eJournals körper tanz bewegung 9/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Die körperpsychotherapeutische Übertragungsbeziehung

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2021
Bernhard Schlage
Der Autor verwendet in diesem Artikel ein Grimm’sches Märchen als Hintergrund, um einige Besonderheiten der Übertragungsphänomene in körperpsychotherapeutischer Arbeit zu illustrieren. Dies geschieht sowohl phänomenologisch als auch durch Darstellung entsprechender (neuro­physiologischer) theoretischer Hintergründe. Dabei schildert der Autor Möglichkeiten, zur Angstreduzierung unter pandemiebedingter Nutzung von Mund-Nasen-Abdeckungen körperpsychotherapeutisch mit dem Augensegment zu arbeiten.
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Fachbeitrag 193 körper-- tanz-- bewegung 9. Jg., S. 193-204 (2021) DOI 10.2378/ ktb2021.art27d © Ernst Reinhardt Verlag Die körperpsychotherapeutische Übertragungsbeziehung Parallelen zum Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ und Möglichkeiten zum Umgang mit Pandemiebedingungen in der Therapie Bernhard Schlage Der Autor verwendet in diesem Artikel ein Grimm’sches Märchen als Hintergrund, um einige Besonderheiten der Übertragungsphänomene in körperpsychotherapeutischer Arbeit zu illustrieren. Dies geschieht sowohl phänomenologisch als auch durch Darstellung entsprechender (neurophysiologischer) theoretischer Hintergründe. Dabei schildert der Autor Möglichkeiten, zur Angstreduzierung unter pandemiebedingter Nutzung von Mund-Nasen-Abdeckungen körperpsychotherapeutisch mit dem Augensegment zu arbeiten. Schlüsselbegriffe Neurophysiologie der Übertragung, Spiegelneuronen, orbitofrontaler Kortex, verbal-therapeutische Interaktion, Default- Mode-Network-System Specific Aspects of Transference in Body Psychotherapy and the Devil’s Three Golden Hairs. In this article the author utilises a fairy tale of the Grimm collection to illustrate some special qualities of transference phenomena in body psychotherapy. He uses phenomological methods as well as presenting the relevant (neurophysiological) theoretical background. The author describes ways of working with the eye segment in a body-psychotherapeutic way to reduce anxiety by using mouth and nose covers as a result of the pandemic. Key words neurophysiology of transference, mirrorneurons, orbitofrontal cortex, verbal therapeutic interaction, defaultmode-network-system Das Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ in Kürze D as Grimm’sche Märchen (Richter 1994), das hier Pate für das Verständnis von Übertragungsphänomenen in der Körperpsychotherapie sein soll, ist im Überblick rasch erzählt: Ein kleiner Junge ärmerer Herkunft, der mit einer „Glückshaut“ geboren wird, erhält die Weissagung, dass er die Tochter des Königs zur Frau haben wird. Das erfährt der finstere König, der den Jüngling in einer Schachtel in einen Bach wirft, aus dem dieser später allerdings gerettet wird. Nachdem der König Jahre später entdeckt, dass ihm die Tötung des ungewünschten Schwiegersohnes misslungen ist, erlegt er ihm eine Aufgabe auf, von der er meint, dass er sich des jungen Man- 194 Bernhard Schlage 4 | 2021 nes damit entledigen wird: Er soll die drei goldenen Haare des Teufels in des Königs Schloss bringen. Auf dem Weg dorthin muss der Protagonist im Märchen Prüfungen bestehen: Er muss herausfinden, warum ein Brunnen vertrocknet ist und warum der Baum, der immer goldene Äpfel getragen hat, verkümmert. Der Jüngling verirrt sich auf seiner Heldenreise in einem Wald, wo ihm paradoxer Weise die Räuber eine große Hilfe sind. Schließlich landet er im Hause des Teufels und berührt das Herz von des Teufels Großmutter, die ihn zu unterstützen verspricht. Durch die Verwandlung in eine Ameise bekommt der Jüngling Zugang zu seiner archaischen Kraft. Als der Teufel nach Hause kommt, legt dieser sein Haupt auf dem Schoß der Großmutter ab. Während er einschläft, stellt sie ihm jene Fragen, die die drei Prüfungen des jungen Mannes lösen werden (und denen er als Ameise verwandelt lauscht). Die Großmutter zieht dabei je eines der drei goldenen Haare ihres Enkels, mit denen der Jüngling schließlich in die Stadt ziehen und des Königs Tochter heiraten wird. Es ist das Mitgefühl der Großmutter mit dem Jüngling sowie das mit ihrem teuflischen Enkelsohn, das der Geschichte eine Lösung gibt. Dies sei hier bereits als Position des Autors erwähnt, der nicht eine therapeutische Technik, sondern das Beziehungsgeschehen zwischen Therapeutln und Klientln in den Mittelpunkt der Betrachtungen dieses Artikels stellen möchte. Um dies zu illustrieren, werden