körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2021.art04d
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Von einer Frau, die auszog, um das Fürchten zu lernen
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Marianne Eberhard-Kaechele
Dieser Artikel zeigt eine Beispielsitzung mit einer Patientin mit einer dissoziativen Symptomatik im Rahmen einer Traumafolgestörung. Die Nutzung der Laban Bewegungsanalyse in elf Schritten zur Förderung der Emotionsregulation von Angst wird im Kontext einer exemplarischen tanztherapeutischen Sitzung beschrieben. Das Vorgehen wird durch empirisch gestützte neurobiologische Ansätze der Traumatherapie und empirische Forschung zur Validität der Labananalyse von Emotionen geleitet.
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31 körper-- tanz-- bewegung 9. Jg., S. 31-39 (2021) DOI 10.2378 / ktb2021.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Fachbeitrag Von einer Frau, die auszog, um das Fürchten zu lernen Fallbeispiel zur Angstregulation bei einer Patientin mit dissoziativer Symptomatik Marianne Eberhard-Kaechele Dieser Artikel zeigt eine Beispielsitzung mit einer Patientin mit einer dissoziativen Symptomatik im Rahmen einer Traumafolgestörung. Die Nutzung der Laban Bewegungsanalyse in elf Schritten zur Förderung der Emotionsregulation von Angst wird im Kontext einer exemplarischen tanztherapeutischen Sitzung beschrieben. Das Vorgehen wird durch empirisch gestützte neurobiologische Ansätze der Traumatherapie und empirische Forschung zur Validität der Labananalyse von Emotionen geleitet. Schlüsselbegriffe Emotionsregulation, Angst, Tanztherapie, Neurobiologie, Trauma, Laban The Story of the Woman Who Went Forth to Learn What Fear Was. Case Study on Fear Regulation of a Patient with Dissociative Symptoms This article presents the case study of a patient with dissociative symptoms related to a posttraumatic stress disorder. The use of Laban Movement Analysis to facilitate the emotion regulation of fear in eleven steps is described in the context of a single exemplary dance therapy session. The procedure is informed by empirically supported neurobiological approaches to trauma therapy and empirical research on the validity of the Laban analysis of emotions. Key words emotion regulation, fear, dance-movement therapy, neurobiology, trauma, Laban Märchen und Realitäten I m Grimms Märchen „Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen“ (2016) ist der Protagonist nicht in der Lage, Angst zu empfinden. Er erlebt die Angstfreiheit als Mangel und möchte unbedingt lernen, sich wie andere gruseln zu können. Bei diesem Unterfangen bewältigt er lauter grausige Herausforderungen, die von anderen Menschen als unerträglich empfunden wurden, was ihm zuletzt ein Königreich samt Prinzessin beschert. Schließlich schüttet seine Gemahlin einen Eimer kaltes Wasser mit Fischen auf den schlafenden Helden und lehrt ihn das Fürchten (Gruseln). Die Patientin im folgenden geschilderten Fall, ich nenne sie hier Frau Berg, überstand noch mehr grausige Erlebnisse als die Mär- 32 Marianne Eberhard-Kaechele 1 | 2021 chenfigur. Von Geburt an war sie täglich Opfer oder (bei den Geschwistern) Zeuge von heftigem Prügel und weiteren Misshandlungen wie der Zwang, verdorbene Lebensmittel zu essen, oder das Verbot, sich zu waschen, verbale Entwertung sowie erniedrigende Rituale durch die Eltern, vor allem durch die Mutter. Hinzu kamen regelmäßige sexuelle Übergriffe durch den Großvater mütterlicherseits, teilweise in Gruppen seiner Bekannten, tatenlos