eJournals körper tanz bewegung 10/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Fachbeitrag: Schematherapeutische Aspekte in der Tanztherapie

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Andrea Du Bois
Der Artikel stellt kurz die Schematherapie vor und zeigt eine Methode auf, wie das Modusmodell der Schematherapie in die Tanztherapie nicht nur integriert werden kann, sondern wie in der Tanztherapie auftretende Phänomene für PatientInnen als Ausdruck von Schemata transparent gemacht werden können. Außerdem wird erläutert, wie mit aktivierten Modi in der therapeutischen Beziehung umgegangen werden kann, so dass der „gesunde Erwachsene“ der PatientInnen gestärkt wird.
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Fachbeitrag 101 körper-- tanz-- bewegung 10. Jg., S. 101-113 (2022) DOI 10.2378/ ktb2022.art15d © Ernst Reinhardt Verlag Schematherapeutische Aspekte in der Tanztherapie Andrea Du Bois Der Artikel stellt kurz die Schematherapie vor und zeigt eine Methode auf, wie das Modusmodell der Schematherapie in die Tanztherapie nicht nur integriert werden kann, sondern wie in der Tanztherapie auftretende Phänomene für PatientInnen als Ausdruck von Schemata transparent gemacht werden können. Außerdem wird erläutert, wie mit aktivierten Modi in der therapeutischen Beziehung umgegangen werden kann, so dass der „gesunde Erwachsene“ der PatientInnen gestärkt wird. Schlüsselbegriffe Schematherapie, Tanztherapie, Modus- Modell, therapeutische Beziehung, Selbst- und Emotionsregulierung, Verkörperung Schema Therapeutic Aspects in Dance Therapy The article briefly presents schema therapy, demonstrating how the mode model of schema therapy can not only be integrated into dance therapy, but also how phenomena that appear in dance therapy as an expression of schemes can be made transparent for patients. In addition, it explains how to deal with activated modes in the therapeutic relationship, so that the “healthy adult” is strengthened for patients. Key words schema therapy, dance therapy, mode model, therapeutic relationship, self and emotion regulation, embodiment D ie Schematherapie hat in den vergangenen Jahren bereits in einigen Kliniken Einzug gehalten, wodurch Tanztherapeut- Innen mit dieser Therapieform mehr in Kontakt kommen. So wurde Schematherapie auch auf meiner Station in der Klinik Hohemark, Oberursel, zunehmend einbezogen und ist inzwischen fester Bestandteil unseres Therapiekonzepts. Meine Tanztherapie-Ausbildung hat die Integrative Therapie von Hilarion Petzold zur Grundlage, die gestalttherapeutische, psychodramatische und tiefenpsychologische Ansätze zusammenführt, und in meinem Pädagogik-Studium konzentrierte ich mich auf die Transaktionsanalyse. Durch diese therapeutische Ausrichtung war mir die Schematherapie schnell vertraut, da sie viele der mir im Studium vermittelten Inhalte beinhaltet. Ausgehend von meiner praktischen Arbeit habe ich eine Methode entwickelt, die die Schematherapie in die Tanztherapie integriert. Der folgende Artikel ist ein Erfahrungsbericht meiner langjährigen Praxis mit dieser Methode, der auch von Erfahrungen anderer TanztherapeutInnen, die ich fortgebildet und supervidiert habe, untermauert wird. Tanztherapie ist eine erlebnis-, übungs- und prozessorientierte Therapie, die über leibliche Erfahrungen Veränderungen von Strukturen und Mustern sowie praxis- und alltagsnahe 102 3 | 2022 Andrea Du Bois Umsetzung ermöglicht. Die besondere Wirkweise der Tanztherapie liegt in den Erfahrungen von „vitaler Evidenz“ (Petzold, 2003, 77) durch die Verbindung der emotionalen Erfahrung, des leiblichen Erlebens und der rationalen Einsicht. Die emotionale Erfahrung und das leibliche Erleben sind in der Tanztherapie gut verankert. Das kognitive Verstehen, im Sinne vom Einordnen des Erlebten in der Tanztherapie für den Alltag, fällt vielen Patient- Innen meiner Erfahrung nach oft schwer. Genau dort kann die Schematherapie psychoedukativ in der Tanztherapie eingesetzt werden, denn PatientInnen schätzen diese Arbeitsweise, weil sie eine „Art und Weise [hat], die sehr gut verständlich und