eJournals körper tanz bewegung 10/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Eine Frau boxt sich durch

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2022
Sara Delle Karth
Ann-Kristin Hörsting
Therapeutisches Boxen bereichert als vorwiegend nonverbale Therapiemethode im Setting von psychiatrischen Kliniken den ganzheitlichen Therapieansatz. Es fördert durch eine Auseinandersetzung mit der inneren Haltung und dem eigenen Körper Fitness und Identitätsfindung und kann neben kurzfristig wohltuenden körperlichen und mentalen Effekten auch eine nachhaltige Wirkung auf das Wohlbefinden, Emotionsregulierung, Selbst­sicherheit und Interaktion mit anderen Personen erzielen.
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Forum: Aus der Praxis 22 körper-- tanz-- bewegung 10. Jg., S. 22-31 (2022) DOI 10.2378 / ktb2022.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Eine Frau boxt sich durch Therapeutisches Boxen im stationären Setting zur Selbstwahrnehmung und Identitätsfindung Sara Delle Karth und Ann-Kristin Hörsting Therapeutisches Boxen bereichert als vorwiegend nonverbale Therapiemethode im Setting von psychiatrischen Kliniken den ganzheitlichen Therapieansatz. Es fördert durch eine Auseinandersetzung mit der inneren Haltung und dem eigenen Körper Fitness und Identitätsfindung und kann neben kurzfristig wohltuenden körperlichen und mentalen Effekten auch eine nachhaltige Wirkung auf das Wohlbefinden, Emotionsregulierung, Selbstsicherheit und Interaktion mit anderen Personen erzielen. Schlüsselbegriffe Körpertherapie, Therapeutisches Boxen, psychiatrische Erkrankungen, Integrative Therapie, ganzheitlicher Ansatz, Fallbeispiel A Woman Fights Her Way Through. Therapeutic Boxing in an Inpatient Setting for Self-Awareness and the Search for Identity As a nonverbal therapy, therapeutic boxing enriches the holistic treatment approach in psychiatric clinics. It facilitates engagements with both inner feelings and the body, which increases fitness and a sense of identity. This can lead to short-term positive psychological and physiological impacts, but also a lasting impact on wellbeing, emotion-regulation, self-confidence and interaction with other people. Key words body therapy, therapeutic boxing, psychiatric illnesses, integrative therapy, holistic approach, case study „Es ist meine Gabe. Ich lasse diese Negativität an mir abperlen, wie Wasser an einer Ente abperlt. Wenn es nicht positiv ist, höre ich es nicht. Wenn du das überwinden kannst, ist alles einfach.“ (George Foreman) Therapeutisches Boxen Das Therapeutische Boxen ist eine Kombination gängiger therapeutischer Ansätze mit einzelnen Elementen aus dem klassischen Boxsport (Hölter 2011). Spezifische Fachliteratur ist schwer zu finden (Angermann 2020). Schwerpunktmäßig geht es um die Wahrnehmung des eigenen Körpers, Spannungsabbau, Lösen von Blockaden, Affektkontrolle und Emotionsregulation (Trauner 2008). Es kann in verschiedenen Behandlungsfeldern ambulant und stationär, im Innenbereich und Außenbereich, einzeln und in der Gruppe und in fast allen Altersbereichen angeboten werden (Henning 2006, 2019). Es ist ein methodischer Ansatz der beispielsweise auch in Jugendeinrichtungen, z. B. zur Therapeutisches Boxen im stationären Setting 1 | 2022 23 Gewaltprävention, genutzt wird (Impulsinstitut 2019). Bei uns ist er Bestandteil der Bewegungstherapie. PatientInnen erhalten Hilfe zur Selbsthilfe, erleben eine Steigerung des Selbstvertrauens und lernen, Spannungen auszuhalten oder abzubauen und Konflikte zu bewältigen, indem sie bei sich und beim Gegenüber Grenzen erkennen