durch die Großmutter toleriert. Keine Angst zu spüren oder zu zeigen, war für Frau Berg eine Überlebensstrategie. Weder durften die Kinder während der Gewalt „Theater machen“ und Emotionen zeigen, noch sollte nach außen die gebildete, gut situierte Familie anders als vorbildlich erscheinen. In diesem Kontext hat die Patientin gelernt, „sich bloß nichts anmerken zu lassen“. Sich zu immobilisieren und keine emotionalen Regungen von sich zu geben, ist eine Form des neurophysiologischen Überlebensmechanismus der Dissoziation, bei der zuvor integrierte Funktionen wie Motorik, Perzeption, Bewusstsein, Emotion usw. voneinander getrennt und unterdrückt werden, um weitere Angriffe von einem Täter zu verhindern (Schauer / Elbert 2010; Koch / Hervey 2012). Dieser Mechanismus hat das Leben von Frau Berg bis zu ihrem Auszug aus dem Elternhaus erfolgreich gerettet. Jetzt, als Erwachsene von Ende vierzig, war es jedoch problematisch bis gefährlich, dass sie ihre Emotionen kaum spüren oder problemlösend und beziehungsregulierend zum Ausdruck bringen konnte. Wie die Märchenfigur wollte Frau Berg daher wieder lernen, ihre Angst rechtzeitig spüren und anderen zeigen zu können. Die folgenden Ausführungen geben ein Praxisbeispiel für theorie- und empiriegeleitete Interventionen zur Förderung der Emotionsregulation bei Dissoziation. Körperpsychotherapeutische Einbettung der Sitzung Zum Zeitpunkt der hier geschilderten Sitzung hatte Frau Berg bereits über sechs Jahre Traumatherapie in ambulanter und stationärer Form durchlaufen. Sie hatte die ambulante Tanztherapie nach guten Erfahrungen mit dieser Methode bei einem stationären Aufenthalt vor anderthalb Jahren parallel zu ihrer verbalen Psychotherapie begonnen, in der sie meinte, auf der Stelle zu treten. Ziele der Patientin zu Beginn der Therapie waren: 1. Mit dem Körper verbunden sein und diesen bewohnen 2. Emotionsregulation 3. Existenzberechtigung: zweckloses Tun ertragen und einfach da sein dürfen 4. Körperflashbacks abbauen, wie Schmerzen in Hüfte / Unterleib, Erstickungsanfälle, Luftnot, Übelkeit und Erbrechen 5. Dissoziationsmanagement und Umgang mit inneren Anteilen 6. Bindungsfähigkeit und Regulation der Beziehungen zu Ehemann und Kindern zwischen Selbstbehauptung und Gelassenheit 7. Trauma-Exposition ausgewählter, körperbetonter Erfahrungen Im Vorfeld der zu schildernden Sitzung häuften sich im Alltag und vor allem in ihrer verbalen Psychotherapie Situationen, in denen Frau Berg nicht in der Lage war, Angst in einem Maß zu spüren, dass es ein Handeln oder zumindest einen Ausdruck auslösen konnte. Statt Angst erlebte sie Symptome wie Muskelverspannungen, Schmerzzustände, Luftnot, Schwindel und Weiteres. Gelegentlich spürte sie zwar emotionale Erregung, aber innere Stimmen sagten ihr dann bagatellisierende Dinge wie „Das ist doch nichts.“, „Es geht noch viel schlimmer.“, „Das musst du aushalten.“. Nach außen zeigte Frau Berg dann ein Lächeln, das oft nicht adäquat zur Situation Angstregulation bei einer dissoziativen Symptomatik 33 1 | 2021 passte. Dieses Verhalten wirkte sich bald auch in all ihren Therapien (verbale Psychotherapie, Tanztherapie, Osteopathie) negativ aus. Wenn sie sich in den Therapien überfordert und bedroht fühlte und es ihr nicht möglich war, ihre Angst zu zeigen und somit Einfluss auf die Behandlung zu nehmen, trat in oder nach den Sitzungen eine Depersonalisation auf, bei der sie sich abgespalten von ihrem Erleben, sich selbst zuschauend, empfand. Sie benötigte manchmal Tage, um wieder aus dem