eJournals körper tanz bewegung 9/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2021.art18d
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Das Entwicklungs- und Heilungsmodell in der Pesso-Therapie (PBSP)

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Leonhard Schrenker
Dargestellt werden das Entwicklungs- und Heilungsmodell der Pesso-Therapie im Kontext gravierender Defizite der frühen menschlichen Entwicklung, deren Auswirkungen auf Störungen im Erwachsenenalter und die Grundzüge der therapeutischen Arbeit damit. Dabei erfolgt eine Klärung des Form-Passform-Modells, des Microtrackings und des Ablaufs der therapeutischen Arbeit. Erläutert wird auch das Primat der Selbststeuerung des therapeutischen Prozesses durch die KlientInnen: das Konzept der Möglichkeitssphäre und der Idealen Eltern als Kernstück der Verinnerlichung einer neuen heilenden Erfahrungsgeschichte.
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Fachbeitrag 128 körper-- tanz-- bewegung 9. Jg., S. 128-141 (2021) DOI 10.2378/ ktb2021.art18d © Ernst Reinhardt Verlag Das Entwicklungs- und Heilungsmodell in der Pesso-Therapie (PBSP) Leonhard Schrenker Dargestellt werden das Entwicklungs- und Heilungsmodell der Pesso-Therapie im Kontext gravierender Defizite der frühen menschlichen Entwicklung, deren Auswirkungen auf Störungen im Erwachsenenalter und die Grundzüge der therapeutischen Arbeit damit. Dabei erfolgt eine Klärung des Form-Passform- Modells, des Microtrackings und des Ablaufs der therapeutischen Arbeit. Erläutert wird auch das Primat der Selbststeuerung des therapeutischen Prozesses durch die KlientInnen: das Konzept der Möglichkeitssphäre und der Idealen Eltern als Kernstück der Verinnerlichung einer neuen heilenden Erfahrungsgeschichte. Schlüsselbegriffe Pesso-Therapie, Grundentwicklungsbedürfnisse, Form- Passform-Modell, Möglichkeitssphäre, Microtracking, Zeugenfigur, Ideale Eltern The Developmental and Healing Model of Pesso-Therapy The developmental and healing model of Pesso-Therapy is presented in the context of major deficits in early human development, their effects on disorders in later stages of life and the basic principles of therapeutic work. In doing so, the shape-countershape model, microtracking and the process of the therapeutic work are explained. The primacy of the self-determination of the therapeutic process by the client, the concept of the Possibility Sphere and the concept of Ideal Parents as the core of the internalization of a new healing experience are also elucidated. Key words Pesso-therapy, basic developmental needs, shape-countershape model, possibility sphere, microtracking, witness figure, ideal parents A lbert Pesso und seine Frau Diane Boyden Pesso waren ursprünglich Trainer für modernen Ausdruckstanz und hatten ein sehr bekanntes Trainingsinstitut in der Nähe von Boston. Anfang der 1960er Jahre erfolgte schrittweise die Entwicklung hin zur körperorientierten Psychotherapie. Eine sehr fundierte Darstellung zur historischen Entwicklung dieses ganzheitlichen Therapieverfahrens findet sich in Ausgabe 4 / 2020 dieser Zeitschrift (Wirth 2020). In enger Zusammenarbeit mit ihren Trainingsgruppen entwickelten die Pessos schrittweise das, was später zentraler Bestandteil des Entwicklungs- und Heilungsmodells der Pesso-Therapie wurde, das Konzept von Form-- Passform: Jeder emotional-körperliche Ausdruck (die Form) braucht ein interaktionelles Reaktionsmuster als stimmige Antwort (die Passform), so dass das darin enthaltene körperlich-emotionale Bedürfnis in befriedigender Weise erfüllt wird. Im zunehmenden Experimentieren mit diesem Konzept Das Entwicklungs- und Heilungsmodell in der Pesso-Therapie 129 3 | 2021 erlebten sie immer wieder, dass die Menschen im Anschluss an solch stimmige Interaktionserfahrungen tiefe Gefühle von Zufriedenheit und Ruhe erlebten. In den darauffolgenden Jahren seiner Hinwendung zur Psychotherapie beschäftigte sich Pesso zunehmend mit fachspezifischen Fragen unterschiedlichster psychotherapeutischer Richtungen, arbeitete jahrelang mit psychiatrischen Kliniken zusammen und adaptierte dieses gruppentherapeutische körperorientierte Verfahren immer stärker an die Notwendigkeiten dessen, was Menschen brauchen, um auch schwerwiegende psychische Störungen konstruktiv behandeln zu können. Dabei entwickelte er auch neurowissenschaftliche Konzepte, die für diese therapeutische Arbeit von wichtiger Bedeutung waren (Pesso 2005) und ein Modell über die Entstehung und Behandlung von Störungen, basierend auf entwicklungspsychologischen Überlegungen für unsere frühe interaktionelle Geschichte (Schrenker 2018). Er widmete sein ganzes Leben der Weiterentwicklung dieses Verfahrens und trainierte PsychotherapeutInnen auf internationaler Ebene bis kurz vor seinem Tod im Mai 2016. Sein therapeutisches Verfahren wurde von ihm als Pesso-Boyden-System-Psychomotor (PBSP) bezeichnet; ich verwende den von Tilman Moser geprägten Begriff „Pesso-Therapie“, der sich im deutschsprachigen Raum dafür eingebürgert hat. Pesso-Therapie als therapeutisches Modell der Entwicklung und Reifung Grundlage seines therapeutischen Entwicklungsmodells ist die Annahme, dass der Kern des Lebens (die befruchtete Eizelle) eine tiefe Kraft in sich trägt, sich in allen Aspekten seines Seins entwickeln und entfalten zu wollen: „[…] wir sind randvoll mit Informationen, Leidenschaften und Trieben, und dies möchte ich unser ‚evolutionäres Gedächtnis‘ nennen. Wir werden mit einer Art genetischer Seele geboren, wenn Sie es so wollen. Wir verfügen über ein unglaubliches Archiv, diesen Schatz des Seins, der aus Herzenskräften danach strebt, zu leben, sich zu erfüllen, er selbst zu werden […]“ (Pesso 2008, 45). Diesen Kern sieht Pesso als die Grundlage des Wahren Selbst, das als Erinnerungsspur in uns immer erhalten bleibt, auch dann, wenn wichtige Aspekte davon nicht entwickelt oder integriert werden konnten. Für ihn ist das Wahre Selbst „Teil unseres evolutionären Gedächtnisses, das weit über unser individuelles Sein hinausgeht: […] [in dem] nicht nur die Geschichte der Menschheit enthalten ist, sondern auch die Vorbestimmung dessen, wer du werden wirst dank deiner genetischen Organisation, der Gene, die du von deinen Eltern geerbt hast. Das treibt uns an. Nun entnehmen wir daraus nicht nur unsere persönlichen Antriebe, sondern es ist auch eine Fülle von Informationen über Abfolgen, Reifungsprozesse, Erwartungen an das Leben enthalten.