eJournals körper tanz bewegung 10/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Energie: Ein universelles Wirkprinzip

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2022
Margit Koemeda-Lutz
Ruben Gutzat
Dieser Beitrag geht von einer physikalischen Definition des Energiebegriffs aus und nennt verschiedene Aspekte, die von wissenschaftlichem oder technischem Interesse sein können - z.B. die Frage nach der Verteilung und Speicherung von Energie in biologischen Systemen und welche funktionalen Arbeiten damit verrichtet werden. Es werden Zusammenhänge zwischen Energieträgern, Energietransformation und Leben angesprochen. Im zweiten Teil wird die Brauchbarkeit des Konzepts für die Psychologie und Psychotherapiewissenschaft zur Diskussion gestellt. Menschliche Organismen konsumieren Energie, wandeln diese um und geben Energie ab. Sie stehen im Austausch mit ihrer Umwelt. Es wird vorgeschlagen, Energieflüsse, -austausch und -transformation auch auf der geistigen Ebene in Betracht zu ziehen - mit Bezug auf Konzeptualisierungen von S. Freud, C.G. Jung und anderen. Es wird auf empirische Untersuchungen zu funktionalen Zusammenhängen zwischen somatischen und psychischen Parametern hingewiesen.
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14 körper-- tanz-- bewegung 10. Jg., S. 14-21 (2022) DOI 10.2378 / ktb2022.art03d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Zur Diskussion Energie: Ein universelles Wirkprinzip Margit Koemeda-Lutz und Ruben Gutzat Dieser Beitrag geht von einer physikalischen Definition des Energiebegriffs aus und nennt verschiedene Aspekte, die von wissenschaftlichem oder technischem Interesse sein können-- z. B. die Frage nach der Verteilung und Speicherung von Energie in biologischen Systemen und welche funktionalen Arbeiten damit verrichtet werden. Es werden Zusammenhänge zwischen Energieträgern, Energietransformation und Leben angesprochen. Im zweiten Teil wird die Brauchbarkeit des Konzepts für die Psychologie und Psychotherapiewissenschaft zur Diskussion gestellt. Menschliche Organismen konsumieren Energie, wandeln diese um und geben Energie ab. Sie stehen im Austausch mit ihrer Umwelt. Es wird vorgeschlagen, Energieflüsse, -austausch und -transformation auch auf der geistigen Ebene in Betracht zu ziehen-- mit Bezug auf Konzeptualisierungen von S. Freud, C. G. Jung und anderen. Es wird auf empirische Untersuchungen zu funktionalen Zusammenhängen zwischen somatischen und psychischen Parametern hingewiesen. Schlüsselbegriffe Körperpsychotherapie, Energie, energetische Transformation, biologische Systeme, Bioenergetische Analyse Energy. A Universal Principle of Action This article is based on a physical definition of the term energy and identifies various aspects that can be of scientific or technical interest-- e. g. the question of the distribution and storage of energy in biological systems and the functional tasks executed through. Relationships between energy sources, energy transformation and life are addressed. In the second part, the usefulness of the concept for psychology and psychotherapeutic science is put up for discussion. Human organisms consume energy, convert and emit it. They interact with their environment. It is suggested to consider energy flow exchange and transformation also on mental or psychic levels-- with reference to the conceptualizations of S. Freud, C. G. Jung and others. Reference is made to empirical studies on functional relationships between somatic and psychological parameters. Key words body psychotherapy, energy, energetic transformation, biological systems, bioenergetic analysis D er folgende Beitrag war ursprünglich als Stichworttext geplant. Da der Energiebegriff aus den