und wahren (Mösch 2015). Durch sehr unterschiedliche, flexible und individuell einsetzbare Trainingsmethoden werden Hilfesuchenden effiziente lösungsorientierte Möglichkeiten für ihre jeweiligen individuellen Anliegen (wie Aufbau von Selbstvertrauen, Teamfähigkeit, Minderung von Antriebsschwäche, Erlernen von Selbstwirksamkeit uvm.) geboten (Hartmann et al. 2011). Die Auftragsklärung und Psychoedukation ist ein erster und ein sehr wichtiger Schritt, um die Anliegen der PatientenInnen zu verstehen und die weiteren Möglichkeiten und das Setting abzustimmen. Um Effekte zu spüren und das Erlebte nachhaltig zu verankern, liegt in der gemeinsamen Reflexion ein weiterer Schwerpunkt. Durch die wiederkehrende Aufforderung, die Übungen im Alltag anzuwenden, werden Selbstregulation und Selbstbehauptung erlernt, die es PatientInnen ermöglichen, Ziele auch außerhalb der Therapie und poststationär durch lösungsorientiertes und realitätsgerechtes Handeln nachhaltig umzusetzen. Dieses Üben trägt zur Identitätsfindung und authentischen Kommunikation bei. PatientInnen werden ermutigt, einen „persönlichen individuellen Skill-Koffer“ anzulegen und eigenständig Übungen regelmäßig durchzuführen. Die therapeutischen Boxtrainings werden in der Regel nur einbis zweimal in der Woche unter Anleitung durchgeführt, um das eigene Training anzuregen. Therapeutisches Boxen ist in der Theorie oft streng didaktisch und direktiv aufgebaut, in der therapeutischen Praxis zeigte sich, dass es hohe individuelle Unterschiede und verschiedenartigen Bedarf gibt (Angermann 2020). Je nach Behandlungsfeld, Gruppen- oder Einzelarbeit wird bei einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von drei bis 6 Wochen meist über eine deutliche Verbesserung von Befinden und Krankheitssymptomen berichtet. Auch wenn Berufskollegen skeptisch reagierten, dass wir Boxen in der stationären Akutpsychiatrie anbieten, sind die Rückmeldungen von Teammitgliedern und PatientInnen positiv und motivieren uns, diesen Weg weiterzuverfolgen. Anhand der Fallbeschreibung stellen wir das Thema praxisnah vor. Der Fall von Frau B. Frau B. befand sich mehrere Monate aufgrund der Verschlechterung der langjährig bekannten Depression in stationärer akutpsychiatrischer Behandlung. Sie berichtete zudem, dass ihre Probleme in der Akzeptanz des eigenen Körpers und Aussehens zugenommen hatten. Sie denke, sie müsse sich als gestandene Frau mit 48 Jahren nicht mehr unsicher und nicht wahrgenommen fühlen. Seit ihrer Jugend hatte sie diverse Diskriminierungen und Abwertungen ihrer Person und Körperlichkeit erfahren. Auch sie selbst hatte kein positives Bild von ihrem eigenen Körper entwickeln können, sie beschrieb sich als unsportlich, übergewichtig und unscheinbar. Sie lebte alleine und verließ das Haus nur für Arzttermine, alle anderen Erledigungen machte sie digital (z. B. über Internetbestellungen und Lieferdienste), da sie über kein hilfreiches soziales Netz verfügte. In der Öffentlichkeit erlebte sie starke Angstgefühlen im Kontakt mit anderen, die zu einem Rückzug aus der Situation und zu selbstabwertenden Gedanken im Anschluss daran führten. MitarbeiterInnen aus der Pflege und den Spezialtherapien berichteten, dass Frau B.’s Auftreten auch in Kontakten mit Fachpersonen von Unsicherheit geprägt war. Sie traute sich insgesamt fast nichts zu; was sich auch durch eine gebeugte Körperhaltung und reduzierte Mimik zeigte. Bestimmte Regionen ihres Kör- 24 Delle Karth, Hörsting 1 | 2022 pers (z. B. die Bauch- und Hüftregion sowie ihre Beine) spürte sie kaum (was in einem früheren Arztbericht als Depersonalisation beschrieben