fragmentierten, realitätsfernen Zustand in die Präsenz zu kommen. In der Tanztherapie geschah dreimal diese Dynamik von Überforderung und Dissoziation, die zutage kam, als ich zu Beginn jeder Sitzung nach Auswirkungen der vorherigen Sitzung fragte. Frau Berg hatte genug Vertrauen zu mir aufgebaut, um den Vorfall jeweils anzusprechen. So konnten wir die Verbindung zwischen der Überforderung in der Therapie und Erfahrungen mit den Eltern reflektieren und die „Reparatur“ der gestörten Einstimmung erarbeiten, indem zunächst ich als Therapeutin genauer nach Anzeichen der Überforderung Ausschau hielt. Doch es wäre nicht im Sinne der Entwicklung und Autonomie der Patientin gewesen, wenn nur ich für die Regulation der Beziehung zuständig gewesen wäre. Infolge dieser Ereignisse vereinbarte Frau Berg mit mir in der hier beschriebenen Sitzung, die Exposition auszusetzen, sich ihrer emotionalen Kompetenz zuzuwenden und diese in den folgenden Sitzungen auszubauen. Dieses Vorgehen entspricht dem spiralen Modell des therapeutischen Prozesses nach van der Hart, Nijenhuis & Steele (2008), bei der die Phasen Stabilisierung, Fertigkeitstraining, Exposition und Neuorientierung sich zyklisch wiederholen, weil die Exposition immer wieder die Notwendigkeit der Stabilisierung oder des Fertigkeitstrainings erforderlich macht. Emotionsregulation in der Tanz- und Körperpsychotherapie bei Traumafolgestörungen Auf der Basis neurobiologischer Forschung sieht van der Kolk (2015) das Ziel effektiver Traumabehandlung in der Vermittlung folgender emotionaler Kompetenzen: ● Interozeptionsfähigkeit und Affekttoleranz ● Modulierung der Erregung ● Nutzung regulierter Emotionen, um effektives Handeln anzubahnen und nach Erfahrungen psychischer oder physischer Ohnmacht den Selbstwert zu regulieren Um diese Ziele zu erreichen, vertreten neurobiologische Ansätze der Ätiologie und Behandlung von Traumafolgestörungen folgende methodische Prinzipien, um die passive Dissoziationsneigung bei Überforderung zu durchbrechen: 1. Aktivierung von Emotionen, vor allem Angst, um traumatische Erinnerungen zu prozessieren (van der Kolk 2015; Schauer / Elbert 2010) 2. Diese Aktivierung sollte in einem optimalen Toleranzfester zwischen Unter- und Überforderung gehalten und das Fenster der Toleranz allmählich erweitert werden (Ogden 2009). 3. Aktivierung der Motorik, um die Selbstwirksamkeit zu erhalten (Schauer/ Elbert 2010) 4. Stimulation für Veränderung muss sich auf die Hirnregion beziehen, die vom Trauma betroffen ist, in diesem Fall die primitivste Region des Gehirns, der Hirnstamm, in einer „Sprache“, die diese Hirnregion versteht, d. h. keine verbale Sprache, sondern Verhalten und Sinneseindrücke mit Wiederholung, Struktur und Rhythmus (van der Kolk 2015; Perry 2006). 5. Das soziale Bindungssystem sollte durch Augenkontakt, Mimik, Spiegelung, Rhyth- 34 Marianne Eberhard-Kaechele 1 | 2021 mus, Prosodie (Sprachmelodie) und im späteren Verlauf die Sprache stimuliert werden, um die reiferen Hirnregionen zu aktivieren und eine Integration der Erfahrung zu ermöglichen (Porges 2010). In der Tanztherapie wird die Laban Bewegungsanalyse (LBA) genutzt, um die Emotionsregulation im Sinne der oben genannten Prinzipien zu fördern (Bender 2020; Eberhard-Kaechele 2009; Trautmann-Voigt/ Voigt 2009). Laban revolutionierte die Tanzwissenschaft, indem er die physikalischen Elemente der Bewegung aus den Bereichen Raum, Zeit, Schwerkraft, Form und Körper abstrahierte und differenzierte (Laban 2003). PionierInnen der Tanztherapie wie Trudi Schoop und Marion