mehrere Aspekte der körperpsychotherapeutischen Übertragungssituation mit möglichen theoretischen Hintergründen aufgeführt. Die bewusste Absicht unserer KlientInnen und der unbewusste Dialog In der Begegnung mit unseren KlientInnen zeigen sich viele Aspekte: Der Klang der Stimme beim Erstkontakt am Telefon und das innere Bild, das dadurch in uns als TherapeutInnen entsteht; die Art seines Schreibens bei Erstkontakt via Email und welche Einladung zur Antwort in uns dadurch angeregt wird; der Duft der KlientInnen, wenn wir uns das erste Mal begegnen, und unsere unmittelbare, vom Stammhirn gesteuerte Reaktion darauf; die Kleidung, der Händedruck, bis hin zu unseren Eindrücken gemäß des von uns gelernten (psychiatrischen) Diagnoseverfahrens (Psychomotorik, Affektivität, Bewusstsein u. a. m.) sind bewusster Teil des therapeutischen Dialoges. Andere Aspekte sind unbewusster Art: Dabei gibt es solche, die den KlientInnen unbewusst sind (die nicht wissen, dass wir sie mit dem diagnostischen Auge gemäß der „10 Elementarfunktionen“ (Möller / Laux 1996) betrachten). Diese gleich zu Beginn der Begegnung transparent zu machen, wäre womöglich unangemessen. Und es gibt solche, die uns als TherapeutInnen unbewusst sind: Diese betreffen z. B. den Eindruck, den KlientInnen sich von uns machen, oder den inneren Vergleich, den sie aus Empfehlungen oder von Hinweisen aus dem Internet über unsere Person und mit uns persönlich machen. Wir könnten sagen, dass erstere objektivierbare Eindrücke von TherapeutInnen sind, während letztere bereits von Übertragungen gefärbte Eindrücke unserer KlientInnen sind. Aus einem moderneren, systemischen Verständnis von therapeutischen Beziehungen beeinflusst jedoch jede/ r Beobachterln sozialer Systeme immer auch die ganze Beziehungssituation (Schmidt et al. 2010). Diese Einsicht verändert die aus älteren Therapiekonzepten stammende Bewertung der verschiedenen Wahrnehmungsebenen zwischen Therapeutln und Klientln in der Körperpsychotherapie: Heutzutage entfällt die Bewertung, und wir können von beiden Beteiligten bewussten und unbewussten Signalen sprechen, die mit Hilfe spezifisch körpertherapeutischer Techniken moduliert und verändert werden. Geuter (2019) fasst diese Methoden zusammen unter dem Die körperpsychotherapeutische Übertragungsbeziehung 195 4 | 2021 „fünften Prinzip der Körperpsychotherapie: Regulieren und modulieren.“ (S. 193 ff ) Im Märchen erfährt der König von einer armen Familie, die einen Sohn geboren hat, welcher einer Prophezeiung gemäß der zukünftige Gemahl seiner Tochter werden soll. Der König will das verhindern und versucht, den Jüngling zu töten, was jedoch zu einer neuen Chance für das Überleben des Kindes wird. Hier, wie in weiteren Schritten des Märchens, verkehrt sich die bewusste Absicht des Königs in ihr Gegenteil, und er unterstützt gerade durch sein Handeln auf paradoxe Weise das Gelingen der von ihm ungewollten Prophezeiung. Auch wenn wünschenswert ist, dass Klientlnnen nicht zum Schwiegersohn der Therapeutlnnen werden, kann dieser Aspekt des Märchens als Hinweis gesehen werden, dass sich die bewusste Absicht der Therapeutln durch mangelnde Aufmerksamkeit für die unbewussten Aspekte des therapeutischen Dialoges in ihr Gegenteil verkehren kann. Der Leib der Körperpsychotherapeutlnnen als sensorischer Raum Das Leibempfinden der TherapeutInnen kann bei der Arbeit eine wichtige Quelle sensorischer Informationen über den unbewussten therapeutischen Prozess sein: So mag es sein, dass, obwohl KlientInnen von starken, emotionalen Erfahrungen sprechen, in der behandelnden TherapeutIn ein Gefühl von innerer Distanz und Unberührtheit bleibt; oder dass viel Schweigen der KlientIn eine Phase der therapeutischen Arbeit bestimmt, während im Leib der TherapeutIn starke aggressive Impulse (wie z. B. der innere Satz: „jetzt schmeißt er gleich den Stuhl um“) zu spüren sind. Diesen unbewussten Prozess wahrzunehmen, beschreibt Yalom (2002) mit den Worten, der „Körper ist die Stradivari des Psychotherapeuten.