wurde), und andere Regionen spürte sie zu stark (was sich in Form von Rückenschmerzen äußerte). Auch den Mut für soziale Situationen aufzubringen, z. B. alleine einkaufen zu gehen oder die Initiative für ein Gespräch zu ergreifen, fehlte ihr. In den Therapien und im Kontakt mit Fachpersonen wurde sie zwar als zurückhaltend erlebt, dennoch hatte sie an allen vorgeschlagenen Therapieangebote aktiv teilgenommen und hatte angegeben, davon zu profitieren. Ein großer Leidensdruck und gute Behandlungseinsicht waren deutlich erkennbar. Sie wollte etwas verändern und erhoffte sich durch die stationäre Behandlung eine Besserung der Depression und sozialen Ängste. Auf den Vorschlag der Bewegungstherapeutin, dass gerade sie neben den anderen multiprofessionellen Therapieangeboten das Therapeutische Boxen ausprobieren sollte, reagierte sie zunächst mit Unverständnis und irritiert. Sie sagte, dass Gewalt nichts für sie sei und dass Boxen doch eher etwas für Männer oder für sportliche Patienten sei. Über eine edukative Erklärung wurde ihr vermittelt, warum die Bewegungstherapeutin genau diesen Ansatz als hilfreich bei Depressionen und Ängsten ansehe. Die Patientin erfuhr, dass im Therapeutischen Boxen sowohl wahrnehmende Übungen und Atemtechniken erlernt werden als auch aktive sportliche Bewegungen alleine, mit einem Boxsack oder einer anderen Person durchgeführt werden können. Es wurde ihr angeboten, individuelle Ziele festzulegen, um dann zu schauen, ob diese (auch) durch das Therapeutische Boxen erreicht werden könnten. Frau B. willigte daraufhin ein, es auszuprobieren. Besonders ein Zitat, das sie zufällig in einer Zeitschrift las, hatte ihr in diesem Moment gefallen, sie hatte es sich aufgeschrieben und als Motivationshilfe genutzt: „Ich bin ein Träumer. Ich muss träumen und nach den Sternen greifen, und wenn ich einen Stern verfehle, dann schnappe ich mir eben eine Handvoll Wolken.“ (Mike Tyson; Anmerkung der Autorinnen: Der hier angeführte Boxer ist bezüglich seiner Selbstregulationskompetenz und seinem Umgang mit Affekten nicht unumstritten. Wir haben dennoch das gewählte Zitat der Patientin in den Text einfließen lassen.) Dabei war es ihr wichtig, Therapeutisches Boxen im Einzelsetting durchzuführen, um nicht von dem dauernden Gedanken abgelenkt zu werden, wie ihr Verhalten oder ihr unsportlicher Körper auf andere wirke. Dies zeigte, wie viele Sorgen sich die Patientin um eine Bewertung durch andere Personen machte und dass sie eine Abwertung befürchtete. In therapeutischen Gesprächen wurde jedoch deutlich, dass Frau B. eigentlich soziale Situationen und den Kontakt mit Menschen schätzte, dabei aber übermäßig hilfsbereit war und sich nur wenig durchsetzen und abgrenzen konnte. Sie fühlte sich abwechselnd nicht wahrgenommen oder dann auch wieder in Beziehungen zu anderen Personen ausgenutzt. Sie hoffte: „Wenn ich selbstbewusst wäre, dann würde ich soziale Situationen nicht meiden, dann würden mich Kommentare zu meiner Person nicht verletzen, dann würde ich nicht mehr Dinge anderen zuliebe tun.“ Über verbale therapeutische Methoden wurde als genereller Therapieauftrag der Patientin eine Verbesserung der Selbstwahrnehmung, Selbstfürsorge und Interaktion mit anderen festgelegt. Als Auftrag für die Bewegungstherapie definierte sie, dass sie im Therapeutischen Boxen lernen wollte, ihren Körper wahrzunehmen und sich selbst positiver zu sehen. Sie wollte auch von anderen „mehr gesehen werden“ und „sich durchsetzen können, aber ohne Gewalt“. In den ersten Stunden lernte Frau B., gerade und aufgerichtet zu stehen und einen sicheren Stand einzunehmen. Es