nachvollziehbar ist“ (Jacob et al. 2011, 9). Gemäß der hermeneutischen Spirale (Petzold, 2003, 404) kann die Tanztherapie mit dem Schwerpunkt auf der Wahrnehmung und das Erfassen der eigenen Bewegung und der Körperresonanz durch das Modus-Modell der Schematherapie im Verstehen und Erklären gut ergänzt werden. Durch das Verstehen können die PatientInnen die in der Tanztherapie gemachten Erfahrungen einordnen und dadurch eine Erleichterung und Entlastung erfahren. Das Erlebte kann besser integriert und im Alltag umgesetzt und genutzt werden. Die Tanztherapie wird dadurch meiner Erfahrung nach für viele PatientInnen greifbarer, und gemachte Erfahrungen erhalten dadurch einen anderen Sinn. Diese Transparenz gibt den PatientInnen Sicherheit in der für viele ungewöhnlichen Therapieform. Ich erlebe, dass sich PatientInnen durch den Einsatz des Modus-Modells der Schematherapie schneller auf Tanztherapie einlassen können, insbesondere sogenannte „kopfgesteuerte“ Menschen, da ihnen deutlich wird, dass sie die Therapiestunden, die Prozesse, mitsteuern können und nichts „mit ihnen passiert“. Außerdem erlebe ich einige PatientInnen, die mit Distanz und Vorsicht in die Tanztherapie kommen, weil sie sich vorstellen, dass die Tanztherapie zu emotionsbetont sei. Sie fühlen sich mit dieser Vorstellung überfordert. Das Modus-Modell kann sie an dieser Stelle gut abholen und ihnen den Weg in die tanztherapeutische Arbeit erleichtern. Was ist Schematherapie? Die Schematherapie ist eine Form der Psychotherapie und gehört der dritten Welle der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapien an (Roediger 2016, 4 ff ). Sie erweitert die Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie mit Elementen psychodynamischer Konzepte und Therapieverfahren wie der Transaktionsanalyse (Roediger 2016, 133), der Bindungstheorie (Roediger 2016, 53), der Tiefenpsychologie und emotionsorientierter Methoden wie der Gestalttherapie (Roediger 2016, 2). Sie wurde von Jeffrey E. Young für PatientInnen mit Persönlichkeitsstörungen bzw. schwierigen interaktionellen Mustern entwickelt, weil diese PatientInnengruppe auf die kognitive Therapie weniger reagiert hat (Roediger / Zarbock 2015, 60). Ein Schema ist ein übergeordnetes dysfunktionales Lebensthema oder Muster. Reagiert z. B. jemand besonders verzweifelt auf eine Absage von einer Freundin für ein Treffen und kommt dabei in innere Not, könnte das Schema des verlassenen Kindes aktiviert worden sein, weil früher keine stabilen Bindungen erlebt wurden und die aktuelle Absage dann das Schema „Verlassenheit“ aktiviert. So entstehen aus den Kernbedürfnissen, die nicht oder mangelhaft in der Kindheit und Jugend erfüllt wurden, die Schemata. Jedem emotionalen Kernbedürfnis sind spezielle Schemata zugeordnet (siehe Tab. 1; Young 2008). Als schematherapeutisch sogenannter „gesunder Erwachsener“ ist es möglich, sein Leben so zu gestalten, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden. „Es ist das zentrale Ziel der Schematherapie, den Patienten ein Bewusstsein ihrer Grundbedürfnisse zu vermitteln, hin- Schematherapeutische Aspekte in der Tanztherapie 3 | 2022 103 dernde Einflüsse (z. B. durch internalisierte, dysfunktionale Bewertungen) zu identifizieren und die Grundbedürfnisse zu erfüllen.“ (Roediger 2016, 15) Das Gehirn ordnet dem aktuellen Erlebnis ein passendes Muster aus früheren Erfahrungen zu. „Die Schemata enthalten alle Gefühle, Gedanken, Handlungsmuster und auch die vegetativen Reaktionen, die zu diesem Erlebnismuster bzw. zu dieser Szene gehören. Wenn wir etwas Neues erleben, aktiviert unser Gehirn automatisch das dazu passende Schema mit allen dazugehörigen Gedanken, Gefühlen usw.“ (Roediger 2022a, 2) und ist „geneigt, im Sinne der früheren Beziehungserfahrungen zu handeln“ (Roediger 2016, 15). Im positiven Fall können Situationen so schneller erkannt werden, im negativen Fall wird sich nach den alten Mustern verhalten, obwohl es zu der aktuellen Situation nicht passt. Diese verhaltenssteuernden inneren Strukturen sind aus psychologischer Sicht ein Schema. „Schemata können nur verändert werden, wenn sie aktiviert sind (Expositionsprinzip) und dabei durch neue Erlebnisse neue Erfahrungen zunächst gemacht und dann durch Übung ‚eingebrannt‘ werden (Trainingsprinzip).