Naturwissenschaften stammt, wurde R. Gutzat angefragt, diesen Begriff im Kontext der Biologie zu erläutern („Prolog“). Als Quellen wird hier auf die gängigen naturwissenschaftlichen Lehrbücher verwiesen. Überdies wird der Energiebegriff aber-- mit Energie: Ein universelles Wirkprinzip 1 | 2022 15 längerer Tradition- - auch in der Psychologie und Psychotherapiewissenschaft verwendet. Hierzu liefert M. Koemeda-Lutz als Körperpsychotherapeutin / Bioenergetische Analytikerin verschiedene Aspekte und Denkanstöße. Der Beitrag möchte Kolleginnen und Kollegen zu einer weiterführenden Diskussion einladen. Schriftliche Stellungnahmen zur Publikation in späteren Ausgaben der ktb sind willkommen. Ein biologischer Prolog Die physikalische Definition von Energie ist schlicht die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten, Wärme oder Licht auszustrahlen. Diese Definition gilt auch in anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen, also zum Beispiel in der Chemie, Biologie oder bestimmten Bereichen der Biologie wie Medizin und Psychologie. Zwar interessiert man sich in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen für verschiedene Aspekte, wie Energie eingefangen, gespeichert oder benutzt werden kann, aber das ändert nicht den Begriff der Energie selbst. Der Versuch, Energie neu zu definieren oder umzudeuten, führt damit unweigerlich in die Pseudowissenschaft. Gerade um „Energie“ innerhalb der Psychologie zu verstehen, muss man der Versuchung widerstehen, den Begriff der Energie in der Alltagssprache mit dem wissenschaftlichen Begriff zu vermischen und anekdotische Beobachtungen mit gut durchgeführten Experimenten gleichzusetzen. Energiefreisetzung oder energetische Transformation muss nicht notwendigerweise etwas mit Funktion zu tun haben. Wenn z. B. in einer Studie entdeckt wird, dass menschliche Zellen ganz schwaches Licht emittieren können, sollte nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass diese Energie eine Bedeutung oder Funktion für den Organismus hat. Licht kann, wie auch Wärme, schlicht als nutzloses Nebenprodukt von biochemischen Reaktionen entstehen. Die Biologie befasst sich mit dem Lebendigen- - mit z. T. unglaublich komplexen Systemen, in mehreren Milliarden Jahren evolviert, Produkte von zahllosen historischen Zufällen gepaart mit Selektion. Biologische Organismen sind nicht „designed“. Viele enzymatische Reaktionen sind sehr ineffizient, Genome sind chaotisch organisiert und voll mit Junk und Parasiten, jede Zelle ist ein Gewimmel von Proteinen, Kohlenhydraten und Nucleinsäuren; und Organismen verfallen mit zunehmendem Alter, nachdem ihr reproduktiver Zenit überschritten ist. Das Wunder ist, dass Leben trotzdem funktioniert, dass einzellige Organismen genau dahin navigieren können, wohin sie müssen, dass trotzdem die meisten vielzelligen Organismen während der Entwicklung von der befruchteten Eizelle zum komplexen Individuum aus Millionen und Milliarden von Zellen von Millionen alternativen Entwicklungspfaden einen ihr Leben ermöglichenden finden. Biologische Systeme sind voller Störgeräusche, aber trotzdem robust. Funktionale und kausale Zusammenhänge-- oder auch nur bedeutende Korrelationen auf molekularer und organismischer Ebene- - zu finden, ist harte Arbeit und braucht besonnene Fragestellungen und Experimente. Was sind nun die Fragestellungen und Aspekte, die das Thema Energie in der Biologie mit sich bringt? Wie speichern und verteilen biologische Systeme Energie? Wie sehen zelluläre Staudämme und biologische Batterien aus? Welche funktionalen Arbeiten müssen und können von Organismen verrichtet werden? Wie können Ökosysteme energetisch funktionieren? Um einen groben Überblick zu bekommen, und im Sinne des