“ (Pesso 2008, 45) Pesso geht davon aus, dass unsere Wahrnehmung der Menschen wie auch der Welt, die damit verbundenen inneren Zuschreibungen, emotionalen Muster und Reaktionen immer geprägt sind durch den Filter unserer entwicklungsgeschichtlichen Erfahrungen (Prägungen): Im Hier und Jetzt ist immer das Damals enthalten. Es scheint uns selbstverständlich, dass dies für die „banalen Realitäten“ unseres Alltags gilt: Wir wissen, was ein Tisch oder ein Stuhl ist, ob wir die spezielle Art seiner Machart mögen oder nicht; wir wissen, wie wir mit Besteck oder einem bestimmten Werkzeug umgehen, weil wir das ausreichend gelernt haben. Meist denken wir nicht einmal darüber nach, während wir diese Gegenstände benutzen, weil es uns selbstverständlich ist. Die meisten Menschen haben eine Vorliebe für bestimmte Landschaften in sich. Es kann sein, dass sie darüber an ihre Heimat erinnert werden, in der sie sich wohl fühlten. Es könnte aber auch sein, dass in dieser spe- 130 Leonhard Schrenker 3 | 2021 ziellen Landschaft etwas steckt, nach dem sie sich immer gesehnt haben, wie die Offenheit und Weite des Meeres, mit dem sie das Gefühl von Freiheit assoziieren. Das Gleiche gilt dabei, wie wir andere Menschen wahrnehmen: ihr Aussehen, ihre Art zu sein bzw. ihre Reaktionsmuster. Der Ursprung der damit verbundenen inneren Zuschreibungen und emotionalen Reaktionen ist uns meistens gar nicht bewusst. Darin stecken frühe lerngeschichtliche Prägungen, die unbewusst assoziativ wirken und körperlich-emotionale Reaktionsmuster in uns auslösen. Unser sogenanntes Körpergedächtnis spielt dabei eine wesentliche Rolle. Im Verständnis von Pesso stellt unser Körper eine Bühne dar, auf der die Emotionen „tanzen“. Treten sie in unser volles Bewusstsein, nehmen wir sie als Gefühle wahr. Ansonsten bleiben sie nur sehr kurz in unserem emotionalen Erleben als sogenannte Mikroemotionen (Kuhl 2010) und werden von der nächsten situativ-emotionalen Assoziation abgelöst. In der Pesso-Therapie dient das Verfahren des Microtrackings (Bachg 2005) dazu, die im Körpergedächtnis gespeicherten Links zu emotional bedeutsamen Prägungen, ähnlich den somatischen Markern der Neurobiologie, zu lesen und sie dem fühlenden Bewusstsein der KlientInnen zugänglich zu machen. Sie bilden das emotionale und assoziative Tor zu signifikanten Prägungen unserer Lerngeschichte (Historische Szenen). Im übertragenen Sinne könnte man sagen, dass sie wie alte unbewusste Programmierungen wirken, die unsere aktuelle Wahrnehmung, unsere inneren Zuschreibungen und unsere körperlich-emotionalen Reaktionsmuster im Hier und Jetzt steuern. Dieses Microtracking begleitet auch den weiteren therapeutischen Prozess und gewährleistet, dass jeder therapeutische Schritt der bewussten Steuerung des / der KlientIn unterliegt. Pesso hat für diese Instanz unseres fühlenden, begreifenden und verstehenden Bewusstseins den Begriff des „Piloten“ geprägt. Die Aufgabe der Pesso-TherapeutIn ist es zu gewährleisten, dass dieser Pilot der KlientIn ständig aktiviert ist, um unerwünschte Regression (bzw. Retraumatisierung) zu vermeiden und die bewusste Steuerungsfähigkeit des / der KlientIn aktiv zu halten. Dies trägt auch beim bewussten Erinnern prägender historischer Szenen und der damit verbundenen Gefühle dazu bei, dass die Gefahr unerwünschter Regression sehr gering ist. In diesen Erinnerungen unserer Kindheit steckt implizit auch die Sehnsucht nach dem, was wir damals von den daran beteiligten Bezugspersonen gebraucht hätten. Diese Sehnsucht nutzt die Pesso-Therapie, um zu der Form der ausgedrückten Emotion eine stimmige Passform zu entwickeln: In der Trauer, von der realen Mutter nicht ausreichend gesehen und angenommen worden zu sein, steckt auch das Verlangen nach einer Mutter, die mich wirklich sah und so geliebt hätte, wie ich war. Eine ganz andere „neue“ Mutter (Pesso entwickelte dafür den Begriff der „Idealen Mutter“), die mich wohlwollend gesehen hätte und für deren Liebe ich als Kind nichts hätte tun müssen, die in selbstverständlicher Weise für mich da war. Dies umschreibt das heilende interaktionelle Gegenbild, mit dem der / die erwachsene KlientIn gegen Ende des therapeutischen Prozesses in der erlebten inneren Vorstellung eines neuen Kindseins (Kreieren einer neuen „heilenden“ Vergangenheit, an die man sich später wieder erinnern kann) das erleben und in sich aufnehmen kann, was er / sie damals gebraucht hätte. Die damit verbundene therapeutische Sitzung des Einzelnen (Struktur genannt) innerhalb einer Gruppe könnte folgendermaßen charakterisiert werden: ● Der / die KlientIn (die Zentrale Person, womit das Primat der Steuerung betont wird) beginnt die Struktur mit dem, was er / sie aktuell in sich trägt: Dies kann ein ihn / sie bedrängendes Symptom sein, aber auch das, was sich gerade in dem Moment emotional in sei- Das Entwicklungs- und Heilungsmodell in der Pesso-Therapie 131 3 | 2021 nem / ihrem Körper aktualisiert, wenn er / sie seinen / ihren Platz zur therapeutischen Arbeit