North übertrugen dieses Prinzip auf den Umgang mit Emotionen: Ein kategorialer Affekt wie Wut oder Trauer wird in seine Bestandteile gegliedert und jeder Bestandteil getrennt gefördert. Dies ist die Basis eines spezifisch tanztherapeutischen Weges, nicht aufdeckend mit belastenden emotionalen Themen umzugehen (Eberhard-Kaechele 2009; North 1972). Wenn der Umgang der PatientInnen mit den einzelnen Elementen gefestigt ist, kann der komplexe Affektausdruck zusammengesetzt und mit aktueller oder biographischer Bedeutung gefüllt werden. Schoop (Schoop / Mitchell 1974) bemerkte zu diesem Prozess: „Ist es jedoch nicht merkwürdig, dass ich Aktion und Gefühl erst einmal trenne, um letztendlich das ganzheitliche Sein eines Menschen wieder herzustellen? “ (S. 40, Übersetzung durch Autorin) Diese grundlegende Methode der Tanztherapie hat nichts an ihre Aktualität verloren und wurde vor kurzem einer empirischen Überprüfung durch Tsachor und Shafir (2017) unterzogen. Sie konnten zeigen, dass es für die Basisemotionen Wut, Angst, Freude und Trauer spezifische Konstellationen von Laban-Bewegungselementen gibt, die diese Emotionen beim Ausführenden erzeugen und eindeutig identifizierbar sind für Außenstehende. Anhand des Fallbeispiels von Frau Berg erläutern die folgenden Schritte, wie LBA im Sinne der neurobiologischen Traumatherapie in der klinischen Praxis eingesetzt werden kann. Schritt 1: Psychoedukation zur Funktion der Angst Obwohl Frau Berg zu Beginn der Sitzung selbst darum gebeten hatte, an ihrer Angst zu arbeiten, war ihr kurz darauf der Sinn des Unterfangens entglitten- - ich vermutete eine schützende Vermeidungsreaktion. Daher besprach ich mit Frau Berg, welcher Sinn die Aneignung von Angstempfinden und Angstausdruck für sie erfüllen sollte. Die evolutionsbiologische Funktion normaler Angst ist der Schutz des Menschen vor Bedrohungen, und zwar durch die präkognitive Einschätzung der Bedrohungslage und die Aktivierung biologisch verankerter Verhaltensmuster (Holodynski / Oerter 2012). Zu diesen Mustern gehören nach Holodynski & Oerter (2012) sowie van der Hart, Nijenhuis und Steele (2008): 1. Aktive Erstarrung und Wachsamkeit, um Entdeckung zu verhindern 2. Bindungsschreie zum Herbeiholen von Beschützern 3. Flucht und Vermeidung, um der Gefahr zu entkommen 4. Angstausdruck (Schutz- oder Preisgabe- Bewegungen) als soziale Einflussnahme mit Botschaften wie: „Tue mir nichts! “, „Bleib weg von mir! “, „Lasse mich weg von dir! “, „Beschütze mich! “ (Krause 2002; Rudolf 2013) 5. Kampf, wenn kein Entkommen möglich und der Gegner nicht überlegen ist Nur wenn keines dieser aktiven Strategien fruchtet, verläuft die Belastungsbzw. Verteidigungskaskade weiter zu den passiven Strategien (Wendisch 2018; Schauer/ Elbert 2010): Angstregulation bei einer dissoziativen Symptomatik 35 1 | 2021 6. Passive Erstarrung 7. Erlahmen (shut-down) 8. In Ohnmacht fallen In früheren Sitzungen hatte Frau Berg die ersten drei Muster aktiviert, für die aktuelle Situation der Patientin war nun das vierte Verhaltensmuster von besonderem Interesse. Schritt 2: Aufwärmen Um sich auf die Arbeit mit Bewegung einzustimmen und als Ausgangsstabilisierung die Kontrolle über sich zu festigen, wurden Atemübungen und Erdungsübungen angeboten (Eberhard-Kaechele 2015). Die Beziehung zur Therapeutin wurde durch Augenkontakt, freundliche Prosodie in der verbalen Begleitung der Bewegung und Spiegelung der Bewegung (Porges 2010; Koch / Harvey 2012) gefestigt. Alle Bewegungen wurden ruhig, berechenbar, rhythmisch und strukturiert