Physikers Richard Feynman (Caltech Magazine 1974) versuchen wir, die Perspektive eines frisch auf der Erdoberfläche gelandeten Marsianers einzunehmen, der-- gegen die Sonne blinzelnd-- verstehen möchte, wie das Leben auf der Erde energetisch stattfinden kann. Er würde (je nach Intelligenz) 16 Koemeda-Lutz, Gutzat 1 | 2022 relativ rasch feststellen, dass es Lebewesen gibt, die Energie konstruktiv nutzen, um komplexe-- meist grüne-- Strukturen mit sehr wenig Hilfsmitteln aufzubauen. Und dann gibt es eine andere Gruppe von Lebewesen, die sich einfach die Energie der ersten Gruppe zunutze macht, um ihre eigenen komplexen Strukturen aufzubauen und zu erhalten. Energie fließt zwischen diesen unterschiedlichen Lebewesen in Form von chemischen Verbindungen- - zum Beispiel Zucker oder Fette. Eine universelle biologische Energie-Währung, die von allen Lebewesen erkannt wird, nennt sich Adenosintriphosphat (kurz ATP). Das dritte Phosphat (deshalb „tri-“) hängt mit einer besonders energiereichen chemischen Bindung am Rest vom Molekül. Wenn diese aufgebrochen und ATP zu ADP (D für „di-“) wird, wird Energie freigesetzt, die dann für Arbeit (z. B. Muskeln), Wärme oder Licht genutzt werden kann. Diese Währung ist so universell in allen uns bekannten biologischen Systemen, dass der Nachweis von ATP sogar benutzt werden könnte, um überhaupt den Nachweis für Leben- - auch vergangenes-- zu erbringen. Wenn man zum Beispiel auf fremden Planeten nach Spuren von Leben suchte, könnte man extraterrestrischen Sand mit Substrat und Enzym mischen, die man von Glühwürmchen gewonnen hat. Würde man dann nur ein paar Fünkchen Licht detektieren, dann wäre das ein untrügliches Zeichen für die Präsenz von ATP im Sand und somit- - indirekt- - für eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von Leben. Was ist aber eigentlich Leben? Bei einem Pandabären oder einem stolzen 2000-jährigen Olivenbaum sind wir uns einig, aber wie steht es um ein Virus-Partikel oder ein nacktes DNA- Stückchen, diese weisen nämlich selbst (im Gegensatz zu dem Gewusel innerhalb einer klassischen Zelle) sehr wenig Energiefluss auf. In der Schule lernte ich früher, dass Stoffwechsel, und somit energetische Transformation, Teil einer Definition für Leben ist. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr sicher. Die Evolution bietet uns ein Sammelsurium von virenartigen Partikeln und Nucleinsäuren, über virenartige Zellen und zellenartige Viren an. Informationshaltige DNA- oder RNA-Stückchen können von Zellen aufgenommen und zum Leben erweckt werden. In diesem Chaos zu versuchen, klare Grenzen zu ziehen, ist meiner Meinung nach energieverschwendende Semantik. Meistens kann man zwar leicht unterscheiden, was lebt und was nicht lebt, aber wann immer man eine genaue Grenze zu ziehen versucht, wird es bald eine Entdeckung geben, die diese Grenze wieder verwischt. Ein guter Indikator für das Vorhandensein von Leben- - zumindest Leben, wie wir es kennen- - ist jedenfalls die Fähigkeit, die Energie, die in ATP steckt, nutzen zu können. Als nächstes wäre zu fragen, woher ursprünglich die Energie für die Energie von ATP kommt. Wie schafft es die erste Gruppe von meist grünen Lebewesen, mit wenigen und simplen Zutaten, komplexe makroskopische Strukturen zu bauen? Alles höhere Leben („höher“ ist in diesem Fall keine Bewertung, sondern lediglich ein Attribut komplexerer Lebensformen), also Leben, wie wir es auf der Erdoberfläche vorfinden und wie es unsere MarsianerInnen auf ihrem Streifzug vorfinden würden, hängt an einer der wohl (zumindest aus energetischer Sicht) wunderbarsten Erfindungen der Evolution: den Chloroplasten (eine erstaunliche Ausnahme, ein Beispiel für Chloroplasten-unabhängiges Leben, bildet das