist ein Modell für den Instroke als Loslöse-Prozess in der Therapie: Das Gehirn ‚entspannt‘, um eine Erfahrung oder ein Objekt neu zu erfahren oder neu zu erstellen.“ (Davis 2020, 191) Ein drittes Merkmal funktionaler Arbeit ist die Gegenwartsbezogenheit in völliger dialogischer Präsenz mit dem, was der Patient gerade jetzt mit seinem Blick, seinem Kontakt, seinen Wünschen, seinem Atem tut, und der Verzicht auf eine Fokussierung der Vergangenheit und der Probleme. „Kathartische Befreiungsarbeit wird fälschlicherweise als ‚energetischer‘ und/ oder physischer Teil der Arbeit angesehen. Danach müsse dann unbedingt psychologisch, historisch usw. gearbeitet werden. Dieses begrenzte Verständnis von ‚Energetik‘ verstärkt die bestehende Geist-Körper-Spaltung. Eine funktionale energetische Herangehensweise schließt notwendigerweise Emotionen, physikalische Strukturen und psychische Konstruktionen ein, ohne sie berühren oder mit ihnen per se arbeiten zu müssen.“ (Davis 1991, 97) In Jahrzehnten therapeutischer Arbeit hatte Davis nämlich immer wieder beobachtet, dass Körperblockaden, emotionale und kognitive Probleme einfach verschwanden, ohne dass gezielt (körperlich oder verbal) daran gearbeitet worden war. Erinnerungen und Szenen tauchten spontan an passender Stelle einfach auf, ohne gerufen worden zu sein, eher als ein natürlicher, oft erstaunter Ausdruck des Erlebens einer tief veränderten inneren Haltung zur eigenen Lebensgeschichte. Davis (2016, 6) zitiert einen Patienten: „I realize that my mother is not as bad as I thought she was because otherwise, I would be even crazier than I am! “ Auch Adler hatte davor gewarnt, Erinnerungsbilder historisch zu nehmen: „Dieses Bild (…) ist (…) nie als Inhalt bedeutsam, sondern bloß als abstraktes Schema oder als Rest eines psychischen Geschehens.“ (Adler 1912 / 1928, 44) Innere Bilder sind aktualgenetische Schöpfungen des leibhaftigen Jetzt-Zustandes des Klienten, sie enthalten seine emotionale, intentionale und energetische Gegenwartsstruktur. Es geht um Tiefendynamik, um intentionale Triebkraft. „Der Geist ist keine Kraft, sondern er ordnet Kräfte.“ (Adler 1937 / 1994, 15) So findet in funktionaler Arbeit eine Organisation von freien, chaotischen Antriebskräften statt, und es werden gesunde Grenzen gebildet Funktionale Analyse aus individualpsychologischer Sicht 4 | 2021 177 (analog der trennenden Funktion von Bindegewebe zwischen Organen). „Eins ist freilich sicher: Es gibt immer genug Energie. Reich hat uns gezeigt, dass es darum geht, auf welche Weise die Energie organisiert wird. Seine Forschungen haben (…) auch gezeigt, dass die Kommunikation in einem System zunimmt, wenn freie Energie organisiert und strukturiert wird.“ (Davis 2018, 14) Eine vierte Besonderheit der Funktionalen Analyse ist ihr Verständnis von Bewusstsein und Unbewusstem. Davis sieht die Freud’sche Metapher vom Eisberg mit winzigem bewussten Ich über Wasser und riesigem Unbewussten unter Wasser geradezu auf den Kopf gestellt. Er macht darauf aufmerksam, dass die Arbeit der Neuropsychologen Solms und Panksepp (2012)-- mit dem aufschlussreichen Titel „The Id knows more than the Ego admits“- - plausibel zeigt, dass das subjektive Selbstgewahrsein unabhängig von der Großhirnrinde ist und mit den Primärprozessen des Hirnstammes korreliert, die sich auch bei Tieren finden: „Aber es existiert auch das tiefere, subjektive Selbst; ein interner subjektiver Körper. Dieser interne, subjektive Körper erzeugt eine andere Art von Bewusstsein als das exterozeptive Neokortex-Bewusstsein des externen Körpers [Homunkulus; M. W.]