einnimmt. ● Durch die für den / die KlientIn stimmige Benennung der mit diesem Thema assoziierten Mikroemotionen (eine wesentliche Aufgabe des Microtrackings) werden sie als Gefühle bewusst (Aktivierung des Piloten), was sich im deutlich veränderten emotionalen Ausdruck des / der KlientIn wiederspiegelt. Bestandteil dieser sogenannten Zeugenbotschaft ist auch die stimmige Benennung des kontextuellen Auslösers (z. B. die von dem / der KlientIn berichtete Erinnerung, die mit dem Auftreten dieser Gefühle verbunden war). Tritt beides ins volle fühlende und begreifende Bewusstsein, stellt sich darüber oft der assoziative Link zu lerngeschichtlich prägenden Schlüsselszenen (Historische Szenen) ein. Die Erinnerungen an spezifische historische Interaktionsszenen werden in der Pesso-Therapie mit sogenannten Platzhaltern auf den Boden des therapeutischen Raums gebracht. Sie stellen kein Symbol für die jeweilige Person dar, sondern repräsentieren die vollständige neurologische „Datenbank“ der Zentralen Person, die sie aufgrund ihrer subjektiven Erfahrungsgeschichte mit der jeweiligen Person in sich trägt. Sie beinhaltet also nicht nur die gerade erinnerte aktuelle Erfahrung, sondern auch alle anderen, die sie mit dieser Person jemals subjektiv erlebt hat und in sich trägt. Im Pessoschen Verständnis reduziert dieser klare Verweis auf die Bedeutung der Platzhalter die Gefahr szenischer Reinszenierung bei der Zentralen Person. Ein weiterer Bestandteil des Microtracking besteht in der Benennung bzw. Externalisierung von Stimmen, die als normative Muster oder auch als Schutzstrategien im Kontext der historischen Szene verinnerlicht wurden, um nicht erlaubte oder bedrohliche Gefühle unter Kontrolle zu bringen. ● In der emotionalen Bearbeitung der Historischen Szene steckt nicht nur die Trauer über das, was gefehlt hat, sondern auch die Sehnsucht nach dem, was der / die KlientIn damals als Kind stattdessen gebraucht hätte. ● Über den Schritt der positiven Umkehrung wird aus dieser Sehnsucht heraus- - in enger Kooperation mit der zentralen Person- - das heilende Gegenbild (Pesso nennt dies „Antidot“) kreiert: das Erleben einer völlig neuen interaktionellen Geschichte, in der als Passform eine ausreichende und zufriedenstellende Erfüllung der Grundbedürfnisse erfolgt, die damals nicht gewährleistet war. ● Mit diesem letzten Schritt, der passenden Ausgestaltung des Antidots und dessen Verankerung auf der körperlich-emotionalen Ebene, findet die Struktur ihren Abschluss, wobei die KlientInnen dabei einen inneren Zustand von tiefer Ruhe und Zufriedenheit erleben. ● Neben der Verankerung des heilenden Gegenbildes mit der neuen Kindheitsgeschichte kann auch ein innerer Transferschritt zum Anfangsthema erfolgen: Welche neuen Perspektiven für das Hier und Jetzt der eigenen Wahrnehmung und Reaktionsmöglichkeiten können sich daraus ergeben? ● Anschließend erfolgt das Entrollen der GruppenteilnehmerInnen, die direkt oder unterstützend in Rollen an der Struktur beteiligt waren, und ein Teilen von Gefühlen aller Gruppenmitglieder, mit denen sie während der Struktur in Berührung kamen. Dieses „Sharing“ ist eine Einladung / Option (kein Muss) an alle Gruppenmitglieder, ihre Gefühle und Erkenntnisse zu benennen, die die vergangene Struktur bei ihnen berührt hat, und mit der Gruppe zu teilen-- wenn sie das möchten. Dies wird nur mit der Gruppe geteilt, die Zentrale Person wird dabei nicht angesprochen und bleibt währenddessen innerlich bei sich und ihrer Verankerung. Der hiermit dargestellte therapeutische Prozess wird in Abb. 1 bildlich veranschaulicht. 132 Leonhard Schrenker 3 | 2021 Das entwicklungspsychologische Modell von Pesso Um das, was Pesso als unser Wahres Selbst definiert hat, in einer guten Weise in unserer Kindheit und Jugend entwickeln und integrieren zu können, brauchen wir von Anfang an Bezugspersonen, die uns in unseren Bedürfnissen wahrnehmen und darauf in liebevoller und stimmiger Weise antworten. Stern (2007) hat in seinen Untersuchungen zur Säuglingsinteraktion mit ihren Müttern nachgewiesen, dass Säuglinge ihre Bedürfnisse bereits als Neugeborene deutlich signalisieren. Erkennen die primären Bezugspersonen diese Signale in stimmiger Weise und reagieren sie darauf bedürfnisadäquat, erfahren die Kinder immer wieder lösende und beruhigende Erfahrungsmomente im Sinne ihrer Bedürfnisbefriedigung. Im übertragenen Sinne lernen sie so im Interaktionsgeschehen auf einer fundamentalen, emotional-körperlichen Ebene die Selbstwirksamkeit ihrer Muster (Bandura 1997), was ihnen ermöglicht, für ihre Bedürfnisse einzutreten. Darüber verstärkt sich von Anfang an das angeborene Potential, diese Bedürfnisse zu signalisieren und im emotional-körperlichen Ausdruck zu zeigen. Pesso spricht in diesem Zusammenhang von der Ausdrucks-„Form“, und die stimmige Antwort in der Interaktion wird, wie bereits erwähnt, als Passform bezeichnet. Erleben Säuglinge jedoch häufig, dass die Mütter oder Väter ihre Signale nicht richtig zu deuten wissen und darauf in einer Weise reagieren, die dem zugrundeliegenden Bedürfnis konträr ist, so reagieren sie irritiert und unsicher. Bei fortschreitendem Verlauf tendieren sie zu frühen Mustern der Selbstaufgabe. Sie hören auf, ihre Bedürfnisse aktiv zu signalisieren. Im übertragenen Sinn könnte man sagen, dass sich in ihrem frühen Selbst ein Erfahrungskern bildet gemäß der Grundüberzeugung, dass es wenig Sinn macht, für eigene Bedürfnisse aktiv zu Abb. 1: Schema zum therapeutischen Ablauf (Schrenker 2019, 134) Gegenwart des Hier und Jetzt Vergangenheit Historische Szene Beginn der Therapiesitzung: PatientIn schildert aktuellen Konflikt Mikroemotionen bilden den Link zur prägenden Geschichte Alte Geschichte des Kindes: lerngeschichtlich prägende dysfunktionale Interaktionsmuster Transfer zum Ausgangskonflikt: Gibt es im Blick darauf eine neue innere Perspektive? Neue Geschichte des Kindes: Heilende Gegenerfahrung mit Idealen Eltern (Form-Passform) Neue Perspektive Antidot-Szene Das Entwicklungs- und Heilungsmodell in der Pesso-Therapie 133 3 | 2021 werden. „Vor allem seelische Verletzungen, die während der frühen Entwicklung mit dem Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit, Ablehnung und Entwertung einhergehen, werden auf diese Weise sehr nachhaltig ‚verkörpert‘.