wurde eine Fokussierung auf achtsames Atmen gelegt. Es folgten Therapeutisches Boxen im stationären Setting 25 1 | 2022 Aufforderungen, den Blick nach vorne zu richten, zuvor einen guten Bodenkontakt mit festem Stand einzunehmen und langsam eine Spannung in der Körpermitte herzustellen. Dabei wurden Metaphern verwendet wie „einen festen Stand haben“, „die Kraft in der Körpermitte wahrnehmen“ und „geerdet sein“. Nachdem ihr dies gut gelang, wurde sie aufgefordert, in ihrer mentalen Vorstellung einen eigenen Schutz aufzubauen. Sie sollte sich vorstellen. wie eine Kraft in ihr entstehe und wie diese Kraft nach außen strahle. Sie stellte sich die Kraft als warme, angenehme, durchsichtige Energie-Kugel in ihrer Mitte vor, die immer größer wurde (bis über ihre Körpergrenze hinaus). Diese für Frau B. vorerst doch sehr ungewohnte Haltung und Sichtweise gab ihr dann aber doch in erstaunlich schneller Weise innere Stabilität, Kraft und Vertrauen für eine nächste Teilnahme, sie zeigte neben Zeichen für Anstrengung auch deutlich ihre Freude über das Erreichte. Es fiel ihr zunächst noch schwer, bestimmte Körperregionen (Hüftregion und untere Bauchregion) zu spüren (diese sind wichtig für den Aufbau einer Spannung in der Körpermitte). Diese Körperorte waren jedoch am nächsten Tag teilweise im Sinne eines leichten Muskelkaters für sie wahrnehmbar, was sie freute. Den Muskelkater empfand sie nicht als unangenehm, sondern reframte diesen als einen Beweis für ihre Leistung am Vortag. In psychotherapeutischen Gesprächen konnte sie einen Zugang den Themen „Weiblichkeit“, „Rolle als Frau“ und „Älter werden“ finden. Sie beschäftigte sich mit verschiedenen Punkten, die sich alle um das übergeordnete Thema „eigene Identität“ drehten. Mit Hilfe der therapeutischen Begleitung traute sich die Patientin nach kurzer Zeit dann auch Boxbewegungen zu. Der Fokus wurde dabei weiterhin auf eine gleichmäßige Atmung und sanft geführte Bewegungen gelegt. Dabei sollte Frau B. darauf achten, ihren sicheren Stand und die Gefühle von Sicherheit und „einen eigenen Schutz zu besitzen“ beizubehalten. Insbesondere das achtsame und bewusste Atmen half der Patientin. Daher wurde sie angeleitet, nach einem normalen Einatmen ein tiefes aktives Ausatmen durchzuführen und der damit verbundenen Kraft nachzuspüren. Sie empfand dabei eine Wärme in den Armen und probierte verschiedene Varianten aus, bis hin zum lauten Ausatmen, sogar ein lautes NEIN kam hin und wieder über ihre Lippen. Dabei war sie konzentriert und arbeitete sehr aktiv. In der Reflexion über die Übung äußerte sie, sich körperlich erschöpft und gleichzeitig energievoll zu fühlen. Das Ziel, sich besser zu spüren, hatte sie in solchen Momenten erreicht, und genau an diesem Ziel wollte sie „weiter dranbleiben“, da es ihr guttäte. Sie war stolz, es so weit geschafft zu haben. Sie hatte sich sogar getraut, die Übung mit der Aufforderung der Therapeutin (tiefes Ausatmen) durchzuführen und um das Wort „nein“ zu ergänzen. Als Ziel für die nächsten Stunden wollte sie weitere Techniken lernen, um sich mehr in sozialen Situationen abzugrenzen, was ihr großen Mut abverlangte. Das regelmäßige Reflektieren der Stunde mit Transfer der Themen in den Alltag wurde für Frau B. immer mehr zur Gewohnheit, so dass sie einmal sagte: „Auch wenn ich nicht in der Therapiestunde bin, frage ich mich selber, was dies oder das eigentlich für mein Leben bedeutet, also auch für die Zeit nach der Klinik.