. Der interozeptive Hirnstamm erzeugt einen sogenannten Hintergrundzustand unseres ‚Seins‘.“ (Solms / Panksepp 2012, 156) Der eigentliche Akteur des Handelns ist also das phänomenale Leibsubjekt, das unterhalb der kognitiven, reflexiven Großhirnprozesse bereits ein fundamentales Selbstgewahrsein trägt oder vielmehr dieses affektive Körperselbstgewahrsein ist. Was heißt das für das Verständnis von Bewusstsein und Unbewusstem? Davis skizziert Solms und Panksepps (2012) bahnbrechende Erkenntnis: „Das Unbewusste-- der Teil des Eisbergs, der sich unter Wasser befindet- - wurde als das Es angesehen, das vom Ich kontrolliert wird. Hier wird das Gegenteil suggeriert: Bewusstsein ist im sogenannten Unbewussten bzw. Es begründet. Der Hirnstamm ist der Sitz des Bewusstseins, und das Ego wird lediglich vom Hirnstamm informiert. (…) Das kortikale Ichbewusstsein dient dem Hirnstamm-Bewusstsein.“ (Davis 2020, 168) Wenn wir Adlers Seele mit Hirnstamm-Bewusstsein und Adlers Bewusstsein mit Ichbewusstsein übersetzen, erkennen wir bei ihm dieselbe Auffassung, „(…) daß also die menschliche Seele die Fähigkeit hat, das Bewußtsein zu dirigieren, d. h. etwas bewußt zu machen, wenn es für den Standpunkt der seelischen Bewegung notwendig ist und umgekehrt, etwas im Unterbewußtsein zu belassen oder es unbewußt zu machen, wenn dies für den gleichen Zweck erforderlich erscheint.“ (Adler 1927 / 1966, 98) Und Davis erklärt in die gleiche Richtung weiter: „Also kann das Kernbewusstsein die kortikale Ebene anregen, um Wünsche zu erfüllen, und / oder wir können von emotionalen Zuständen beeinflusst sein, ohne uns dessen bewusst zu sein. (…) Ich stimme insofern mit ihrer Position überein, dass dies das sogenannte Es ist-- allerdings ohne all die negativen, destruktiven, chaotischen Eigenschaften.“ (Davis 2020, 211) Solms und Panksepp (2012, 168) finden dafür eine treffende Formel: „Kurz gesagt, das dumme Es weiß mehr, als es zugeben kann.“ Und damit treffen wir wieder auf Adlers grundlegende Einsicht: „Der Mensch weiß mehr als er versteht.“ (1933 / 1973, 178) Adler hatte explizit festgestellt, dass dieses nichtkognitive, fundamentale Bewusstsein bereits bei Tieren zu finden ist. „Das Tier hat, natürlich, ein Bewusstsein ohne Begriffe; hat es der Säugling nicht auch, handelt er nicht außerordentlich vernünftig? Sind wir nicht alle in der Lage, im Bewusstsein Dinge zu tragen, die wir nicht begrifflich erfassen, die uns aber gegeben sind? “ (Adler 1932a, 85) Bewusstsein und Unbewusstes sind phänomenologisch ein einziger Leibraum, der aus 178 4 | 2021 Matthias Wenke dieser gegebenen, spontanen Hintergrundlebendigkeit heraus mit sich selbst und der Welt in Beziehung tritt, ein Ganzes, dem seine Teile dienen. „Wenn wir das Bild vom Eisberg wörtlich nehmen, dann sind Bewusstsein und das Unbewusste aus demselben ‚Zeug‘ gemacht, differenziert, aber untrennbar.