“ (Hüther 2011, 91) Als eine der notwendigen Voraussetzungen für einen optimalen Entwicklungsprozess postuliert Pesso die weitgehend stimmige Befriedigung von fünf Grundbedürfnissen (Schrenker 2008) in unserer kindlichen Entwicklung, die im Folgenden kurz erläutert werden. Dabei definiert er den Beginn unserer Existenz als den Moment, in dem Ei und Samenzelle verschmelzen. Platz: Der englische Begriff „place“ verweist auf die Gebärmutter, in die sich das befruchtete Ei einnistet, diesen uranfänglichen Platz, in dem das Sein des Kindes von Anfang an in guter und stimmiger Weise definiert ist. Dieser Platz wird durch ein Elternpaar möglich, das in liebevoller Weise miteinander verbunden ist, sich ein Kind wünscht und auch über gute äußere Rahmenbedingungen verfügt, in die das Kind geboren wird und wo es gut versorgt aufwachsen kann. Dies geschieht nicht nur in konkreter (unmittelbar körperlicher) Weise, sondern auch auf symbolischer Ebene, wenn diese Eltern bereits von Beginn der Schwangerschaft an eine liebevolle Verbundenheit mit dem Kind in sich tragen; für das sie in ihrem Herzen einen Platz haben, egal was geschieht. Diese wiederkehrende Erfahrung vermittelt dem Kind ein tiefes Gefühl von Liebe und Zugehörigkeit. Gleichzeitig wächst das Vertrauen in die Sicherheit und Wiederholbarkeit des Gefühls von Verbundenheit sowie die Gewissheit, das auch im erwachsenen Leben finden zu können. Diese kurze Darstellung umschreibt die ersten beiden grundlegenden Ebenen der Bedürfnisbefriedigung, die für die frühe kindliche Entwicklung von Bedeutung sind. Pesso hat dazu insgesamt drei Stadien definiert (Pesso / Boyden-Pesso 1994): Die erste ist primär geprägt durch die konkrete und unmittelbare körperliche Interaktion, wie Säuglinge und Kleinkinder sie brauchen: unmittelbar und konkret getragen, gehalten, genährt und geschützt zu werden. All diese elterlichen Handlungsmuster müssen eingebettet sein in liebevolle Interaktion, die das zweite darauf aufbauende Stadium einleitet. Die symbolische Ebene: der liebevolle Blick, Worte der liebevollen Verbundenheit usw. Das Erleben und die Integration der Erfahrungen beider Ebenen sind Voraussetzung, dass ein Kind sich in seinem eigenen Körper zu Hause und in sich wohl fühlen kann und später im Leben auch einen Platz in der Welt für sich findet, an dem es sich wohl, verbunden mit sich und den Menschen fühlen kann. „Die konkrete Erfahrung von Platz hinterlässt im Kind das Gefühl, im eigenen Körper daheim zu sein, nachdem es im Körper der Mutter daheim war. Indem das Kind einen metaphorischen Platz im Geiste der Mutter hat, kann es auch ein Bild seines Selbst im eigenen Geiste bilden, internalisieren und kann sich bei sich zuhause fühlen, indem es ein geistiges Bild seiner eigenen Identität hat.“ (Pesso 2008, 50) Die Entwicklung der Fähigkeit, sich im erwachsenen Leben in guter Weise versorgen zu können (Selbständigkeit als dritte Entwicklungsstufe), setzt also eine weitgehend stimmige Befriedigung der Grundbedürfnisse auf den früheren Interaktionsebenen voraus. Die damit verbundene positive interaktionelle Erfahrungsgeschichte der erfolgten Befriedigung unserer Grundbedürfnisse bildet eine innere Ressource, auf die wir in unserer Selbstfürsorge zurückgreifen können. Insoweit wird auch verständlich, warum es bei entwicklungsgeschichtlich frühen Störungen (unmittelbare körperliche Erfahrungen-- Sprache noch nicht so bedeutsam) notwendig ist, das Erleben des Körpers mit in den therapeutischen Prozess einzubeziehen. Wenn wir grundlegende Defizite auf der unmittelbar körperlichen Ebene in uns tragen, sind Worte allein oft zu wenig: Wir 134 Leonhard Schrenker 3 | 2021 brauchen im therapeutischen Nachreifungsprozess die unmittelbare körperlich-symbolisierte Erfahrung in der Zeit und in dem Beziehungskontext, in dem das, was damals gefehlt hat, nachträglich symbolisch heilend erlebt, integriert und verankert werden kann. Nahrung: Hierbei geht es um das zweite basale Grundbedürfnis in unserer frühen Entwicklung. Auf konkreter körperlicher Ebene bedeutet dies, dass der Säugling in liebevollen Interaktionen nur dann genährt wird, wenn er hungrig ist, und nicht mehr bekommt, als er braucht. Wie in den Ausführungen zu Stern bereits erwähnt, setzt dies voraus, dass seine primären Bezugspersonen seine diesbezüglichen Signale (die Form des Ausdrucks) stimmig wahrnehmen: Sie erkennen, wann der Säugling unruhig wird oder greint, weil er hungrig ist, stillen bzw. füttern ihn in hingebungsvoller Weise und haben auch ein Gespür dafür, wann er satt ist (bieten dafür die Passform). In der Pesso-Therapie sprechen wir unter dieser Voraussetzung vom Form-Passform-Modell von Interaktion (Schrenker 2008). Genährt zu werden bedeutet auf symbolischer Ebene, dass das Kind immer wieder erlebt, dass diese Eltern seine Gefühle und sein Handeln auf emotional liebevolle und achtsame Weise durch Mimik, Gestik und vor allem auch durch Sprache begleiten. All diese wiederkehrenden stimmigen Interaktionsmuster nähren das spätere Selbstwertgefühl des Kindes auf konkreter wie auch symbolischer Ebene. Diese Zusammenhänge gelten natürlich auch für alle anderen wichtigen Bezugspersonen, die