angeboten, auch in den folgenden Schritten. Wie so oft, wenn Frau Berg begann, sich zu bewegen, meldeten sich die Täter-identifizierten Anteile ihrer Persönlichkeit, die behaupteten, sie würde sich durch die Bewegung lächerlich machen, und sie versuchten, die Aktivität zu unterbinden. Diese Anteile wurden gemäß der Methode von Mosquera und Steele (2017) mit Verständnis für ihre Schutzfunktion (die Patientin in ihrer Kindheit vor Erniedrigung zu bewahren) begegnet. Frau Berg wählte Requisiten, die die Anteile repräsentierten, und ich lud sie ein, die Sitzung von einer sicheren Stelle aus zu beobachten und in der Realität zu prüfen, ob eine Erniedrigung stattfindet oder nicht. Schritt 3: Motorische Dekonstruktion und Regulation der Emotion In diesem Schritt wurden einzelne Bewegungselemente, die mit Angst assoziiert werden, rein funktional/ abstrakt erprobt. Jede Angst-affine Bewegung wurde im Wechsel mit seinem Gegenpol als Regulationsmöglichkeit durchgeführt. Dies entspricht dem von Linehan (2014) propagierten „entgegengesetzten Verhalten“ als Technik der Emotionsregulation. Folgende Elemente wurden angeboten: verschmälern vs. verbreitern, angespannt/ gebunden vs. frei fließend, plötzlich vs. zögerlich, agitiert vs. ruhig, rückwärts vs. vorwärts. Diese Modalitäten entsprechen im Wesentlichen den von Shafir, Tsachor und Welch (2016) empirisch belegten einzigartigen Bewegungsmerkmale der Emotion Angst. Gemäß dem neurosequenziellen Ansatz von Perry (2006) und Porges (2010) wurde der Hirnstamm durch Wiederholung, Spiegelung und Rhythmus angesprochen. Erst im Anschluss wurden später entwickelte Hirnareale wie der präfrontale Kortex durch Sprache aktiviert und die Interozeption gefördert, indem ich Frau Berg bat, die Körperempfindungen bei den einzelnen Bewegungsqualitäten wahrzunehmen und zu beschreiben. Schritt 4: Valenz erkunden Nachdem es gelungen war, die funktionale Bewegung durchzuführen, wurde die Patientin gebeten, die Bewegungsqualitäten zu wiederholen und diesmal nachzuspüren, welche Bewegungsmerkmale eine Tendenz zu einer emotionalen Valenz hatten, also ein eher positives, sicheres oder ein negatives, ängstliches Gefühl bei der Ausführung erzeugten. Frau Berg konnte einen Unterschied bei den jeweiligen Polen der Bewegung spüren, was sie zuversichtlicher machte, ihren Ausdruck zu finden. Am deutlichsten spürte sie Anflüge von Angst bei plötzlichen, angespannten und verschmälernden Bewegungen. Frau Berg erlebte, dass sie Emotionen selbst generieren und durch spezifische Bewegungen, neben der vertrauten Unterdrückung ihrer Emotionen, eine neue Form der Kontrolle finden konnte. Schritt 5: Rekonstruktion und Regulation der Emotion durch Kombinieren Allmählich wurde die Affekttoleranz gesteigert, indem Frau Berg erst ein, dann zwei und 36 Marianne Eberhard-Kaechele 1 | 2021 dann drei Merkmale, die für sie eine Angstvalenz hatten, bei der Bewegung kombinierte (Tsachor / Shafir 2017). Die fertige Kombination von plötzlich, angespannt und verschmälern war ihr Ausdruck für den kategorialen Affekt der Angst, der seinerseits das emotionale Erleben intensivierte. Die gefundene Ausdrucksbewegung sollte als nächstes in ihrer Intensität variiert und durch Gegenbewegungen wieder neutralisiert werden. Während es ihr gelang, plötzliche durch getragene und verschmälernde durch verbreiternde Bewegung zu neutralisieren, konnte Frau Berg die Spannung und Gebundenheit in ihrem Körper nicht ohne Weiteres im freien Bewegungsfluss lösen. Ein kindlicher Anteil war durch die Spannung aktiviert