“ Es fiel ihr zudem immer leichter, über Geschehenes zu reden und dabei aufkommende Körperwahrnehmungen zu beschreiben und zuzuordnen. Je mehr ihre Scham zu reden abnahm und je mehr Vertrauen entstand, umso mehr fand auch die reflektierte Auseinandersetzung mit Gefühlen von bisher „vermiedener“ Wut und Aggression statt. In der Bearbeitung der Lebensthemen fanden sich immer wieder Ereignisse, die in der Interaktion mit anderen Menschen zu Abwertung oder grenzüberschreitendem Verhalten geführt hatten. An manchen Stunden reagierte die Patientin auch verspielter und empfand Freude und Stolz. Den sicheren Stand und 26 Delle Karth, Hörsting 1 | 2022 die Atemtechniken aus dem Boxtraining nutzte Frau B. auch nach der stationären Behandlung in Stresssituationen, bei Auseinandersetzungen in der Familie, Konflikten im Beruf oder bei sozialen Alltagssituationen wie beispielsweise in der Warteschlange beim Einkaufen. Sie konnte nach einiger Zeit den Körper, den sie zuvor als „beschädigt“, „schlapp“, „unweiblich“ und „alt“ beschrieben hatte, wohlwollender betrachten und ihre eigene Identität aufbauen. Sie beschäftigte sich mit dem Thema „Körperlichkeit“ und auch mit dem Thema „Rollenverständnis“. Auch die Angst vor dem Thema „Gewalt“ nahm mit zunehmender Selbstsicherheit ab. Sie erlebte einen deutlichen Unterschied zwischen einem klaren selbstsicheren Auftreten beim Therapeutischen Boxen und dem Verhalten von aggressiven, gewalttätigen Menschen. Auf eindrückliche Art kam dies einmal in einer Patientenrunde zur Sprache: „Gewalt ist ja nicht eine Sportart an sich wie Boxen oder sowas, Gewalt ist ja, wie ein Mensch dies einsetzt.“ Sie brachte diesbezüglich immer wieder Zitate von umstrittenen Boxern mit, die mit ihr thematisiert wurden. Die Patientin nutzte diese Sprüche auf eine konstruktive Art als Motivationshilfe und wollte versuchen, sich mutig und flexibel an Situationen anzupassen, ohne sich dabei klein zu machen oder ängstlich zu sein. Sie wollte Situationen und Menschen respektvoll auf Augenhöhe begegnen. Es war merklich zu spüren, dass das Thema Boxen auch außerhalb der Therapiestunde nachwirkte und zur Auseinandersetzung mit Lebensthemen führte. Dies erinnerte uns an das erste Zitat im Artikel, welches wir PatientInnen manchmal anbieten, die sich schnell in ihre Emotionen hineinsteigern. Wir fordern sie auf, Emotionen zu regulieren und sich von diesen nicht leiten zu lassen. Der Aspekt, dass Boxer nicht blind vor Wut um sich schlagen, ist manchen TeilnehmerInnen neu, allen wird es jedoch schnell verständlich. Ablauf im therapeutischen Kontext der Akutpsychiatrie und Erläuterung der Effekte Zunächst wird dem Patienten erklärt, was Therapeutisches Boxen ist, und die individuellen Ziele und das Setting (z. B. Einzeltraining oder Gruppentraining) festgelegt. Zuvor wird im multiprofessionellen Team bei jedem Patienten der generelle Therapieauftrag festgelegt, an dem sich auch das therapeutische Boxen orientiert. Wir erklären den PatientInnen beispielsweise, dass sie mit Hilfe des Therapeutischen Boxens einen Zugang zu verschiedenen Emotionen finden können, den Körper besser wahrnehmen lernen, die innere Anspannung lösen und den Antrieb stärken können. PatientInnen in der Psychiatrie leiden trotz gefühlter Antriebslosigkeit gleichzeitig oft unter einer starken inneren Anspannung (Hartmann et al. 2011; Henning 2006, 2019; Velasques et al. 2011; Vancampfort et al. 2012). Diesen PatientInnen mit verschiedenen Krankheitsbildern fällt es dadurch schwer, an einem Entspannungs- oder Achtsamkeitstraining teilzunehmen (Schaefgen 2007). Gerade hier startet der Prozess im Therapeutischen Boxen: sich etwas zu trauen, Mut zu haben. Insbesondere bei PatientInnen mit geringem Selbstwert konnten TherapeutInnen positive