verrückte energetische Leben von Archaebakterien, die tief im Ozean gedeihen und sich bei Temperaturen von über 110 ° C wohl fühlen). Chloroplasten sind so klein, dass sich tausend davon auf einem Millimeter aufreihen könnten, und sie sehen mit ihren Membranen aus wie durchschnittene grüne Mikro- Baumkuchen. Jeder Chloroplast ist eine kleine Solarzelle und meistert das Kunststück, die Energie-Pakete, die in Form von Licht von der Sonne durchs Sonnensystem zur Erde sausen, Energie: Ein universelles Wirkprinzip 17 1 | 2022 zu bändigen. In den Chloroplasten macht sich dann das mit Abstand häufigste Enzym der Erde mit dem schönen Namen Ribulose-1,5bisphosphat-carboxylase / -oxygenase (kurz RuBisCO, übrigens ein höchst ineffizientes Enzym! ) an die Arbeit und transformiert diese Energiepakete in die süße chemische Energie von Zucker. Chloroplasten sitzen massenhaft in den Blättern und Organen von Pflanzenzellen. Die Pflanzen speichern diesen Zucker dann entweder als Stärke oder verbrennen ihn unmittelbar, um ATP herzustellen, das überall in der Zelle für alles nur Erdenkliche gebraucht wird. Fast alle Tiere (abgesehen von eben jenen Freaks, die sich in der Tiefsee in der Nähe von den oben erwähnten hitzeliebenden Bakterien wohl fühlen) hängen von der Energie ab, die Pflanzen speichern und unfreiwillig oder sogar freiwillig (z. B. als Nektar oder Früchte) zur Verfügung stellen. Bekanntlich verbrennen diese von Pflanzen hergestellten Zuckerarten, Kohlenhydrate oder andere komplexe Strukturen (zum Beispiel Holz) erst in der Präsenz von Sauerstoff. Das verhält sich nicht anders im Inneren von Organismen und Zellen. Zwar können Zellen von vielzelligen Organismen auch ein bisschen Energie aus Zucker ohne Sauerstoff gewinnen, das ist aber höchst unergiebig, und fast alle Lebewesen sind abhängig von Mindestkonzentrationen von Sauerstoff in der Atmosphäre. Doch das war nicht immer so! Für einen Großteil der Erdgeschichte war Sauerstoff gerade eben wegen seiner Reaktivität undenkbar giftig für Lebewesen. Als eine Armada von Blaualgen randvoll bepackt mit Chloroplasten anfing, Sauerstoff in die Atmosphäre zu pumpen, vergingen mehr als 1,5 Milliarden Jahre, bis genug Sauerstoff angereichert war, damit das „höhere“ energetisch aufwendige, großspurige, grelle Leben so richtig florieren konnte. Und irgendwann evolvierte sich eine Spezies, die die Fähigkeit besitzt, über den Begriff „Energie“ zu reflektieren, aber mit ihrer eigenen Energie nie zufrieden war, und deren wahnsinniger Energie-Durchfluss ihr die zweifelhafte Ehre erwies, dass ein eigenes Erdzeitalter nach ihr benannt wurde: der Homo sapiens-- und sein Anthropozän. Psychologisch-psychotherapiewissenschaftliche Aspekte Hier soll nun nicht der Versuch unternommen werden, den Energiebegriff neu zu definieren oder dessen alltagssprachliche Verwendung mit dem wissenschaftlichen Begriff zu vermischen. Vielmehr möchte ich in diesem zweiten Teil dazu einladen, ausgehend von einer naturwissenschaftlichen Definition, die Brauchbarkeit des Konzepts für die Psychologie / Psychotherapiewissenschaft zu diskutieren und auf bisherige Ansätze einer empirischen Überprüfung Bezug zu nehmen. Ich möchte begriffliche Erweiterungen und Modifikationen vorschlagen, deren Brauchbarkeit wissenschaftlich zu überprüfen sein werden. Abweichend von Geuter, der in seinem Grundlagenwerk (2015) für ein Fallenlassen des Energie-Konzepts in der Körperpsychotherapie eintritt, möchte ich für dessen Verwendung und Ausdifferenzierung plädieren. Energie wird benötigt, um etwas zu bewirken, um Arbeit zu verrichten, um biologische oder physikalische Prozesse zu steuern und zu beeinflussen. „Die Energie von Benzin besteht darin, einen Motor und damit ein Auto zu bewegen.