“ (S. 67) Die Bedeutung des Leibes als sensorischer Raum für die unbewussten Aspekte des therapeutischen Dialoges zeigt sich besonders in der Arbeit mit Berührungen. Geuter berichtet von einer Reihe verschiedener Berührungsqualitäten in der körperorientierten Psychotherapie und vergleicht auch die Bedeutung dieser Berührungen für die therapeutische Arbeit (Geuter 2019, S. 255). Dem/ r geneigten Leserln aber fällt auf, dass auch die ausgewählten Therapiebeispiele bei Geuter immer wieder als Einbahnstraße beschrieben werden: TherapeutInnen reichen ihre Hand als emotionales Bindeglied; sie bieten ihren Rücken als Halt im Sitzen für den Klienten an, oder TherapeutInnen berühren schmerzende Muskelpartien am Rücken eines Klienten, um deren seelische Bedeutung zu erkunden. Was in diesen Fallbeispielen ausgelassen wird, ist eine für viele Kolleglnnen bekannte besondere Übertragungssituation, die mit der Reaktion des eigenen Leibes auf die angewandte Berührungsweise zu tun hat: Was nämlich passiert im Therapeuten, wenn die Schwere des emotionalen Leibes einer Klientin sich durch den Rückenkontakt in den eigenen Leib bewegt? Oder was passiert, wenn der Schmerz der berührten Muskelpartie sich in den Fingern, Händen und Armen des behandelnden Kollegen wiederfindet? In der körperorientierten Arbeit sind wir weniger distanziert von den Leiden unserer Klientlnnen. Wir berühren diese um einer bestimmten Wirkung wegen, aber zugleich berühren diese Leiden unseren eigenen Leib und unser Selbst. Vielleicht weil wir eine Sympathie für die Klientln erleben, vielleicht weil wir am heutigen Tage eine ähnlich fühlende Wut im Bauch sitzen haben wie jene im Oberbauch unseres Klienten, oder vielleicht auch, weil wir als therapeutische Methode das „Ableiten“ von Schmerzen aus einer Körperpartie des Klienten durch unseren eigenen Leib gelernt haben. Dieses besondere Übertragungsphänomen und auch das Leiden der Kolleglnnen 196 Bernhard Schlage 4 | 2021 darunter findet bislang im körperpsychotherapeutischen Dialog nur wenig Raum. Körner (2018) beschreibt in seinem Kapitel über „Rupturen“ / Beziehungskrisen mit keinem Wort diese möglichen Schwierigkeiten (S. 64). Geuter (2015) beschreibt in seinem Kapitel über somatische Resonanz durchaus eine ganze Reihe solcher Phänomene und erwähnt auch die Schwierigkeiten für Kolleglnnen, in solchen Situationen zwischen den im Leib erfahrenen, übertragenen Gefühlen und dem eigenen, subjektiven Erleben zu unterscheiden (S. 306). Er beschreibt die „somatische Resonanz“ vortrefflich als orientierendes Phänomen für Körperpsychotherapeutlnnen im unbewussten Dialog mit ihren Klientlnnen. Nicht aber findet dort die daraus sich ergebende Besonderheit im Übertragungsgeschehen für die Kolleglnnen Berücksichtigung. Die besondere Bedeutung der sogenannten „Arbeit mit dem Augensegment“ in der aktuellen Pandemie Unter den aktuellen Umständen bleibt die (körper-)psychotherapeutische Arbeit der Kolleglnnen in Deutschland auf der Basis behördlicher Verordnungen erlaubt. Allerdings gibt es eine Reihe einschränkender Umstände, von denen ich hier nur die in den Bundesländern verschieden gehandhabte Pflicht zum Tragen einer Maske vor Mund und Nase erwähne. Vor dem Hintergrund des Wissens um die Bedeutung der Prosodie der Mimik des ganzen Gesichtes (z. B. der sogenannten „Still-Face- Forschung“, Nelson 1987) für die Entstehung einer ausreichenden psychotherapeutischen Bindung ist dieser Teil der behördlichen Verordnungen ein schwerer Eingriff in unsere Arbeit. Unter diesen Umständen wird die „Arbeit mit dem Augensegment“ praktisch hervorgehoben. Geuter (2019) beschreibt an einem Therapiebeispiel die Bedeutung von Augenkontakt für das Gefühl einer Klientin, sich in ihrem emotionalen Schmerz gesehen zu fühlen (S. 411). Neidhöfer (1998) beschreibt Augenkontakt als direktes „Organ“ des Kontaktes zu tieferliegenden Gefühlen und erwähnt verschiedene, auf Wilhelm Reich (1983) zurückgehende Methoden, um durch die Augen blockierte Gefühle zu lösen oder im Augenkontakt auch eine Verbindung mit den Klientlnnen herzustellen (S. 90 ff ). Aus der neueren Arbeit der Bindungsforschung, vor allem von Stern (2010), wissen wir als körperpsychotherapeutisch Tätige um die besondere orientierende Bedeutung von Augenkontakt in der frühkindlichen Beziehung. Unter den Umständen der Pandemie tritt nun dieses Element des Kontaktes durch das Abdecken von Mund und Nase und die damit einhergehenden Schwierigkeiten, mit anderen körperpsychotherapeutischen Elementen wie Atmung und stimmlichem Ausdruck zu arbeiten, in den Vordergrund der therapeutischen Begegnung: Uns begegnet die tiefe Resignation und Einsamkeit in den Augen mancher Klientlnnen; wir begegnen dem Zorn über ungerechte soziale Bedingungen der Pandemie im wütenden Blick oder auch dem tiefen Sehnen nach emotionalem Kontakt und Begegnung, wenn Klientlnnen sich aus Angst vor Infektionen seit Wochen oder Monaten weitgehend sozial zurückziehen. Wir begegnen diesen Gefühlen im Augenkontakt, und das bedeutet immer auch, dass die Begegnung sehr unmittelbar ist: Die Augen als quasi vorgestülpter, lichtempfindlicher Teil unseres eigenen Gehirns sind unmittelbares Sinnesorgan, in