Erfahrungen ermöglichen: einen sicheren Stand erlernen, Körperspannung aufbauen und die eigene Kraft spüren. Diese Wahrnehmungsübungen helfen ganz entscheidend, Selbstwirksamkeit zu spüren und das Selbstwertgefühl zu stärken (Henning 2019). Dies steigert das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und ermöglicht, sich und seinem Körper etwas zuzutrauen. Diese Effekte und Trainingsschwerpunkte lassen sich therapeutisch nutzen (Hölter 2011). Neben dem „Auspowern“ und Steigerung der Fitness / Kondition im Rahmen der körperlichen Aktivierung liegt der Fokus des Therapeutischen Boxens auf dem Erleben, dem Verhalten und der Kommunika- Therapeutisches Boxen im stationären Setting 27 1 | 2022 tion mit sich und mit anderen (Angermann 2020; Henning 2019). Die Kommunikation wird gefördert, indem auf eine eigene authentische Kommunikation geachtet wird. Nonverbale kommunikative Elemente werden wahrgenommen und rückgemeldet: zuerst im Einzelsetting, dann zu zweit, dann in der Gruppe. Auf kleine Änderungen in der Interaktion wird geachtet, Abläufe eingefroren (stop) und dann gesprochen, wie es sich innerlich anfühlt. Dadurch wird Kommunikation (Ausdruck) besser erspürt und zielgerichtet, aber auch intuitiv eingesetzt. Das Boxen kann gezielt zum Abbau angestauter Emotionen, wie Aggression und Wut, aber auch zur Stressreduktion eingesetzt werden. Der sportliche Gedanke bzw. Trainingsaspekt steht dabei klar erst an zweiter Stelle (Velasques et al. 2011). In jeder Gruppensitzung oder Einzelstunde werden mehrmals das Reflektieren und das Zuhören geübt; die Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion werden eingefordert und dadurch konsequent gefördert. Die hohen Anforderungen an Konzentration, Reaktionsfähigkeit und Koordination lassen Belastungen aus dem Alltag in den Hintergrund treten. Das Training fordert ein Fokussieren auf das Hier und Jetzt (Mösch 2015). Wichtig ist es auch, die Stunde immer- - ähnlich einem Ritual- - mit Aufwärmübungen zu beginnen, den Köper zu lockern und die Gedanken zu ordnen. Die Autorin dieses Beitrags Sara Delle Karth startet ihre therapeutische Boxgruppe immer gleich. Rituale verbinden und machen den Start einfacher, jede/ r PatientIn wird als Individuum gesehen, darf mit seinem eigenen Thema kommen. Wenn zum Abb. 1: Therapeutisches Boxen beinhaltet ruhige achtsame (Bild links) und aktivierende dynamische Elemente (Bild rechts). Fotos: Autorin 28 Delle Karth, Hörsting 1 | 2022 Beispiel ein Patient mit depressiver Symptomatik eher matt und sich körperlich müde fühlt, über wenig Durchhaltevermögen und diverse Schmerzen klagt und seine Bewegungen bei geringem Muskeltonus langsam sind (Henning 2008), profitiert er von Übungen, die den sicheren Stand fördern. Hier wird beim Therapeutischen Boxen angesetzt: Aufrichten, den sicheren Stand üben und mit leichten, bekannten und sanften Bewegungen starten. Bei verschiedenen psychiatrischen Krankheitsbildern nehmen die PatientInnen den Körper nur zum Teil, verändert oder gar nicht wahr (Velasques et al. 2011). Durch das gezielte Fokussieren auf Armbewegungen und die Variationen von räumlicher Nähe und Distanz wird nicht zuletzt die Autonomiefähigkeit der Person angeregt (Hölter 2011; Henning 2019): Es gilt, in jeder Stunde das eigene Potential jemandem zuzumuten und auch den Anderen darin auszuhalten (Eigen- / Fremdwahrnehmung). Durch gezielte Übungen und bewusste Fragen mit einer Reflexion zur Wahrnehmung und zu den Körperzuständen wird der Körper in jeder Stunde aktiviert, die innere Anspannung wird reduziert und die Körperwahrnehmung verbessert. Wahrgenommene