“ (Mahr 2005) Unsere Sonne ist die Energiequelle für das meiste Leben auf unserem Planeten. Durch Kernfusion von Wasserstoffatomen wird nukleare Bindungsenergie in Form von Licht, Wärme und elektromagnetischer Strahlung freigesetzt (z. B. Dieckmann / Heinloth 1997). Wie schon im biologischen Prolog erwähnt: Chloroplasten sind kleine Solarzellen, die Energiequanten in Form von Sonnenlicht aufnehmen und in Zucker verwandeln. Pflanzen 18 Koemeda-Lutz, Gutzat 1 | 2022 speichern Zucker in Form von Stärke oder verbrennen ihn, um ATP und damit diverses Weiteres herzustellen. Tiere hängen von der Energie aus Pflanzen (Nektar, Früchte) und / oder vom Fleisch ihrer Beute ab sowie von Sauerstoff aus der (Atem-) Luft. Die Verbrennung von chemischen Verbindungen mit Sauerstoff setzt Energie frei. In der Physik ist Energie eine quantitative Größe. Um Arbeit zu verrichten oder ein Objekt zu erwärmen, muss Energie auf dieses Objekt übertragen werden. Energie kann in verschiedene Formen umgewandelt, aber nicht erschaffen oder vernichtet werden (Erhaltungssatz). Masse und Energie sind eng miteinander verknüpft: E = mc². Bekannt sind kinetische, potenzielle, elastische, chemische, elektrische, magnetische, nukleare, Licht- und Wärme-Energie. Sonnenlicht und geothermale Energien treiben unser Klima und Ökosystem an (z. B. Stock 2018). Menschliche Organismen führen sich Energie in Form von Nahrung, Licht und Sauerstoff zu, verstoffwechseln diese, um materiell zu wachsen, sich zu vermehren, Wärme zu gewinnen, ihre körperlichen Funktionen aufrecht zu erhalten, um Arbeit zu verrichten, zu handeln und sich zu bewegen. Sie sind offene Systeme. Biophysikalisch gesehen konsumieren sie Energie, wandeln Energie um, geben Energie ab-- stehen im Austausch mit ihrer Umwelt. Lebewesen sind dauerhaft der Erdanziehungskraft und anderen Gravitationsfeldern ausgesetzt. Jede Körperhaltung und Eigenbewegung benötigt Energie. Lebendige Organismen stellen mehr oder weniger komplexe Ordnungssysteme dar, die Energie aufbringen müssen, um sich gegen ein ebenfalls universell wirksames Prinzip, nämlich das der Entropie, zu behaupten. Im Tod zerfallen sie in ihre einzelnen Bestandteile, einige von diesen verwandeln sich, Organisationsstrukturen lösen sich auf. Fragen, die sich in der Psychotherapiewissenschaft stellen: Gibt es auch geistige bzw. psychische Formen von Energie, die wir (bisher) nicht zu quantifizieren wissen, z. B. Aufmerksamkeit, Konzentration, Präsenz, Motivation, Emotion, Intention, Bedeutung, deren Wirkungen sich aber von verschiedenen Indikatoren ablesen lassen? Über welche Wirkmechanismen steuern, beeinflussen, bewegen sie (das Verhalten von) Menschen? Bereits 1898 führte von Grot (von Grot 1898, zitiert nach Carle 2002) den Begriff der psychischen Energie ein. Sigmund Freud prägt die Begriffe der sexuellen bzw. Triebenergie wie auch das Konzept der Libido (Laplanche / Pontalis 1980), C. G. Jung (1948) entwickelt das Konzept der Libido in seinem Sinne weiter, Wilhelm Reich wendet sich der Untersuchung der von ihm entdeckten Orgonenergie zu (Reich 1987; Boadella 1988). Jahrhundertealte ostasiatische Kampfsport-, Meditations- und Heilmethoden (siehe z. B. Wu et al. 2008) lehren die Verwandlung und Lenkung von Energien im menschlichen Körper und im Austausch mit der Umwelt. Dort wird auch von spiritueller Energie gesprochen (Carle 2002). Diese Energien, z. B. das „Chi“ im Taoismus oder „Prana“ im indischen Yoga, wurden in der Vergangenheit als elektromagnetische Schwingungen, als Infrarotstrahlung oder als Biophotonen-Emissionen, die von lebendigen Organismen ausgehen, untersucht (z. B. Popp 1985; Brennan 1989; Bischof 1999). Die Intensität solcher Emissionen lässt sich