das die Qualität unserer therapeutischen Begegnung in die Tiefen unseres eigenen emotionalen Systems hineinwirkt. Und es entsteht die Frage, wie Kolleglnnen mit diesen Wirkungen umgehen. Die Methode der „Augenarbeit“ funktioniert nicht, wenn wir uns dabei zu schützen versuchen. Im Augenkontakt sind wir noch direkter im Kontakt mit den Emotionen unserer Klientlnnen als beim Einsatz unserer Hände. Wie können wir uns Die körperpsychotherapeutische Übertragungsbeziehung 197 4 | 2021 davon berühren lassen, ohne uns selbst darin aufzulösen, und die Grenzen der therapeutischen Arbeit und die Rollen währenddessen stabil halten? Vielleicht haben wir in unserer Ausbildung gelernt, die Augen als primäres Kontaktorgan zu verwenden, und können beispielsweise „den liebevoll-nährenden Blick“, oder den „Ausdruck von Kraft und Selbstbewusstsein“ in der therapeutischen Begegnung in unsere Augen legen. Vielleicht haben wir gelernt, unsere Augen nach einer solchen Begegnung zu „palmieren“, um Schutz und Entspannung in diesem Leibsegment wiederzufinden. Dieses in der körperpsychotherapeutischen Arbeit einzigartige Element der emotionalen Begegnung aber ist eines, das Kolleglnnen in besonderer Weise im emotionalen Kontakt exponiert und unmittelbare Fragen für die Übertragungssituation eröffnet. So beschreibt Schore (2007) Studien, in denen das Angleichen der Arbeitsweisen der Großhirnhälften durch Augenkontakt nachgewiesen werden und die Bedeutung für die emotionale Ko-Regulation des limbischen Systems zwischen Therapeutln und Klientln neurologisch beschrieben werden konnte (S. 264 ff ). Wir haben also eine aktuelle Situation, die Möglichkeiten für ganz spezifische körperpsychotherapeutische Interventionen verstärkt eröffnet und über die Wilhelm Reich seinerzeit schrieb, dass gerade diese Techniken (der Arbeit mit dem Augensegment) außerordentlich dafür geeignet sind, die enormen Ängste von Menschen zu regulieren (Reich 1989, S. 487). Es wäre zu fragen, ob die Kolleglnnen in den gegenwärtigen pandemischen Umständen ausreichend darauf vorbereitet sind, mit den spezifischen Übertragungssituationen dieser körperpsychotherapeutischen Technik umzugehen, oder welche Unterstützung sie aktuell dafür benötigen. Folgen wir dem Modell des „Johari-Fensters“ (siehe weiter unten), ist es Aufgabe des / der PsychotherapeutIn, die unbewussten Empfindungen der therapeutischen Begegnung in angemessener Weise in die Beziehung mit den KlientInnen zurückzuspiegeln und damit bewusst werden zu lassen. Dies kann in verbaler Form geschehen, wie zum Beispiel mit dem Satz: „Während Sie in den letzten Minuten schweigend vor mir gesessen haben, hatte ich den Eindruck, dass sie sehr unzufrieden mit unserer gegenwärtigen Zusammenarbeit sind. Möchten Sie das vielleicht ein wenig erläutern? “; oder es kann auch in körperlicher Form geschehen, indem TherapeutInnen die Körperhaltung oder Mimik der KlientInnen spiegeln, die ihre Ausführungen zuletzt begleitet haben, und sich nach deren Bedeutung erkunden. Kommen wir zurück zum Märchen: Vordergründig versucht der alte König in der Geschichte, den jungen Mann schon als Säugling zu töten. Doch es ist die besondere „Aura“ der Glückshaut, des Leibempfindens des Kindes, die macht, dass die armen Leute beschließen, ihn bei sich aufzunehmen. Der König findet ihn später zufällig als Jüngling bei einem Besuch der Mühle und schickt ihn unter einem Vorwand zum königlichen Schloss mit einem versiegelten Begleitbrief versehen, der ihn dem Tod ausliefern soll. Es ist wieder das Körpergefühl des jungen Mannes, das ihn rettet: Er verliert auf dem Weg zum Schloss seine rationale Orientierung und landet körperlich erschöpft im Wald, in der Hütte der Räuber. Wir können die Symbolik einfach erkennen: Die von unbewussten Kräften geschwächten Klientlnnen landen erschöpft in der Praxis der Therapeutlnnen. Dort lassen sie ihre unbewussten Konzepte los und schlafen ein-- vielleicht mögen wir darin das Ergebnis körperpsychotherapeutischer Techniken zum Release und zur Aktivierung des Parasympathikus erkennen. Die Räuber indes finden das vom König ausgestellte Schreiben und ändern es so, dass es zum Gelingen der Hochzeit des jungen Mannes mit der Prinzessin auf dem Schloss führt. Für den Inhalt dieses Artikels betrachten wir hier, wie sowohl in der Begegnung mit dem Müllerssohn, der 198 Bernhard Schlage 4 | 2021 den Jüngling im Bach findet, als auch für die Begegnung mit der Ellermutter die körperliche Präsenz von „Unschuld“ (auch im Symbol der „Glückshaut“ dargestellt) seine Begegnungen beeinflusst. Wir kennen als Körperpsychotherapeutlnnen solche