das Kind in seiner weiteren Entwicklung betreuen (KindergärtnerInnen, LehrerInnen usw.). Unterstützung: Der neugeborene Säugling ist der Schwerkraft, die für ihn eine lebensbedrohliche Kraft darstellt, hilflos ausgeliefert. Er braucht primäre Bezugspersonen (vor allem Eltern), die ihn halten, tragen und ihm mit dieser unmittelbaren körperlichen Unterstützung Halt, Sicherheit und Stabilität geben. Solange er sehr klein ist, wirkt diese Unterstützung primär über das Gesäß, die Entlastung der Muskulatur des Rückens und den Halt von Nacken und Kopf. Erst später, wenn die neurologische und muskuläre Reifung und Entwicklung so weit entwickelt ist, dass die Muskulatur das eigene Körpergewicht trägt und ausbalanciert, kann das Kleinkind selbst stehen und laufen. Ab diesem Zeitpunkt braucht es die Unterstützung seiner primären Bezugspersonen vor allem in symbolischer Weise: indem sie ihm nur so viel und genau die Art von Unterstützung geben, die das Kind braucht (Passform), um seine (Lern-)Schritte selbständig vollziehen zu können. Auf der sprachlich-symbolischen Ebene schlägt sich dies z. B. nieder durch Sätze wie: „Wir sind da, wenn du uns brauchst“, „Wir stehen hinter dir“, „Wir haben das Vertrauen, dass du diesen Schritt gehen kannst“. An diesem Beispiel wird noch mal deutlich, dass das Kind zuerst die Passform-Erfahrung der unmittelbaren körperlichen Ebene braucht, wodurch es die erlebten und verinnerlichten Erfahrungen von Unterstützung auf körperlich-emotionaler Ebene in sich trägt, bevor es als erwachsener Mensch später der symbolischen Ebene von Sprache („Ich bin für dich da“) vertrauen kann. Schutz: Kinder und Jugendliche brauchen die unmittelbare körperliche Erfahrung von Schutz so lange, bis sie in der Lage sind, diesen Schutz für sich selbst zu übernehmen. Beim kleinen Kind schirmen die Eltern seinen Körper ab, wenn Gefahr von außen droht, sie halten und bergen es, wenn es Angst bekommt. In seiner weiteren Entwicklung verteidigen sie das Kind gegenüber Angriffen, gegen die es sich selbst noch nicht wehren kann. Sie treten so lange nach außen für die Rechte des Kindes ein, bis es das später als junger Erwachsener selbst leisten kann. Damit erfährt das Kind immer wieder, dass die Eltern quasi eine schützende Schicht um seinen Körper und sein Ich legen, wodurch es sein körperlich-psychisches Dasein als schützenswerte Einheit erfährt. Dazu gehört in der weiteren Entwicklung auch Das Entwicklungs- und Heilungsmodell in der Pesso-Therapie 135 3 | 2021 die Unterstützung der Fähigkeit des Kindes, Unrecht, das es erlebt hat, zu benennen, und die Förderung seines Bemühens, sich dagegen mit eigenen Mitteln zur Wehr zu setzen. Dies fördert die Integration der kindlichen Fähigkeit, sich in seiner weiteren Entwicklung selbst schützen zu können. Grenzen bilden in mehrfacher Weise einen definierenden wie auch schützenden Rahmen um unser Sein. In zeitlicher Hinsicht charakterisieren sie den Beginn (Zeugung / Geburt) wie auch das Ende (Tod) unseres Lebens. Aber auch energetische wie materielle Grenzen sind von Bedeutung. Äußere Grenzen (z. B. Wände) definieren einen Raum, in dem wir uns einerseits geborgen und geschützt, andererseits jedoch auch gefangen und eingesperrt fühlen können- - je nach subjektiver Bedeutung der damit verbundenen frühen Erfahrungsgeschichte. Grenzen schützen und definieren unser Sein, helfen uns zwischen Innen und Außen zu unterscheiden, zeigen den Raum des Anderen; im übertragenen Sinn auch das, was mir und was dem Anderen gehört. Insoweit stellen sie in der kindlichen Entwicklung eine entscheidende Grundlage dar zur Differenzierung des Ichs und zur Unterscheidung des Selbst vom Anderen. Die Anerkennung dieser Grenzen ist auch Grundlage dafür, dass wir unser Leben in guter Weise erhalten können. Dies gilt sowohl für die eigenen Ressourcen (z. B. Burn-out) wie auch für die des Planeten, auf dem wir leben. Wenn wir diese Grenzen dauerhaft verleugnen, provozieren wir ernsthafte Gefahren für unser Sein wie auch für das der anderen und aller Systeme, mit denen wir in wechselseitiger Verbundenheit stehen. „Das bedeutet nicht, dass Menschsein nicht auch bedeuten kann, Grenzen auszuweiten und zu überschreiten. Aber ohne Grenzen verlieren wir unser menschliches Maß, machen uns selbst größer als wir sind, allmächtig, omnipotent, grandios: Wir ‚blasen uns selber auf‘. Diese Inflation des Selbst führt schließlich zu entgegengesetzten Erfahrungen: sich unwürdig, erniedrigt und machtlos fühlen.“ (Perquin 2005, 316) In der Pesso-Therapie bezeichnen wir das damit verbundene Muster als Grundüberzeugung von Omnipotenz (Schrenker 2008), das als Ergebnis einer frühen dysfunktionalen Schutzstrategie auftreten kann. Kinder, die mit wichtigen primären Bezugspersonen sehr schmerzvolle und erniedrigende Abhängigkeiten erleben, retten sich aus diesen schädigenden Beziehungsmustern, indem sie diese dysfunktionale Verbundenheit kappen. Sie „entkommen“ durch einen fast übermenschlichen Entwicklungssprung in eine verfrühte Autonomie. Extrem hohe Leistungsansprüche, die Verachtung von Sehnsucht nach Verbundenheit und Bedürftigkeit, ein ständiges Gefühl von innerer Überforderung- - die noch größere Anstrengungen zur Folge hat- - sind die Konsequenzen dieser Muster. Ein instabiles Größenselbst, emotionale Isolation, der Verlust von Liebe und Bindungsfähigkeit sind der schmerzliche Preis dieser „Überlebensstrategie“, die innerlich fast immer bedroht ist von der latenten Gefahr des Scheiterns. Das Konzept von Guter Begrenzung, das Pesso in sehr differenzierter Weise definiert hat, gewährleistet, dass die genetischen Urkräfte Aggression und Sexualität, die für das Überleben der Gattung Mensch von entscheidender Bedeutung sind, in der