beispielsweise durch Atemübungen beeinflussen (Dobrin et al. 1984). Hirnwellen von PatientInnen und HeilerInnen synchronisieren sich während therapeutischer Sitzungen (Jantsch 1979). Synchronisationsphänomene konnten auch Tschacher et al. für psychotherapeutische Sitzungen zeigen (Rees et al. 2014; Tschacher / Storch 2017; Tschacher / Bannwart 2021a, b). Rees spricht (in der Zusammenfassung) von einer „Angleichung der Bewegungsenergie“. Bei physischer Berührung oder großer Nähe durchdringen die elektromagnetischen Felder Energie: Ein universelles Wirkprinzip 19 1 | 2022 zweier Organismen einander, wie Akupunktur-Studien zeigen (z. B. Wilson et al. 1989; Ho et al. 1994; Carle 2002). Funktionsstörungen oder Organerkrankungen korrespondieren mit schmerzhaften zu diesen Organen gehörigen korrespondierenden Meridianbzw. Akupunkturpunkten (Bahr/ Zeitler 1991). Wenn in kathartischen Prozessen blockierte Emotionen freigesetzt werden, wird dies subjektiv häufig als Energiezuwachs erlebt. Es ist einigermaßen leicht zu analysieren, ob jemand seine Willkürmuskulatur vorwiegend hemmend einsetzt, um „Haltung zu zeigen“ und Handlungsimpulse zu unterdrücken oder um Bewegung zu ermöglichen und „im Fluss zu sein“. Die dafür eingesetzten Wirkmechanismen lassen sich mit funktionell-anatomischen Begriffen beschreiben. Eine Reihe von körperpsychotherapeutischen Richtungen in der Tradition von Wilhelm Reich, insbesondere die Bioenergetische Analyse und Therapie, haben sich konzeptuell und praktisch auf diesem Gebiet verdient gemacht. Es geht hierbei, pauschalisierend gesprochen, um eine Beschreibung des Einsatzes von Skelettmuskulatur zum Zweck der Verhaltenshemmung oder -bahnung. Jeder individuelle Körper verfügt über verschiedenste Möglichkeiten der Kohärenzbildung oder Fragmentierung seiner Haltungs- und Bewegungsmuster. Handlungsambivalenzen gehen mit individuell gestalteten Aktivierungsmustern von muskulären Agonisten und Antagonisten einher. Subjektiv werden diese als unterschiedlich energiereich und damit zielführend bzw. wirksam erlebt. Körperliches Ausdauerbzw. Herz-Kreislauftraining über längere Zeit führt u. a. zu einer gesteigerten Erythrozytenproduktion und damit einer Erhöhung der Sauerstoffaufnahmekapazität. Diese im Verbund mit anderen Veränderungen im Stoffwechsel können zu einer Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit führen (z. B. Schumacher et al. 2002; Warburton et al. 2004). Auch andere, über längere Zeit praktizierte Körperübungen (z. B. Dietrich/ Pechtl 1995), Tai Chi, Yoga und ähnliche Praktiken steigern den Energieumsatz des Organismus. Alltagssprachlich reden wir davon, dass jemand bestimmten, z. B. selbstzerstörerischen Gedanken, Energie gibt, indem er ihnen Aufmerksamkeit schenkt, sich mit ihnen identifiziert, sie für wahr hält und ihnen damit erlaubt, sich auszubreiten. Wir kennen umgekehrt das Gefühl, dass es uns beflügelt, wenn uns Wertschätzung entgegengebracht wird, wenn jemand anderer an uns glaubt und uns ermutigt. Ebenfalls alltagssprachlich unterscheiden wir energiegeladene von erschöpften Menschen, solche mit starker von Menschen mit schwacher „Ausstrahlung“. Wir sprechen von einer attraktiven Frau, einem attraktiven Mann. Das Wasser in einem Stausee besitzt potenzielle Energie. Öffnet man die Schleusen in der Staumauer, verwandelt sich diese potenzielle in kinetische Energie (Mahr 2005). Traditionell werden solche Vorgänge metaphorisch zur Beschreibung kathartischer Prozesse in körperpsychotherapeutischen Sitzungen verwendet: Wenn ein Kind lernt, dass es in seiner Familie gefährlich ist, Ärger und Wut zum Ausdruck zu bringen, wird es üben, solche Gefühle, wann immer sie aufkommen, zu unterdrücken, sich gedanklich abzulenken, sich