Klientlnnen, die sogleich im Erstkontakt eine Wirkung auf uns ausüben. Unsere Aufgabe kann sein, dieser Wirkung bewusst zu werden und ihre Bedeutung später besser zu verstehen. Und ebenso spiegelt des Jünglings „Erschöpfung“ bei Ankunft im Haus der Räuber einen körperlichen Zustand wider, der unmittelbar unsere Beziehungs- und Begegnungsqualität beeinflusst. Mit dem Modell der Polyvagaltheorie (Porges 2001) haben wir zudem ein neurophysiologisches Verständnis gefunden, die komplexen Hintergründe dieser Erschöpfung im Bindungsgeschehen zu verstehen (wie z. B. fehlender Augenkontakt, fehlende basale Stimulation oder affektive Anregung) und gute Orientierung über mögliche körpertherapeutische Interventionen zu erhalten. Schließlich ähnelt unsere therapeutische Fähigkeit, unbewusste Skripte von Klientlnnen zu verändern (wie im Märchen das Begleitschreiben des Königs geändert wird), dem Verhalten der Räuber in der Hütte im Wald. Das Bewusstsein am Embodiment entlang organisieren Der oben beschriebene wechselseitige Prozess wird zusammenfassend im sogenannten „Johari-Fenster“ (Luft 1971) illustriert, das vier Quadranten der therapeutischen Begegnung erläutert (Tab. 1): Der obere linke Quadrant zeigt die Ebene, die sowohl den TherapeutInnen als auch den KlientInnen in der Begegnung bewusst ist. Der untere linke Quadrant beschreibt, was absichtlich in der Begegnung nicht mitgeteilt wird. Der obere rechte Quadrant zeigt, was als blinder Fleck der KlientInnen / TherapeutInnen erscheint, aber vom Gegenüber wahrgenommen wird. Und schließlich beschreibt der untere rechte Quadrant jene Interaktionen, die beiden, KlientInnen und TherapeutInnen, nicht bewusst sind. So ist sich die Großmutter in der oben beschriebenen Situation nicht darüber bewusst, welchen Inhalt die Antworten des Teufels haben werden und wie sie darauf reagieren wird. Wohl aber ist sie sich bewusst, dass die Situation, in der der Teufel seinen Kopf auf ihren Schoss legt, geeignet sein könnte, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Der Teufel hingegen ist sich nur teilweise der Anwesenheit des (in eine Ameise verwandelten) Jünglings bewusst und gibt daher Dinge preis, die eigentlich sein Geheimnis hätten bleiben sollen. Das Johari-Fenster beschreibt trefflich, dass der Zugang zum Unbewussten immer ein wechselseitiger Prozess zwischen blinden Flecken der TherapeutInnen und der Verdrängung der KlientInnen ist-- und dem absichtlichen Zurückhalten von Geheimnissen, wobei Geheimnisse im Zuge eines verbesserten Vertrauensverhältnisses preisgegeben werden und blinde Flecken durch gegenseitige Rückmeldung und Selbstwahrnehmung bewusst werden können. Einem selbst bekannt Einem selbst unbekannt Dem anderen bekannt Öffentlich Blind Dem anderen unbekannt Geheim Unbewusst Tab. 1: Das Johari-Fenster (in Anlehnung an Luft 1971) Die körperpsychotherapeutische Übertragungsbeziehung 199 4 | 2021 Das Johari-Fenster zeigt dabei die Richtung, gemeinsam das Unbewusste bewusst zu machen (den rechten unteren Quadrant). Dies soll nun im nächsten Abschnitt detailliert besprochen werden. Körperpsychotherapie als wechselseitiger Prozess Die therapeutische Begegnung beinhaltet nach Dörner / Plog (1992) immer auch eine Gegnerschaft: ein gegenseitiges Herausfordern und Berühren, wobei die Aufgaben der TherapeutInnen vordergründig asymmetrischer Natur sind. Sie achten auf die Zeit, arbeiten mit den methodischen Mitteln ihres Verfahrens und nach einer bestimmten therapeutischen Strategie, die der Situation der KlientInnen und ihren Anliegen angemessen zu sein hat. Der alte Archetypus vom „Heiler und seinem Patienten“ wäre auf diese Weise aber unvollständig dargestellt. Es sind KlientInnen, die in TherapeutInnen Dinge in Bewegung bringen und aktivieren, und ohne diese könnten die TherapeutInnen ihre Arbeit nicht bewerkstelligen. Es ist die Begegnung und ihr Gelingen oder Scheitern, das entscheidend für den Erfolg der Arbeit ist. Sei es, dass Psychotherapie als eine Dienstleistung mit klarem Auftrag und festgeschriebenen Rollen gesehen wird, oder sei es, dass Psychotherapie als ein Beziehungsgeschehen verstanden wird, bei dem beide Beteiligte zum Gelingen des Ganzen beitragen: Die Begegnung bewirkt in beiden Beteiligten ein Auftauchen und Erscheinen unbewusster Kräfte; sie ist dazu gemacht, um unbewusste Kräfte zur Entfaltung zu bringen. Das ist der Kern, der sie von physiotherapeutischen, motivationspädagogischen oder medizinischen Behandlungen unterscheidet: die beiderseitige Herausforderung, sich mit unbewussten Aspekten des Beziehungsgeschehens zu befassen und diese dem Bewusstsein