“ (Davis 2020, 212) Und auch hier klingen Adlers Worte wie Paraphrasierungen einer universalen Einsicht: „Daß jemand im Unbewußten ein anderer wäre als im Bewußten (…), wird jeder leugnen, der die Feinheiten und Nuancen des Bewußtseins begriffen hat. Wie einer sich bewegt, so ist der Sinn seines Lebens.“ (Adler 1933 / 1973, 77) Es ist der lebendige, fühlende, atmende, pulsierende, bewohnte Körper in seiner Ganzheit, der wir sind und der uns als anderer Mensch entgegentritt (nicht, was er selbst über sich denkt oder sagt). Im Tiefsten wohnt nur ein einziges Ich. Im Kern sind wir unverletzt: das Endoselbst Kommen wir noch einmal zurück zum Bindegewebe: Ein wichtiger Punkt ist die schützende Reaktion des Bindegewebes auf Belastungen und seine plastische Fähigkeit, unter bestimmten Bedingungen in seinen ursprünglich gesunden Zustand vor der Belastung zurückzukehren (Thixotropie). Die Points & Positions-Berührungstechnik der Funktionalen Analyse wurde genau dazu entwickelt, diese Plastizität zu nutzen sowie die ursprüngliche bioenergetische Koordination des Organismus wiederherzustellen. Es ist keine mechanische Korrektur, die den äußeren Körper in eine bestimmte Richtung manipulieren soll, sondern-- wie alle ähnlichen Methoden-- ein berührender Dialog mit einem antwortenden fühlenden Wesen. „Die Arbeit auf der plasmatischen Ebene ist die unmittelbare Arbeit am Leben selbst.“ (Davis 2020, 111 f ) Faszienarbeit ist berührende Arbeit am phänomenalen Körper und wegen der dreidimensionalen Bindegewebematrix am gesamten erlebten Innenraum der KlientInnen. „Man darf wohl nicht vergessen, daß der Organismus eine Einheit ist, daß durch einen Anstoß an einer Stelle der ganze Organismus in Vibration gerät.“ (Adler 1934, 47 f ) Davis (2020, 63 f ) erklärt außerdem: „Der Druck wiederum produziert den sog. Piezoeffekt, d. h. er produziert elektrischen Strom im Gewebe. Aufgrund der halbleitenden Qualität von Kollagenfasern wird dieser Strom im ganzen Körper übermittelt und fungiert als Information. Es ist eindeutig, dass jede Berührung Information induziert und einen energetischen Fluss im gesamten Körper produziert.“ (siehe auch Andrew et al. 1972). Ein nicht unwesentlicher Aspekt ist auch das Erleben der eigenen Ausdehnung und Grenzen im Kontakt. „Der berührte Körper empfängt nicht nur zusätzliche Information, er erfährt auch eine Verstärkung seines Selbstgefühls.“ (Davis 2020, 63) Der gleiche äußere Stimulus kann zu verschiedenen Antworten an verschiedenen Stellen des Körpers führen, je nach Kontext. Dies ist die Anisotropie des Bindegewebes. Außerdem: Der Körper jedes Patienten entscheidet lebensstiltypisch, wie er die durch Berührung oder Bewegung erlebte Information verwendet. Es zeigte sich in Davis’ Arbeit immer mehr, dass es über die Anregung des Instroke möglich ist, auch mit früh traumatisierten Charakterstrukturen effektiv an den tiefen Triebkräften arbeiten zu können, jedoch ohne die Grenzen (intensives Erleben, oft aber nicht nachhaltig) und Gefahren (Dekompensation, Psychose) von kathartischen Entladungsmethoden (die den Outstroke verwenden). Folgt man Davis, so ruft man mit der sanften Berührung erstaunlicherweise meist keine Abwehr bei den Klienten auf den Plan. „Wird der Instroke mobilisiert, gehen Patienten in eine Zentrierung. Sie erleben sich verändernde Bewusstseinserfahrungen: Tiefe Besinnung und Funktionale Analyse aus individualpsychologischer Sicht 4 | 2021 179 Konzentration bis hin zu einem meditativen Zustand. Die Osteopathen nennen dies den Punkt der Stille (stillpoint).