etwas anderes einzureden, sich muskulär dagegen zu verhalten, sich muskulär zu „panzern“ (der Stausee). Körperpsychotherapeutische Sitzungen können helfen, „die Schleusen zu öffnen“. Und möglicherweise brechen sich die lebenslang unterdrückten Emotionen in einem kathartischen Ausdruck Bahn. Der Betreffende mobilisiert erhebliche körperliche Kräfte, die in der Lage wären, zerstörerisch zu wirken, würde man im therapeutischen Rahmen nicht vorher Sicherheitsmaßnahmen ergreifen (Umsetzung in kinetische Energie). Energie wird subjektiv erlebt: Ich fühle mich energiegeladen vs. meine Batterien sind leer. Physiologische und funktionelle Veränderungen im Körper sind messbare Begleiterscheinungen davon (Rhodes et al. 2017). 20 Koemeda-Lutz, Gutzat 1 | 2022 Könnte ein Ausgerichtet-Sein auf Intentionen und Ziele als eine Form von potenzieller Energie aufgefasst werden? Menschen schöpfen Motivation sowie Bewegungs-, Entwicklungsbzw. Entfaltungsrichtung und -kraft aus ihren Wünschen und Zielen (potenzielle Energie, die sich in kinetische verwandelt). Sie benötigen biophysikalische Energiezufuhr, um sich in entsprechende Richtungen zu bewegen. Ein Mensch, der in vielfältigen Resonanzbeziehungen mit seiner Umwelt steht, wird beobachtbar in seinem Selbstwertempfinden bestärkt. In der Bioenergetischen Analyse wird dies als Energie-Laden bezeichnet (Lowen / Lowen 1985, z. B. 122 f ). Oder wäre es denkbar, dass analog zur physikalisch messbaren elastischen Energie eines Körpers, der deformiert wird, auch ein komplexer menschlicher Organismus unter deformierenden Bedingungen Wiederherstellungskräfte freisetzt, um zu seinem in ihm angelegten, von ihm gewünschten Zustand zurückzukehren? In der Psychologie sprechen wir von Resilienz. Als genetische Information steckt bereits in den Keimzellen eines Menschen eine Entfaltungsrichtung, die unter Zufuhr von Sauerstoff und Nahrung über komplizierte Stoffwechselvorgänge zu einer „materiellen Masseansammlung“ führt, die Wärme und Licht abgeben sowie Leistung verrichten kann. In der Tradition der eingangs genannten Forschungsbemühungen von Reich, Popp und anderen, wie auch in den Neurowissenschaften der zurückliegenden Jahre geschehen, erscheint es mir nach wie vor sinnvoll, das Zusammenspiel von biomechanischen und geistig-psychischen Aspekten lebendiger Prozesse zu untersuchen. Damit sollte auch der Energiebegriff nicht aus dem psychotherapiewissenschaftlichen Diskurs verbannt, sondern Versuche fortgesetzt werden, vorhersagbare und mit wissenschaftlichen Methoden überprüfbare Manifestationen von Energieflüssen und -transformationen im menschlichen Bereich, insbesondere in körperpsychotherapeutischen Behandlungen, zu untersuchen. Literatur Bahr, F. R., Zeitler, H. (Hrsg.) (1991): Meridiane, ihre Punkte und Indikationen. Bd. 4: Grundlagen. Lehrbuchreihe Wissenschaftliche Akupunktur und Aurikulomedizin. 3. Aufl. Vieweg, Braunschweig / Wiesbaden Bischof, M. (1999): Das innere und das äußere Licht. In: Lassek, H. (Hrsg.): Die Wissenschaft vom Lebendigen. Sentner, Berlin, 53-110 Boadella, D. (1988): Wilhelm Reich. Frankfurt/ M., Fischer Brennan, B. A. (1989): Licht-Arbeit. Goldmann, München Caltech Magazine (1974): Take the world from another point of view. Engineering and Science 37 (4), 11-25. In: calteches.library.caltech. edu/ 3012/ 1/ PointofView.pdf, 20.9.2021 Carle, L. (2002): Das Energiekonzept in der Bioenergetischen Analyse und Therapie. In: Koemeda-Lutz, M. (Hrsg.): Körperpsychotherapie-- Bioenergetische Konzepte im Wandel. Schwabe, Basel, 151-182 Dieckmann, B., Heinloth, K. (1997): Energie. Springer, Berlin Dietrich, R., Pechtl, W. (1995): Energie durch Übungen. Eigenverlag, Salzburg Dobrin, R., Kirsch, C., Kirsch, S., Pierrakos, J. (1984): Experimental measurements of the human energy field. Synthesis, Essen Geuter, U. (2015): Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die Klinische Praxis. Springer, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978- 3-642-04014-6 von Grot, N. (1898): Die Begriffe der Seele und die psychische Energie in der Psychologie. Archiv für systematische Philosophie 4, 1 Jantsch, E. (1979): Die Selbstorganisation des Universums. Hanser, München Ho, M.