und damit einer Verhaltensänderung zugänglich zu machen. Casement (1989) nennt diesen Prozess in seinem Buch „vom Patienten lernen“; Painter (1997) schreibt „revealing our selves is part of the (therapeutic) contract“, und Yalom (2002) schreibt über diesen Aspekt ein eigenes Kapitel in seinem Buch „Der Panama-Hut“: „Benennen Sie ihre eigenen Probleme offen“ (S. 181). Guggenbühl-Craig (1987) weist zu Recht auf die Gefahr des Machtmissbrauchs in der psychotherapeutischen Beziehung hin, wenn die angelegte Asymmetrie der therapeutischen Beziehung dazu benutzt wird, gemeinsam die dämonischen Seiten des Lebens durch Beherrschung seitens der TherapeutInnen bannen zu wollen. Vielmehr gehe es in der bereits besagten „Gegnerschaft“ der körperpsychotherapeutischen Arbeit um ein wechselseitiges Aktivieren und Regulieren unbewusster Aspekte. Körperpsychotherapeutische Arbeit ist auf viele Weisen ein wechselseitiger Prozess zwischen den Beteiligten, ihren Leiberfahrungen und emotional-seelischen Begleitgefühlen, der eine allseitige, umfassende Bereitschaft erfordert, um zu gelingen. Dafür gibt es auch neurologische Gründe, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden. Bevor wir uns den neurophysiologischen Erklärungen für die beschriebenen Wechselbeziehungen zuwenden, wollen wir uns noch eine Weile den Beziehungsangelegenheiten widmen. Wir erinnern uns an das Märchen und auf welche Weise die Beteiligten den Protagonisten auf seiner Initiationsreise unterstützen: Die arme Müllers-Familie, die das Findelkind aus der Kiste im Müllerbach hebt und freundlich in Empfang nimmt; der König, der mit jedem Schritt zur Vereitelung der Prophezeiung dem Jüngling eine weitere Chance zum Erreichen seines Zieles gibt; die Menschen in dem Dorf, dessen Brunnen vertrocknet ist; die prüfenden Fragen des Wächters am Stadttor und auch die Beziehung der Räuber zum Protagonisten des Märchens, die, anstatt den Jüngling auszurauben, sich mit ihm verbünden. Wir sehen 200 Bernhard Schlage 4 | 2021 im Märchen, wie detailliert verschiedene Bindungserfahrungen bei der Reise des Jünglings widergespiegelt werden. Schauen wir uns nun die Entwicklung der Bedeutung von Beziehungsqualität in der Geschichte der Psychotherapie an: Ellenberger (2005) stellt in seinem historischen Abriss der „dynamischen Psychiatrie“ vortrefflich dar, welche Schwierigkeiten in den frühen Formen der Hypnose und dem Mesmerismus (magnetisierende Behandlung Ende des 19. Jahrhunderts) entstanden sind und wie immer größere Aufmerksamkeit auf den „Rapport“, also den Kontakt zwischen Behandler und Behandelten, gelegt wurde, um die Wirkung der Behandlung zu verbessern. Die Diskussion zwischen den „Fluidisten“, die meinten, dass eine wirklich messbare Energie den Prozess begleiten würde, und den „Animisten“, die eher eine psychischanimalische Struktur hinter den Phänomenen vermuteten, weckt vielfältige Assoziationen zu der Auseinandersetzung zwischen den ersten Arbeiten Wilhelm Reichs über die Natur der von ihm beschriebenen messbaren Kraft des „Orgons“ und der Notwendigkeit, dieses auch strukturell im Leib durch körperorientierte Techniken zu beeinflussen, und seinem früheren Ziehvater Sigmund Freud, der das von ihm beschriebene Triebgeschehen immer als innerpsychische, seelische Kräfte verstanden wissen wollte, wofür er die von ihm entwickelte „Redekur“ in den Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit stellte. Die zunehmende Bedeutung des Rapports in der psychotherapeutischen Begegnung wird in den dokumentierten Fallbeispielen „Justine“, „Achilles“ und „Irene“ (Ellenberger 2005, 500-506) des Charcot-Schülers Pierre Janet (1859-1947) deutlich. Janet war Zeitgenosse des Philosophen Bergson (2012), dessen Arbeiten im Hintergrund der Philosophien Wilhelm Reichs vermutet werden. Im Unterschied zu Freud, der sich den Kräften des Unbewussten mit Hilfe seiner Traumdeutung zuwandte, legte Janet bleibenden Wert auf eine genaue Beschreibung des Beziehungsgeschehens und sagte, es gäbe „keine Form von Bewusstsein ohne irgendeine Form von Motilität“ (S. 489). Er bezeichnete Freuds Traumdeutung später als „metaphysische Methode“. Ellenberger zitiert zudem einen denkwürdigen Konflikt zwischen den beiden: Auf dem Londoner Internationalen Kongress für Medizin im Jahr 1913 beschrieb Janet die Entwicklung einer kathartischen Methode zur Heilung von Neurosen, die viele Elemente heute üblicher körperpsychotherapeutischer Techniken widerspiegelte. Wir können heute verstehen, auf welche Weisen sich das Bindungsgeschehen zwischen TherapeutInnen und KlientInnen entfaltet. Wir wissen um die