“ (Davis 2020, 65) Es ist Arbeit quasi unterhalb der Verteidigungsmauern. „Die PatientInnen konnten sich spontan tiefer nach innen bewegen: tiefer als z. B. unterhalb der üblichen psychosomatischen Ebene, unterhalb der Abwehr, sogar unterhalb bzw. vor den traumatischen Ereignissen, bis hin zu einem deutlich sichereren Zustand des Wohlbefindens.“ (Davis 2020, 18 f ) Die Entspannung von Points & Positions geht u. a. auch über Muskelkompressionen bis in das plasmatische Bindegewebe. Ein kontrahierter Muskel kann entspannen, wenn man ihn (von außen) weiter komprimiert (statt zu dehnen). Man übertreibt die Kontraktion und nimmt dem Muskel damit die Arbeit ab. Diese Entspannung ermöglicht dem Klienten das probeweise Aufgeben der Sicherung. Ohne Sicherung kommt man in Kontakt mit seinem nicht-neurotischen Sein. Ein Beispiel aus meiner Praxis: Ein männlicher Klient Anfang dreißig hatte panische Angst vor Hunden und wagte zudem seit Jahren kaum, frei zu atmen. Beides hing zusammen, denn als Kind machte ihm der aggressive Hund der Eltern keinen Platz, und seine Furcht wurde lächerlich gemacht. Nach einigen Sitzungen Points & Positions, in der Zwerchfell und Thorax sanft komprimiert und wieder gelöst wurden, sagte er am Ende: „Habe jetzt das Gefühl, ich könnt jetzt den Atem ganz locker anhalten. Mit einem Lächeln nicht mehr atmen. Brauche ich gerade nicht.“ Er hat seine Sicherungskontraktion in der Brust von innen quasi auf den Kopf gestellt, sich auf seine Weise unabhängig gemacht und dabei Sicherheit erlebt. In den Wochen nach unseren ersten Sitzungen erlaubte er dem bis dahin gehassten Hund seiner Freundin, in seinem Auto mitzufahren, ganz natürlich. Er erzählte das stolz. Hilft man den Klienten, sich zu sammeln und sich der pulsierenden Selbstbewegung des Instroke hinzugeben, erscheint das oben beschriebene interozeptive Hintergrundgewahrsein im Vordergrund: eine neue Gestalt, eine eigene Erlebensebene. „Mit der Mobilisierung der Einwärtsbewegung der Pulsation finden wir Zugang zu diesem Hintergrundzustand, den ich als das Endoselbst bezeichne.“ (Davis 2020, 208 f ) „Das Endoselbst ist eine frühe, selbst-organisierte, ganzheitliche, verkörperte und kohärente Subjektivität mit der besonderen Eigenschaft apriorisch, vor jedem Kontakt mit dem ‚anderen‘ zu existieren. Das Endoselbst gehört zu den phänomenologischen und organismischen Selbstmodellen: Das Selbst als Subjekt bzw. als Erkennender.“ (Davis 2020, 136) Davis’ Endoselbst ist ein unversehrter und unzerstörbarer Bewusstseinsraum, der jeder Erfahrung vorausgeht, eine primordiale Bewusstseinsschicht. Winnicott (1988) beschreibt sie als incommunicado core und Eigen (2008) als predependent aloneness. Es entspricht dem Transzendentalen Subjekt bei Husserl (1986) oder der anfangslosen Buddha-Natur aller fühlenden Wesen im Buddhismus. „Im Körper existiert das große ursprüngliche Bewusstsein, vollkommen frei von allen Begriffen. Es durchdringt alle Materie. Es verweilt im Körper, doch wurde es nicht vom Körper hervorgebracht.“ (Dordje 2009, 119). Denn: „(…) das Gehirn ist das Werkzeug des Geistes, nicht sein Ursprung.