worden. Gemeinsam mit der Therapeutin erforschte Frau Berg, welche Bewegungen die Spannung und die Angst lindern und ausgleichen konnten. Langsames Ausatmen, rhythmische Schüttelbewegungen und indirekte Gesten, die mit Drehungen der Gelenke einhergingen, beruhigten den kindlichen Anteil und brachten die gewünschte Lösung der physischen und psychischen Spannung. Nach weiterem Üben konnte die Patientin als erwachsene Person kontrolliert und selbstbestimmt die Angst generieren, ausdrücken und anschließend die Erregung wieder abbauen. Diese Abfolge entspricht dem Konzept der Emotion als Körperprozess (Eberhard-Kaechele 2016; Geuter / Schrauth 2001). Schritt 6: Bezug herstellen zu einem Auslösereiz Nun war Frau Berg in der Lage, ihre Angst in Bezug zu einem konkreten Reiz zu setzen. Da sie laute Geräusche mit beängstigenden Erfahrungen durch die Mutter verband, bot es sich an, mit Geräuschen als Reiz zu arbeiten. In Abstimmung mit der Patientin sammelte ich diverse Medien und stellte mich mit diesen in eine Nische in der Praxis außerhalb vom Sichtfeld von Frau Berg. Da sie nicht wusste, was ihr als nächstes begegnen würde, simulierten wir eine unberechenbare Situation. Nacheinander warf ich Gegenstände in den Raum, die einen akustischen und einen visuellen Reiz boten, auf den Frau Berg zunächst undifferenziert mit ihrer Angstbewegung reagieren konnte. Schritt 7: Kontextuelle Differenzierung Beim Üben stellte die Patientin fest, dass die Gegenstände unterschiedlich laute Geräusche beim Aufprall machten. Bei großen, lauten Gegenständen wie ein Stein oder Balancekreisel erschreckte sie tatsächlich. Bei Plüschtieren oder Papierbälle hingegen erfolgte nach wenigen Wiederholungen keine Schreckreaktion ihres Körpers mehr, und Frau Berg musste über ihre übertriebene Erwartungshaltung (Hyperwachsamkeit) lachen. Daraufhin verzögerte Frau Berg ihre Reaktion und differenzierte bewusst ihren Ausdruck passend dazu, ob das Geräusch und die Gestalt eines Gegenstands beängstigend waren oder nicht, und passte auch die Gegenbewegungen an, um die Erregung wieder loszulassen. Dieser Schritt markiert die Beteiligung des Frontalhirns an die Situationsbewältigung: Statt reflexartig auf die Gegenstände zu reagieren, wurde die Fähigkeit zu einer Analyse der Situation und eine funktionale Dämpfung der Spontanreaktion aktiviert (Wendisch 2018). Schritt 8: Symbolisierung Aus dieser Situation der Selbstwirksamkeit heraus konnte Frau Berg assoziieren, dass die Nische, aus der die Gegenstände hervorgepurzelt kamen, der Ort war, wo sie in einer früheren Expositionssitzung die verletzten Kind-Anteile aus dem Blickfeld auf sichere Distanz zu sich gebracht hatte. Sie konnte die Gegenstände jetzt symbolisch betrachten und aus dem Umgang mit ihnen Erkenntnisse über ihre Persönlichkeitsanteile gewinnen. Sie konnte letztere differenzierter sehen: Manche trugen gute Erinnerungen, manche nur Schreckliches, das sie jeweils anders behandeln konnte. Und sie konnte sich distanzieren und die Symbole wie- Angstregulation bei einer dissoziativen Symptomatik 37 1 | 2021 der hinter den Sichtschutz bringen, wenn sie es wollte. Schritt 9: Reflexion In der abschließenden Reflexion sagte Frau Berg, dass es sie nach Jahren der Emotionsunterdrückung und des „Sich-nichts-anmerken- Lassen“ am meisten beeindruckt hatte zu erleben, wie ihr Körper spontan reagieren und sich anschließend wieder abreagieren konnte. Ein wenig Vertrauen in ihren Körper keimte auf sowie das Gefühl, nicht irreparabel beschädigt zu sein. Die Täter-identifizierten Anteile