Wirkung des Klangs unserer Sprache, um die Bedeutung der Kenntnis der Zugangskanäle der Sprache unserer KlientInnen (z. B. ob visuell, auditiv, kinästhetisch oder olfaktorisch …), um die Bedeutung des Augenkontaktes (s. o.) und wie sich vermittels der sogenannten „Spiegelneuronen“ die neuronale Aktivität von KlientIn und TherapeutIn aneinander anzugleichen versuchen (Bauer 2006). Wir wissen zudem, dass die Lösung „ursprünglicher, unaufgelöster psychologischer Szenarien“ (Rosenberg et. al. 1996, 87 ff ) ihre Wirkung in Zusammenhang mit der Einbettung in eine Atmosphäre der „projektiven Identifikation“ des „Hineinträumens“ in die Welt der KlientInnen erschaffen wird (Marcus 1997). Was früher als „frei schwebende Aufmerksamkeit“ (Freud 1978) der KlientInnen bezeichnet und als zentrales Element der psychotherapeutischen Wirkung verstanden wurde, kann heute mit den Techniken des Attunement, also dem Angleichen zweier neurologischer Systeme beschrieben werden: Schores Forschungen über den orbitofrontalen Kortex beschreiben dieses Angleichen im Detail und helfen zu verstehen, wie komplex die Unterstützung der emotionalen Regulation unserer KlientInnen mit unse- Die körperpsychotherapeutische Übertragungsbeziehung 201 4 | 2021 rem Auftreten und Verhalten als TherapeutInnen verknüpft ist (Schore 2007). Schlussbetrachtung Betrachten wir noch einmal zusammenfassend die bisherigen Schritte des Protagonisten im Märchen in Beziehung zum Anliegen dieses Artikels: ● Zunächst weiß er nichts von den in ihm angelegten Fähigkeiten und entdeckt sein Potential durch die Widerspiegelungen seiner Beziehungen. Es ist der König, der ihn auf den Weg bringt, so wie die Widerspiegelungen der TherapeutInnen den Klientlnnen helfen können, sich ihres Potentials bewusster zu werden. ● Es ist das Gefühl für den eigenen Leib, welches unseren Protagonisten sodann den Weg finden lässt. Es ist dieses Embodiment als Möglichkeit einer inneren Gewissheit und einer Resilienz-Entwicklung, das ihn herausfinden lässt, dass die Quelle seiner „Lebensenergie“ (symbolisch bei den Bewohnerlnnen der Stadt seiner ersten Prüfung) von einer „Kröte am Grunde des Brunnens“ blockiert wird. ● Und es ist dasselbe Embodiment, das ihn entdecken lässt, dass er seinen Lebenssinn finden muss, damit der „Baum mit den goldenen Früchten“ in seinem Inneren (symbolisch bei den Bewohnerlnnen der Stadt seiner zweiten Prüfung) wieder zu gedeihen beginnt. ● Schließlich führt den Jüngling sein wachsendes Vertrauen in die ihn umgebenden Beziehungen zu des Teufels Großmutter. Psychologisch würden wir vielleicht sagen, dass der Protagonist erst das Vertrauen in seine AhnInnen wiederfinden muss, bevor er „des Teufels drei goldenen Haare“ ergreifen kann. ● Er wird in eine Ameise verwandelt und erfährt auf diese Weise die Lösungen für die ihm gestellten Lebensfragen. Wir würden in der Körperpsychotherapie sagen, dass Klientlnnen neue Ressourcen von Haltung und Verhalten auch verkörperlichen müssen, um die Wirksamkeit der neuen innerpsychischen Einstellungen zu erfahren. Nun beginnt der Weg unseres Protagonisten zum Schloss des Königs, dem er diese Haare bringen soll, um dessen Tochter zur Frau gewinnen zu können (das Einverständnis zur Ehe wurde schon vor Beginn der initiatischen Reise bei einer ersten Begegnung der jungen Leute gefunden). Was also geschieht, bevor sich KlientInnen mit den in der Therapie erworbenen Fähigkeiten wieder dem Leben zuwenden? Im folgenden Abschnitt geht es hierauf bezugnehmend um das Symbol der „drei goldenen Haare“ und seine Bedeutung im körperpsychotherapeutischen Übertragungsgeschehen. Zusammenfassend lassen sich drei spezielle Bereiche von Übertragungsthemen in der körperorientierten Psychotherapie am Beispiel der Metapher der „drei goldenen Haare“ aus dem Märchen beschreiben: Das „erste goldene Haar“ ist die Bedeutung des somatischen Erlebens von Therapeutln und Klientln: Es ist ein tieferes Empfinden des eigenen Leibes und die Einsicht, dass Kommunikation aus einer Reihe autonomer, unwillkürlicher Signale zwischen den Beteiligten entsteht. Paul Watzlawicks kommunikationstheoretisches Axiom „Jede Kommunikation hat immer eine Sach- und Beziehungsebene“ (z. B. Watzlawick et al. 1974) muss ergänzt werden um den Aspekt der unbewussten vegetativen Signale: Jede Kommunikation wird grundlegend von einer Reihe vegetativer Signale zwischen den beteiligten Leibern gesteuert. Denen Achtsamkeit zu schenken, hilft den Beteiligten zu einem wertschätzenden Ablauf der 202 Bernhard Schlage 4 | 2021 Beziehungsgestaltung. Geuter (2015) erläutert dazu eine Reihe von Resonanzphänomenen, bei