-W., Popp, F.-A., Warnke, U. (Hrsg.) (1994): Bioelectrodynamics and biocommunication. World Scientific, London Jung, C. G. (1948): Über psychische Energetik und das Wesen der Träume. Rascher, Zürich Laplanche, J., Pontalis, J. B. (1980): Das Vokabular der Psychoanalyse. 1. Bd. 4.-Aufl. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Energie: Ein universelles Wirkprinzip 21 1 | 2022 Lowen, A., Lowen, L. (1985): Bioenergetik für Jeden. Das vollständige Übungshandbuch. Kirchheim, München Mahr, R. (2005): Ein Energiekonzept der Bioenergetischen Analyse. In: Forum der Bioenergetischen Analyse 1, 17-30 Popp, F. A. (1985): Molekulare und biophysikalische Aspekte der Malignität. Verlag Grundlagen und Praxis, Leer Rees, G., Tschacher, W., Znoj, H. (2014): Nonverbale Synchronisation in Dyaden: Ein Vergleich von kooperativen und kompetitiven Interaktionen. Dissertation an der Universität Bern Reich, W. (1987): Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus. Kiepenheuer & Witsch, Köln Rhodes, R. E., Janssen, I., Bredin, S. S. D., Warburton, D. E. R., Bauman, A. (2017): Physical activity: Health impact, prevalence, correlates and interventions. Psychology & Health, 32 (8), 942-975 Schumacher, Y. O., Schmid, A., Grathwohl, D., Bultermann, D., Berg, A. (2002): Hematological indices and iron status in athletes of various sports and performances. Medicine & Science in Sports & Exercise 34, 869-875 Stock, M. (2018): Klima, Klimawandel. In: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Handwörterbuch der Stadt- und Raumentwicklung. Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover, 1077-1098 Tschacher, W., Storch, M. (2017): Embodiment: Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Hogrefe, Bern Tschacher, W., Bannwart, B. (2021a): Embodiment und Wirkfaktoren in Therapie, Beratung und Coaching. Springer, Berlin Tschacher, W., Bannwart, B. (2021b): Embodiment und Wirkfaktoren in Therapie, Beratung und Coaching. Organisationsberatung, Supervision, Coaching 28, 73-84, https: / / doi.org/ 10.1007/ s11613-021-00690-y Wilson, B. W., Stevens, R. G., Anderson, L. E. (1989): Minireview: Neuroendocrine mediated effects of electromagnetic-field exposure: possible role of the pineal gland. Life sciences. Elsevier, Kidlington / Oxford Warburton, D. E., Haykowsky, M. J., Quinney, H. A., Blackmore, D., Teo, K. K., Taylor, D. A., Mc-Gavock, J., Humen, D. P. (2004): Blood volume expansion and cardiorespiratory function: Effects of training modality. Medicine & Science in Sports & Exercise 36, 991-1000 Wu, R., Zhu, L., Jonasson, T. (2008): Die Vielfalt des Tai Chi Chuan und seine Verankerung in der Traditionellen Chinesischen Medizin. Bacopa, Schiedlberg Dr. Dipl. Psych. Margit Koemeda-Lutz Eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin in eigener Praxis; Bioenergetische Analytikerin; Fakultätsmitglied SGBAT, IIBA; Weiterbildungsleitung SGBAT; Mitherausgeberin „körper-- tanz-- bewegung“. Dr. rer. nat. Ruben Gutzat Geboren in Australien, Diplom- Biologe Universität Konstanz, Dr. rer. nat. an der ETH Zürich. Zurzeit Forschung im Bereich Epigenetik am Gregor Mendel Institut in Wien. ✉ Dr. Dipl. Psych. Margit Koemeda-Lutz „Breitenstein“ Fruthwilerstrasse 70 | CH-8272 Ermatingen koemeda@bluewin.ch