“ (Adler 1931 / 1979, 136) Mit Points & Positions ermöglicht man den KlientInnen also, sich selbst auf eine tiefe und für manche völlig neue Weise zu sammeln, zu reorganisieren und so sortiert wieder zurückzukommen. Auf einmal sprechen die KlientInnen von sich als aktiv Handelnde und ändern spontan alte Lebensgewohnheiten und Beziehungen. Es ist eine Ebene jenseits von Trauma, Mangel oder Störung. „Einmal sagt eine Patientin zu mir: „Ich liebe mich selbst-- jenseits von Gut und Böse.“ (…). Im Endoselbst gibt es 180 4 | 2021 Matthias Wenke keine vergleichende, bewertende Wahrnehmung- - aber es gibt klare Einschätzungen.“ (Davis 2020, 158 f ) Im Instroke offenbart sich die universale Fähigkeit des Leibbewusstseins zu nichtbegrifflichem Selbstmitgefühl und Selbsterkenntnis. Dem entspricht Adlers Verständnis fühlenden Lebens als eines einheitlichen Ichs. Diese Selbsttransparenz und Selbsterkenntnis sind möglich durch die fundamentale Struktur unseres Bewusstseins. Der Phänomenologe Merleau-Ponty schreibt dazu: „All unseren Erfahrungen und Reflexionen zugrunde liegend finden wir ein unmittelbar sich selbst erkennendes Sein, das nichts anderes ist als sein Wissen von sich und von allen Dingen und seine Existenz (…) kennt (…) durch die unmittelbare Berührung mit ihr.“ (Merleau-Ponty 1966, 424) Diese mitfühlende, durchdringende Berührung des Klienten mit sich selbst ist hier Ziel von Therapie oder Beratung. Derartige Prozesse sind oft nicht unmittelbar von außen erkennbar. „Es ist so, als würde man jemandem zuschauen, der meditiert. (…) Tatsächlich aber geht der Patient in sich hinein und schöpft bzw. erschafft neu, was er ist.“ (Davis 2020, 45 f ) Und es werden Wohlbefinden, Sicherheit, Annahme, Vergebung, Nichtbewertung, Zeitlosigkeit, Gedankenfreiheit oder Liebe erfahren. „Die Basis von allem ist ungeboren und somit frei von den Schleiern der Gewohnheiten.“ (Dordje 2009, 144) Fazit: Was will das Leben? Im Kern sind wir unverletzt, haben volles Potential und sind frei. Davis betont, dass dies auch und gerade für traumatisierte Menschen gilt. Jeder, der lebt, habe dieses immer wieder und unendlich nach Heilung und Kontakt suchende Wesen in sich. Darum seien Neurosen und andere Schwierigkeiten funktional gesehen Fehler und dynamisch gesprochen desorganisierte, zurückgehaltene, entmutigte oder blockierte Lebensimpulse, deren natürlicher Drang eigentlich in Richtung Wachstum, Freiheit und Gemeinschaft strebt. Adler bringt es auf den Punkt: „Um also von den Ursachen der Entmutigung zu sprechen: Sie sind immer irrtümlich! Einen völlig zureichenden Grund zur Entmutigung gibt es nicht! “ (Adler 1923, 2) Das bestätigt die angenommene Unwandelbarkeit des ursprünglichen Strebens der schöpferischen Kraft des Endoselbst, das lebenslang immer neue Wege sucht, doch noch zur Erfüllung zu gelangen. Mit dem nun reichlich fundierten Wissen, dass wir nicht das Ego sind, möchte ich mit Gilligan (2011, 64) einen tiefen Perspektivwechsel vorschlagen: „In der Therapie gilt die Konsumfrage ‚Was wollen Sie? ‘ als vorrangig. Die Frage ‚Was will das Leben von Ihnen? ‘ wird völlig übergangen.“ Literatur Adler, A. (1937 / 1994): Lebensprobleme. 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V., Fortbildungen in Körperpsychotherapie (Will Davis). ✉ Matthias Wenke Rolandstraße 28 | D-53179 Bonn info@praxis-individualpsychologie.de www.praxis-individualpsychologie.de