denen das Leibempfinden des/ r TherapeutIn Hinweise über unbewusste Aspekte des Erlebens des/ r Klientln geben kann: So kann das sogenannte „Grounding“ des/ r TherapeutIn die Klientlnnen bei der Regulation ihrer eigenen Gefühle unterstützen; oder Therapeutlnnen können beispielsweise durch ihre Stimme oder eigene Bewegungen Klientlnnen helfen, eigene neue Impulse in Resonanz zu entwickeln (S. 310). Das „zweite goldene Haar“ in der Körperpsychotherapie besteht in der Abkehr von der alten, direktiv orientierten Rolle des/ r Therapeutln, der/ die von außen auf ein definiert erkranktes Individuum schaut, das dank ausgewählter therapeutischer Techniken seine persönlichen Fehler / Fehlleistungen erkennt und überwindet. Körperpsychotherapie setzt stattdessen auf die Schaffung eines gemeinsamen Erlebnisraumes, in dem die Empfindungen beider Beteiligter einen wechselseitigen Einfluss auf das Gelingen therapeutischer Arbeit haben. Auch beispielsweise ohnmächtig erlebte Beziehungserfahrungen von Gewalt oder Deprivation beinhalten Möglichkeiten von Haltung und Verhalten, die wir uns durch aufmerksames In-uns-hinein-Lauschen erschließen können. Ebenso gilt das für Menschen, die sich beständig überlastet und überladen fühlen: Auch hier schafft das zweite goldene Haar die Möglichkeit, die Resilienz gegenüber äußeren Anforderungen zu erhöhen und zugleich die Achtsamkeit für intrapsychische Regulationen zu steigern. Schore (2007) beschreibt, dass die Veränderung des autonomen Zustandes des Klienten vom Behandler als das erlebt wird, was Damasio (2006) einen „somatischen Marker“ nennt. Diese sind in der psychotherapeutischen Literatur als „körperlich gespürte Gefühle“ (Gendlin 1970, S. 117) beschrieben worden. Mindell (2010) hat eine passende Übung dazu erfunden, wie wir zwischen einem festen Konfliktelement unseres Beziehungserlebens und einem gefühlsmäßigen Klang desselben wechseln können und dadurch neue Aspekte des Beziehungsgeschehens erkunden. Das „dritte goldene Haar“ erscheint bereits in der psychedelischen Forschung mit LSD in den USA der späten 1950er Jahre. Pollan und Gunkel (2019) beschreiben die wiederkehrende, das eigene Erleben der Welt grundlegend erschütternde Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen unserer eigenen inneren Haltung und unserer Wahrnehmung der Welt. Sie beschreiben eindrücklich, wie substanzbedingte Unterdrückung / Abschaltung des „Default Mode Network“-Systems unseres Gehirns die besondere Tiefe psychedelischer Erfahrung begleitet und womöglich begründet (S. 331 ff ). Dies wird derzeit in der traumaorientierten neurologischen Literatur meines Erachtens nicht zur Kenntnis genommenen. Diese Forschung verbindet sich mit älteren körperpsychotherapeutischen Modellen von Selbstregulation (Geuter 2015, 323 ff ), denen zufolge es in unserer neurophysiologischen Steuerung eine Tendenz zur Homöostase geben könnte, die selbstregulativ psychische Schwierigkeiten ausgleicht, wenn übergeordnete Kontrollzentren durch das Körpererleben stärkende Methoden geschwächt oder abgeschaltet werden. Pollan und Gunkel raten dazu, weitere Forschung in diesem Bereich unseres Gehirns zu unternehmen, um die Wirkung psychotherapeutischer Arbeit zu verbessern. Nun ist Psychotherapie von der Wirkung psychedelischer Substanzen zu unterscheiden und zugleich einer grundsätzlichen Wirkung ähnlich: Beide Methoden der Beeinflussung unseres psychischen Erlebens können zu der Erkenntnis der tiefen Vernetzung zwischen unserer Innen- und Außenweltwahrnehmung führen, was unsere Selbstautorisierungs- oder Selbstverwirklichungskraft wesentlich stärken kann. Die körperpsychotherapeutische Übertragungsbeziehung 203 4 | 2021 Ausgestattet mit diesen „drei goldenen Haaren“ finden / gestalten unsere KlientInnen ihren neuen Weg in die Welt der Beziehungen und mit Königen, von denen wir gelernt und verstanden haben, dass diese nicht immer humanistisch und menschenfreundlich sind. Schließlich hoffen wir als Vertreterlnnen unseres Berufes, dass es ein Weg in ein besseres Leben mit mehr Zufriedenheit und Glück sein möge. Literatur Bauer, J. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Heyne, München Bergson, H. (2012): Zeit und Freiheit. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg Casement, P. (1989): Vom Patienten lernen. Klett- Cotta, Stuttgart Damasio, A. R. (2006): Descartes Irrtum. List, Berlin Dörner, K., Plog, U. (1992): Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Psychiatrie-Verlag, Bonn Ellenberger, H. F. (2005): Die Entdeckung des Unbewußten. 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