waren die ganze Zeit ruhig geblieben, was Frau Berg als Zustimmung zum vollzogenen Prozess auffasste. Wir dankten den Anteilen, für die Kooperation und Frau Berg räumte die Requisiten wieder weg. Für künftige Sitzungen wurde vereinbart, Schritt 10, den interpersönlichen Einfluss des Ausdrucks, zu erproben, um dann Schritt 11, den Transfer in den Alltag, anzubahnen. Nachgang Frau Berg war sehr engagiert und begann in den nächsten Wochen selbständig, den Transfer ihrer Erfahrungen aus der Sitzung in den Alltag zu testen. Es gelang ihr einige Male, ihre Angst oder Überforderung gegenüber anderen zu zeigen und je nach deren Reaktion die weitere Beziehung zu gestalten. Unter anderem trennte sie sich von einer Betreuungsperson, die ihre Toleranzgrenzen für Angst und Herausforderung nicht respektierte, und sammelte bei Ehemann, Kindern und engen Freunden positive Erfahrungen des respektvollen Umgangs anderer mit ihrer „Schwäche“ der Angst. In der Tanztherapie lag nicht mehr allein bei mir als Therapeutin die Verantwortung für Überforderungssituationen, sondern die Patientin konnte ihren Anteil dazu beitragen, eine Störung in der Beziehung in der gleichen Sitzung zu klären. Diese gegenseitige „Reparatur von Brüchen“ entspricht der entwicklungspsychologischen Vorgehensweise nach Schore (1994) und Wöller (2018), welches die Bindungsfähigkeit nicht durch störungsfreie Interaktion stärkt, sondern durch den Aufbau von Vertrauen in die Bewältigung von Störungen und Krisen, die sich auch bei achtsamem Umgang niemals ganz ausschließen lassen. Fazit Frau Berg hatte zwar kein Königreich, wie in dem oben erwähnten Märchen, aber etwas mehr Lebensqualität und Sicherheit aus der Fähigkeit gewonnen, sich sichtlich zu fürchten. Das schrittweise Vorgehen nach der LBA ermöglichte eine schonende Erweiterung ihrer Kompetenz ohne eine Retraumatisierung und Zementierung der Dissoziation und adressierte mehrere ihrer Therapieziele. An dieser Stelle möchte ich „Frau Berg“ danken für die Bereitschaft, ihre Erfahrungen als Fallbeispiel für diesen Artikel zur Verfügung zu stellen. Sie und ich hoffen, dass die Leser durch diese Sitzungsbeschreibung Anregungen für die Förderung der Emotionsregulation in der Praxis gewinnen können. Literatur Bender, S. (2020): Grundlagen der Tanztherapie. Psychosozial, Gießen Eberhard-Kaechele, M. (2016): Emotion is motion: Improving emotion regulation through movement intervention. European Psychotherapy 13, 25-49 Eberhard-Kaechele, M. (2015): Mutmacher: Methodische Ansätze der Bewegungs-therapie bei Angststörungen im Kindes- und Jugendalter. In: Deimel, H., Thimme, T. (Hrsg.): Brennpunkte der Sportwissenschaft: Bewegungs- und Sporttherapie bei psychischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters. Akademia Verlag, Sankt Augustin, 143-159 38 Marianne Eberhard-Kaechele 1 | 2021 Eberhard-Kaechele, M. (2009): Heimkehr zu sich selbst: Affektregulation und Selbstvertrauen nach Traumatisierung. In: Moore, C., Stammermann, U. (Hrsg.): Bewegung aus dem Trauma. Traumazentrierte Tanz- und Bewegungspsychotherapie. 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Dozentin an der Deutschen Sporthochschule Köln am Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation. Eigene Praxis für Tanz- und Ausdruckstherapie. ✉ Dr. rer. medic. Marianne Eberhard-Kaechele Abteilung Neurologie, Psychosomatik, Psychiatrie Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation Deutsche Sporthochschule Köln Am Sportpark Müngersdorf 6 | D-50933 Köln m.eberhard-kaechele@dshs-koeln.de