Affekte und Gefühle sollen möglichst auch benannt werden (Angermann 2020). Auch das „Auspowern“ kann und darf aber ein Thema sein, muss es aber nicht (Trauner 2008). Der körperliche Trainingseffekt ergibt sich meist nebenher, insbesondere die bilaterale Hemisphärenstimulation scheint auch koordinative Fähigkeiten zu stärken (Schaefgen 2007). Da wir auf die Fitness, Konditions- oder Krafteffekte keinen besonderen Schwerpunkt setzen, senken wir die Schwelle, sich auf das Therapeutische Boxen einzulassen. Ein weiterer positiver Aspekt ist die Flexibilität und Pluralität: Die verschiedenen Arten von Boxtraining ermöglichen ganz verschiedene Spielarten: ob mit dem Therapeuten, als Abb. 2: Achtsamkeitsbasiertes therapeutisches Boxen erweitert das Spektrum der Erlebens- und Verhaltensweisen. Foto: Autorin Therapeutisches Boxen im stationären Setting 29 1 | 2022 Zweierteam direkt mit MitpatientInnen, als Gruppe, alleine für sich am Boxsack. In jedem Fall werden der klassische Rahmen und die Techniken des Boxens genutzt, um die eigene Kraft und das Bewegungstempo angemessen zu steigern oder zu reduzieren und sich selbst kraftvoll zu erleben. So sind Partnerübungen, Schattenboxen, Doppelendball, Boxsackübungen, Atmungsübungen, Boxtechniktraining oder der Einsatz von Pratzen nur einige Varianten, die im Therapeutischen Boxen genutzt werden können (Angermann 2020; Trauner 2008; Hartmann et al. 2011). Hier kann der Therapeut zwar Vorschläge machen, wichtig ist jedoch eine Begegnung auf Augenhöhe und ein Erfragen der Bedürfnisse, denn oft spüren die PatientInnen ganz genau, welches Mittel/ Gegenstand ihnen in der aktuellen Situation zusagt. Ein neugieriges Fragen, ein Joining und Orientierung an den Wünschen und Bedürfnissen der PatientInnen spielen eine wichtige Rolle. Das „Cooling down“ ist ein ebenso integraler Bestandteil der Sitzungen wie das Aufwärmen und ist als immer gleich bleibendes Ritual zu sehen, um den Körper zu lockern, Gedanken für sich zu ordnen bis hin zur Reflexion von Erlebtem (Angermann 2020). Im Laufe der weiteren Sitzungen steigern der / die BewegungstherapeutIn und Co-TherapeutIn die Intensität und Schwierigkeitsgrad der Übungen (Angermann 2020). Die Reflexion soll weiter geübt und vertieft werden, auch das Zuhören der anderen TeilnehmerInnen kann hilfreich sein, um zu erkennen: „Ich bin nicht allein mit meinen Sorgen / Ängsten / Themen“. Dies wird auch bei Partnerübungen Abb. 3: Partnerübung zur Eigen- und Fremdwahrnehmung Foto: Autorin 30 Delle Karth, Hörsting 1 | 2022 deutlich: Wie viel gebe ich an Widerstand, und wie viel lasse ich zu? PatientInnen müssen sich aufeinander einstellen, und ihre Interaktion wird gefördert. In der Gruppe kann es auch um das Aushalten sozialer Situationen oder Aushalten früherer angstauslösender Situationen gehen. Hier nehmen die Vor- und Nachbesprechung sowie Auswahl geeigneter TeilnehmerInnen zeitlich einen größeren Teil in Anspruch als im Einzeltraining. Besonders wichtig ist es auch hier, nach der Stunde oder im Verlauf einen Transfer in den Alltag zu bahnen, um das Erlebte nachhaltig zu verankern. Zusammenfassung Das Therapeutische Boxen im Setting einer psychiatrischen Klinik kann für fast alle PatientInnen unabhängig vom Alter, Geschlecht, Herkunft, zugrundeliegender Krankheit und Vorerfahrung oder Fitness angeboten werden. Hauptfokus liegt dabei im körperlichen Erleben, um dadurch einen Zugang zu den Emotionen und der eigenen Identität zu finden. Geeignet ist das Therapeutische Boxen für Menschen, die ihren inneren Antrieb stärken wollen, oder für Personen, die sich mit ausgelebter oder gehemmter