Entwicklung von Kindern in guter Weise integriert werden können. Indem Eltern ihren Kindern von Anfang an auf körperlicher und später auch symbolischer Ebene die Erfahrung vermitteln, dass Wut, Ärger und auch kindliche Sexualität sein dürfen (Validierung), bejahen sie diese Aspekte des Selbst des Kindes und heißen sie darin willkommen. Gleichzeitig brauchen die damit verbundenen körperlichen Kräfte schützende und für die kindliche Entwicklung und das familiäre System sichere Grenzen. Darüber kann das Kind erfahren, dass diese endlich sind und weder bedrohlich noch unbegrenzt (Ego-Wrapping-- Pesso / Crandell 1991). Unter 136 Leonhard Schrenker 3 | 2021 diesen Voraussetzungen kann es diese vitalen Aspekte seines Seins in guter und kraftvoller Weise integrieren und lernen, damit umzugehen. Einzelheiten zu den dazu notwendigen unmittelbaren körperlichen wie auch symbolischen Interaktionsmustern sind an anderer Stelle ausführlicher dargestellt (Schrenker 2008). Störungen als Folge gravierender Defizite in den fünf Grundbedürfnissen In der Pesso-Therapie gehen wir davon aus, dass sich gravierende Defizite der fünf grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse (Platz, Nahrung, Unterstützung, Schutz und Grenzen) in unserer Entwicklung nicht einfach auflösen, sondern erhebliche Auswirkungen auf unser erwachsenes Dasein haben. Wenn uns als Kinder die grundlegende und basale Erfahrung von liebevoller Verbundenheit und Zugehörigkeit (Platzthema) weitgehend gefehlt hat, wird unser Erleben und die Wahrnehmung unseres erwachsenen Daseins immer erheblich durch das damit verbundene Defizit geprägt sein. In meinem langjährigen Praxisalltag habe ich immer wieder Menschen erlebt, die ihr ganzes bisheriges Leben vergeblich auf der Suche waren nach Beziehungen, in denen sie auf die Erfüllung ihrer frühen ungestillten Sehnsucht hofften, angenommen und geliebt zu sein. In den Anamnesen dieser Menschen wurde relativ schnell klar, dass sie diese liebevolle Verbundenheit, angenommen zu sein, wie sie sind, aus unterschiedlichen Gründen schmerzlich vermisst haben. In meinem Buch über Pesso-Therapie (Schrenker 2008) ist anhand vieler Fallbeispiele dargestellt, wie sich gravierende Defizite in den Grundentwicklungsbedürfnissen in aktuellen Symptomen niederschlagen und dass erwachsene Menschen nicht aufhören, nach deren Erfüllung zu suchen. Das Problem mit dieser Suche besteht darin, dass diese ungestillte Sehnsucht gespeichert ist im kindlichen Erleben und beim erwachsenen Menschen bei ihrer situativen Reaktivierung zwangsläufig mit einem inneren Zustand partieller Regression einhergeht. Sobald diese ungestillte Sehnsucht in ihnen wieder auftaucht, aktualisiert sich diese als emotionaler Anteil ihres kindlichen Seins, das für erwachsene Interaktionsmuster wenig angemessen ist. Um beim oben genannten ersten Grundentwicklungsbedürfnis zu bleiben: Der Erwachsene spürt in sich die tiefe ungestillte Sehnsucht von damals nach Verbundenheit und liebevollem Angenommensein, für die er nichts tun muss, und projiziert deren Erfüllung auf das Gegenüber in seiner Partnerschaft. Häufig gehen gravierende Paarkonflikte auf solche ungestillten frühen Bedürfnisse zurück, da Partner sich von den damit verbundenen Erwartungen massiv überfordert fühlen (Schrenker 2018). In Abb. 2 sind die Auswirkungen gravierender Defizite in der kindlichen Entwicklung in etwas vereinfachter Weise bildlich dargestellt. Der linke Halbkreis symbolisiert den kindlichen Organismus, die grünen Pfeile darin die Form des Ausdrucks unterschiedlicher Bedürfnisse bzw. Gefühle. Der rechte Halbkreis symbolisiert den Organismus der Eltern mit vorhandener oder fehlender Passform in der Interaktion. In der Pesso-Therapie gehen wir davon aus, dass es bei gravierenden entwicklungsgeschichtlichen Defiziten in den Grundbedürfnissen einen Nachreifungs- und Nachentwicklungsprozess im therapeutischen Beziehungsgeschehen braucht. Pesso hat dafür ein gruppentherapeutisches Setting entwickelt, in dem Gruppenteilnehmer- Innen in die Rollen von sogenannten „Idealen Eltern“ gehen. Mit ihnen hat die erwachsene Klientin die Möglichkeit, in symbolisierter Weise noch mal einzutauchen in das Erleben einer neuen und heilenden Kindheitsgeschichte, in der sie das in sich aufnehmen kann, was ihr damals gefehlt hat. Durch die darüber mögliche tiefe Verankerung auf körperlich-emotionaler Ebene kann sie eine neue interaktionelle Erfahrungsgeschichte in sich aufnehmen und Das Entwicklungs- und Heilungsmodell in der Pesso-Therapie 137 3 | 2021 verankern, in der sie sich gesehen und angenommen fühlt und liebevolle Verbundenheit erlebt, für die sie nichts tun oder leisten muss. Die erwachsene Klientin verfügt damit anstelle der dysfunktionalen realen Geschichte (die sogenannte Historische Szene) über eine neue Vergangenheit (das sogenannte Antidot), die auch im Hier und Jetzt neue Perspektiven der Wahrnehmung und des Erlebens möglich macht: Wenn wir uns ausreichend geliebt fühlen als Kinder, so nährt dies auch ein positives Selbstwertgefühl und die Erwartung, das in unseren Beziehungen auch wiederfinden zu können. Darauf können wir dann als Erwachsene innerlich zurückgreifen und sehen auch viel klarer Momente von Wertschätzung oder Zuneigung, die uns andere Menschen entgegenbringen. Im optimalen Fall sollen diese Nachreifungsprozesse in dem Alter und mit den primären Bezugspersonen erfolgen, die damals dafür zuständig waren. Wenn die liebevolle Verbundenheit einer Mutter in der frühen Entwicklung gefehlt hat, braucht es dafür eine ganz neue Mutter, wie wir sie damals gebraucht hätten, die sich darüber freut, dass wir da sind, und uns willkommen heißt in all dem, was uns als Kind ausgemacht hat. Dieser therapeutische