Wut, nicht wahrgenommener Aggression oder selbstverletzenden Verhaltensweisen auseinandersetzen möchten, also zum Beispiel für PatientInnen mit Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, PTBS, ADHS und Psychose-Spektrum-Erkrankungen. Für eine Gruppentherapie „Therapeutisches Boxen“ sollte neben einer durchschnittlichen körperlichen Belastbarkeit auch eine Gruppenfähigkeit gegeben sein. Folgende Punkte schließen eine Teilnahme an der Gruppentherapie aus: schwere akute Fremd- / Eigengefährdung, bekannte Neigung zu unkontrollierbarer körperlicher Gewalt gegenüber anderen, schwerer akuter psychotischer Zustand, Intoxikation. In unserer Klinik erleben wie sowohl von PatientInnen als auch vom Personal auf den verschiedenen Stationen seit Einführung eine durchaus breit gestützte positive Resonanz. Das Therapeutische Boxen wird als sinnvolle Komplementärtherapie angesehen und gerne verordnet. Literatur Angermann, M. (2020): SysTheBo-- Therapeutisches Boxen mit System. 3. Aufl. Books on Demand, Norderstedt Hartmann, C., Minow, H.-J., Senf, G. (2011): Sport verstehen-- Sport erleben. Lehmanns, Köln Henning, A. (2019): Therapeutisches Boxen bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen. Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie 23 (2), 147-150 Henning, A (2008): Psychiatrie: Boxen als Therapie. Physioactive 2, 8-13 Henning, A. (2006): Geballte Wut tut gut. Physiopraxis 4, 32-35, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-0032-1308011 Hölter, G. (2011): Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen. Grundlagen und Anwendung. Deutscher Ärzte Verlag, Köln, https: / / doi. org/ 10.47420/ 9783769137149 Impulsinstitut (2019): Boxen in der Therapie-- Therapeutisches Boxen. In: www.impulscare. at/ boxen-in-der-therapie-therapeutischesboxen, 20.1.2021 Mösch, S. (2015): Auf einen Schlag-- therapeutisches Boxen und Boxcoaching. Physiopraxis 13 (10), 42-44, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-0041- 104253 Schaefgen, R. (2007): Sensorische Integrationstherapie. In: Scheepers, C., Steding-Albrecht, U., Jehn, P., Berting-Hüneke, C. (Hrsg.): Ergotherapie. Vom Behandeln zum Handeln. Lehrbuch für die theoretische und praktische Ausbildung. Thieme, Stuttgart, 342-348 Trauner, U. (2008): Therapeutisches Sandsackboxen. Gemeindenahe Psychiatrie 4, 179-190 Vancampfort, D., Probst, M., Skjaerven, L. H., Catalán-Matamoros, D., Lundvik-Gyllensten, A., Gómez-Conesa, A., Ijntema, R., De Hert, M. (2012): Systematic review of the benefits of physical therapy within a multidisciplinary Therapeutisches Boxen im stationären Setting 31 1 | 2022 care approach for people with schizophrenia. Physical Therapy 92, 11-23, https: / / doi.org/ 10.2522/ ptj.20110218 Velasques, B., Machado, S., Paes, F., Cunha, M., Sanfim, A., Budde, H., Cagy, M., Anghinah, R., Basile, L. F., Piedade, R., Ribeiro, P. (2011) Sensorimotor integration and psychopathology: Motor control abnormalities related to psychiatric disorders. World Journal of Biological Psychiatry 12, 560-573, https: / / doi.org/ 10.3109/ 15622975.2010.551405 Sara Delle Karth Diplom-Sportwissenschaftlerin. Sie arbeitet als Bewegungstherapeutin am ZfP Reichenau, Abteilung Psychiatrie, am Bodensee. Ann-Kristin Hörsting Psychiaterin und ärztliche Direktorin in einer deutschen Klinik und in einer Schweizer Praxis. Sie interessiert sich neben der leitliniengerechten Behandlung besonders für den Einsatz komplementärer Therapieformen, die den Genesungsprozess unterstützen. ✉ Sara Delle Karth ZfP Reichenau Feuersteinstraße 55 | D-78476 Reichenau s.dellekarth@zfp-reichenau.de