Nachreifungsprozess wird als Form-Passform- Konstrukt aus der ursprünglichen Sehnsucht des Kindes von damals kreiert. Ich bezeichne die „neuen“ Bezugspersonen deshalb mittlerweile auch als „Passform-Eltern“, oder „Eltern, wie du sie damals gebraucht hättest“. Dieser Begriff betont für mich die Bedeutung dieses therapeutischen Konstrukts und ist für mich im Deutschen weniger aufgeladen als der Begriff von Idealen Eltern, der wie ein idealtypisches Konstrukt die Begrifflichkeit von Elternschaft völlig unangemessen überlädt. Das methodische Vorgehen im Kontext mit den Folgen gravierender entwicklungsgeschichtlicher Defizite in der Pesso-Therapie wird in Abb. 3 in schematischer Weise bildlich dargestellt. Erwähnt sei an dieser Stelle, dass das Modell zur menschlichen Entwicklung wie auch das zur Entwicklung von Störungen und deren Behandlung sehr viel komplexer ist. Eine dafür Abb. 2: Grundlegende Defizite und ihre Folgen 138 Leonhard Schrenker 3 | 2021 ausreichende Darstellung hätte den Rahmen dieses Artikels gesprengt. Interessierte Leser seien deshalb auf eine kürzlich erfolgte Veröffentlichung hingewiesen (Schrenker 2019). Rahmenbedingungen und Methodik des therapeutischen Vorgehens Die Grundlage der Entwicklung von Pesso-Therapie (PBSP) war von Anfang an Pessos tiefer Glaube, dass das Leben an sich gut ist und der Mensch ein großes Wachstums- und Entwicklungspotential in sich trägt: die genetischen Anlagen des Wahren Selbst. Damit es sich in der menschlichen Entwicklung realisieren kann, braucht es gute Rahmenbedingungen von achtsamer Wahrnehmung und liebevoller Interaktion. Diese gelten nicht nur für unsere frühe familiäre und außerfamiliäre Sozialisation, sondern sollten auch Grundlage der therapeutischen Haltung sein, wenn wir Menschen unterstützen wollen auf ihrem Weg, das zu werden, was ihnen ihr Wahres Selbst als ursprüngliches Potential zur Verfügung stellt. Dafür braucht es in uns TherapeutInnen ein Vertrauen in die Ressourcen der Menschen und eine Grundhaltung von Liebe und Achtung, um sie in ihrem Wunsch nach Entwicklung wohlwollend unterstützen zu können. Die damit verbundene therapeutische Grundhaltung hat Pesso in seinem Konzept der Möglichkeitssphäre beschrieben. Die therapeutische Möglichkeitssphäre Diese Grundhaltung sollte geprägt sein durch einen achtsamen und nicht wertenden therapeutischen Beziehungsraum, der KlientInnen die Möglichkeit eröffnet, sich ohne Angst vor Bewertung oder Zurückweisung schrittweise in allen Schichten ihres Seins explorieren zu können. Um den Beziehungsraum zum Klienten von eigenen Gegenübertragungsgefühlen und Bewertungen freihalten zu können, empfiehlt Pesso dem Therapeuten, sein fühlendes Bewusstsein davon leer zu machen. „In this way you can think of the possibility sphere as a heightened field of awareness filled with the Abb. 3: Therapeutische Strategie bei Defiziten (1./ 2.) (3./ 4.) (5.) Das Entwicklungs- und Heilungsmodell in der Pesso-Therapie 139 3 | 2021 energy of your consciousness, intelligence, sensivity and reactivity, but empty of your troubles, your needs, and your expectations.“ (Pesso / Crandell 1991, 52) Nach meiner langjährigen Erfahrung als Pesso-Therapeut ist es für mich schwer möglich, den Raum dieser Möglichkeitssphäre davon völlig frei zu halten. Stattdessen bevorzuge ich die Strategie, die Gegenübertragung meiner eigenen emotionalen Muster in Bezug auf die KlientInnen in Form von Bildern und Fantasien bewusst wahrzunehmen. Innerlich deponiere ich sie in einer „inneren Datenbank meiner Gegenübertragung“, um zu einem späteren Zeitpunkt im therapeutischen Prozess darauf zurückgreifen zu können, sobald dies für den weiteren therapeutischen Prozess hilfreich sein kann. Microtracking zur Bewusstmachung von Mikroemotionen und die Zeugenfigur als Erweiterung der therapeutischen Beziehungsebene Ein sehr wesentliches methodisches Konzept zur Entladung der therapeutischen Beziehungsebene von den wechselseitigen Übertragungsprozessen wird in der Pesso-Therapie durch den Einsatz des sogenannten Zeugen gewährleistet. Im gruppentherapeutischen Prozess kann der / die KlientIn ein Gruppenmitglied als RollenspielerIn wählen und so auf der „Bühne der Struktur“ platzieren, dass sie von ihr gut gesehen werden kann. Aufgabe dieser Zeugenfigur ist es, während des gesamten therapeutischen Prozesses die Mikroemotionen des/ der KlientIn in wohlwollend neutraler Weise im Kontext der damit verbundenen internen oder externen Auslöser zu benennen. Dabei gilt auch hier das Primat der Steuerung des Prozesses durch den / die KlientIn (Pesso nennt sie deshalb Zentrale Person): Erst wenn die Zentrale Person die von mir in fragender Weise formulierte Zeugenbotschaft hinsichtlich der Emotionsbezeichnung und des auslösenden Kontexts bestätigt, wird sie genauso von der bezeugenden Person mit dieser Formulierung übernommen. Die Präsenz der bezeugenden Person erweitert die dyadische Beziehungsebene zu mir als Therapeuten mit einer dritten Person, wodurch auf der einen Seite die emotionale Abhängigkeit der Zentralen Person reduziert und auf der anderen Seite meine Person als Gegenüber auch emotional entladen wird (ich bin nicht der einzige, der sie sieht und für sie da ist). Wir können die alte Geschichte nicht löschen, aber eine neue kreieren Unser Gedächtnis ist so strukturiert, dass die Engramme prägender emotionaler Erfahrungen unserer Lerngeschichte letztlich nie verloren gehen. Schutzstrategien können die Bewusstwerdung traumatischer Erinnerungen verhindern, aber die zugrundliegenden hoch aversiven Erfahrungen werden dadurch nicht gelöscht. Dies ist einer der Gründe, warum im Zentrum des Heilungsmodells der Pesso-Therapie die Kreation neuer Geschichten steht. Der zweite Aspekt hat mit Pessos Konzept des Wahren Selbst zu tun. Es kann nur dann selbstverständlicher Teil des realen Selbst werden, wenn seine wichtigsten Bestandteile in unserer Entwicklung durch passende Interaktionsmuster unserer Eltern gesehen, anerkannt und integriert werden konnten (Schrenker 2012). Fehlen wichtige Aspekte aufgrund mangelnder Integration, so stehen sie uns auch nicht in unserer Beziehungs- und Lebensgestaltung zur Verfügung. Diese Überlegung ist wesentlicher Bestandteil des Nachreifung- und Nachentwicklungsmodells in der Pesso-Therapie. Ausgehend von den entwicklungsgeschichtlichen Defiziten kreieren wir aus der damit einhergehenden Sehnsucht im Wiedererleben des Kindes von damals neue heilende Gegenbilder mit ganz neuen Eltern, mit denen das Kind sich in dem gesehen und anerkannt fühlen kann, was damals gefehlt hat. Während dieses therapeutischen Prozesses ist die Klientin bei vollem Bewusstsein (ihr Pilot ist ständig aktiviert), und ihr inneres Erleben erfolgt 140 Leonhard Schrenker 3 | 2021 parallel auf zwei unterschiedlichen zeitlichen Ebenen: Sie weiß, dass sie in ihrem erwachsenen Körper da ist, und zugleich erlebt sie in der Vorstellung ihres kindlichen Körpers von damals eine völlig neue Interaktionsgeschichte. Deutlich wird dies häufig auch im emotionalen Ausdruck des Gesichts, das die damit verbundenen beglückenden kindlichen Erfahrungsmomente widerspiegelt. Diese heilenden Interaktionsmuster tragen mit dazu bei, dass die damit verbundenen Aspekte seines Wahren Selbst sein dürfen und als selbstverständlicher Bestandteil des kindlichen Selbst integriert werden können. Damit stehen dem erwachsenen Klienten in seiner Erinnerung neue, positiv erlebte, alternative und synthetische Kindheitserinnerungen zur Verfügung, auf der er zurückgreifen kann. Die Bedeutung der neuen Geschichte für die Brille des Hier und Jetzt Wahrnehmung ist immer ein Akt des Erinnerns; wir verdanken diesem Phänomen das zumeist problemlose Funktionieren unseres Alltags, in dem wir selbstverständlich wissen, wie bestimmte Zusammenhänge funktionieren oder wie wir bestimmte Dinge handhaben müssen. Dies gilt jedoch nicht nur für die äußere Wahrnehmung, sondern auch für viele unserer inneren Überzeugungen, mit denen wir auf die Verhaltensweisen anderer Menschen blicken, was wir davon wirklich wahrnehmen und spüren können bzw. was wir davon ausblenden oder in unserer Sicht „verzerren“. In dem Zusammenhang nutzte Pesso immer wieder den Satz: „Wir sehen die Welt durch die Brille unserer Geschichte.“ Wurden wir als Kinder nicht ausreichend in unseren Gefühlen und Bedürfnissen gesehen und anerkannt, so schreiben wir uns das meist selbst zu, um die inneren Bilder unserer Eltern, die wir lieben und die wir brauchen, nicht zu zerstören. Dies kann zu einer „Inneren Wahrheit“ führen, nicht liebenswert zu sein, eine innere Erfahrungsbrille, durch die wir auch später als Erwachsener auf unsere Beziehungen schauen. Bisweilen suchen wir regelrecht nach kleinsten Signalen, um diese alte Grundüberzeugung zu bestätigen, und blenden positive, dazu konträre Erfahrungen oft aus. Wurde es möglich, im Rahmen von Strukturen ausreichend heilende Gegenerfahrungen einer neuen Kindheitsgeschichte in uns aufnehmen (als Kind von völlig neuen Eltern gesehen und angenommen zu sein, ohne dafür etwas tun oder leisten zu müssen) und verankern zu können, so stellen uns diese positiven Gegenerfahrungen auch eine neue Brille im Hier und Jetzt zur Verfügung. Meist wird es uns dadurch leichter möglich, Akzeptanz, Wertschätzung und liebevolle Zuwendung in unseren aktuellen Beziehungen wahrnehmen und deren positive emotionale Qualität auch fühlen zu können. Im Transferschritt am Ende einer Struktur hatte ich weiter oben kurz dargestellt, wie wir diesen Prozess während der Verankerung des Antidots aktiv einleiten und nutzen, um die mögliche neue Perspektive für das Anfangsthema der Struktur überprüfen zu können. Schlussbemerkung Die Pesso-Therapie stellt ein noch relativ junges ganzheitliches therapeutisches Verfahren dar, das in faszinierender Weise menschliche Reifung und Entwicklung in einem sicheren therapeutischen Setting möglich macht. Wie kaum ein anderes Verfahren betont es das Primat der Steuerung des therapeutischen Prozesses durch die Klientin und verweist den / die Pesso-TherapeutIn in die Rolle eines unterstützenden und begleitenden „Coaches“. Im Rahmen dieses Artikels wurden bedeutsame Rahmenbedingungen des Entwicklungswie auch Heilungsmodells dargestellt: Interessierte LeserInnen seien auf weitere Veröffentlichungen hingewiesen, da die Komplexität des diagnostischen und therapeutischen Modells den Rahmen dieses Artikels gesprengt hätte. Dem ver- Das Entwicklungs- und Heilungsmodell in der Pesso-Therapie 141 3 | 2021 Leonhard Schrenker Diplom-Psychologe / Psychotherapeut, international zertifizierter Supervisor und Trainer für Pesso-Therapie (PBSP). ✉ Leonhard Schrenker Praxis: Hauptstraße 18 / III | D-82256 Fürstenfeldbruck leonhard@psychotherapie-schrenker.de www.psychotherapie-schrenker.de sucht auch die insgesamt dreijährige Weiterbildung Rechnung zu tragen, in der dieses Verfahren sowohl für das einzeltherapeutische wie auch gruppentherapeutische Setting vermittelt wird. Als neuesten Baustein gibt es mittlerweile auch ein knapp einjähriges Aufbautraining zur therapeutischen Arbeit mit Paaren, da aktuelle Paarbeziehungen häufig in unlösbarer Weise mit frühen ungestillten Bedürfnissen aufgeladen werden (Schrenker 2018). Literatur Bachg, M. (2005): Microtracking in Pesso Boyden System Psychomotor (PBSP): Brückenglied zwischen verbaler Psychotherapie und körperorientierter Psychotherapie. In: Sulz, S. K. 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