“ (Roediger 2022b, 1) Dass ein altes Schema aktiviert wurde, ist durch relativ starke, unvermittelt auftretende Gefühle erkennbar. D. h. das emotionale Gedächtnis, das die Gefühlsintensität von früher gespeichert hat, wird aktiviert. In der Tanztherapie und anderen körperorientierten Methoden werden durch ihre erlebnisaktivierenden Techniken oft Schemata aktiviert und deutlich, weil Erlebnisse in unserem Leibgedächtnis (Petzold 2003, 1076) abgespeichert sind und dort auch wieder abgerufen werden können. Auf dieser Ebene können dann nicht nur kognitiv, sondern auch leiblich neue Erfahrungen gemacht werden. Die unbewusste Steuerung durch die aktivierten Schemata wird bewusst gemacht und ist durch korrigierende emotionale Erfahrung in der Therapie veränderbar. Die PatientInnen erleben sich als selbstwirksamer (Roediger 2015, 64). Ist ein Schema aktiviert, stehen einem zunächst die Lösungsversuche aus der Kindheit zur Verfügung, die dort adäquat waren, aber oft für das Erwachsenenleben nicht mehr passend sind. In der Schema-Aktivierung können somit die neuen Möglichkeiten als Erwachsener nicht genutzt werden, da es darin „schwierig ist, das Verhalten mit dem Verstand zu steuern“ (Jacob et al. 2011, 18). Deswegen sollte die alte, kindliche Antwort zwar anerkannt werden, aber der „ge- Emotionales Kernbedürfnis Beispiele von Schemata Sichere Bindung zu anderen Menschen (Bedürfnis nach Sicherheit, Stabilität, Zuwendung, Liebe und Akzeptanz) Misstrauen, Verlassenheit, emotionale Vernachlässigung Unabhängigkeit, Kompetenz und Identitätsgefühl Abhängigkeit, Versagen Ausdruck von Gefühlen Unterordnung, Aufopferung Spontaneität, Spaß, Spiel Emotionale Gehemmtheit, Bestrafungsneigung Realistische Grenzen Unzureichende Selbstkontrolle, Anspruchshaltung Tab. 1: Ausgewählte Kernbedürfnisse und ihre Schemata 104 3 | 2022 Andrea Du Bois sunde Erwachsene“, der die „aktuellen Bedürfnisse [spürt] und was [man] eigentlich gerade braucht“ (Jacob et al. 2011, 95), sollte gestärkt werden, um gut für sich sorgen zu können. Die Therapie versucht, der Schemaentstehung auf den Grund zu gehen und dadurch eine Differenzierung von damaliger und heutiger Situation zu ermöglichen (Roediger / Zarbock 2015, 70). Durch diese Unterscheidung ist ein bewusstes Trennen der Gefühle von damals und heute möglich und damit auch eine Verhaltensänderung und korrigierende Erfahrungen. In der Therapie werden die „Selbstregulationsfähigkeiten der Patienten so weit trainiert […], dass sie eigenständig während der Aktivierung des alten Attraktors in den neuen Ordnungszustand wechseln können.“ (Roediger 2016, 25) Im gesunden Erwachsenen können sie dann ihr Leben so gestalten, dass eigene Bedürfnisse akzeptiert und erfüllt werden können (Jacob et al. 2011, 168). In der Therapie selbst wird direkt mit den Modi gearbeitet, in denen die PatientInnen sich befinden. Denn die Schemata sind „nicht direkt, sondern nur in ihrer aktivierten Form als Modus (‚state‘) beobachtbar“ (Roediger 2016, 12). D. h. ein Modus ist ein Aktivierungszustand, der sich in der Bewegung, Haltung und in starker Erregung und Emotion ausdrückt. Schematherapie in der Tanztherapie Das Modus-Modell in der Tanztherapie Die Psychoedukation des Modus-Modells mit den Modi des gesunden Erwachsenen, dem dysfunktionalen Eltern-Modus, dem Kind-Modus und dem Bewältigungsmodus findet in meiner Methode tanztherapeutisch über das eigene Erleben statt, d. h. Praxis und Theorie fließen ineinander (Processing, Petzold 2003, 494). Dadurch bleibt die Erklärung des Modus-Modells nicht in der Theorie, sondern die PatientInnen erleben ihre eigenen Modi und Psychodynamik am eigenen Leib, was eine direkte Betroffenheit auslöst und von Anfang an das Verständnis der Modus-Arbeit vertieft. Diese Herangehensweise ist anders als in der klassischen Schematherapie, in der das Modus- Modell kognitiv und anhand von einer „Moduslandkarte“ (Roediger/ Zarbock 2015, 63) erklärt wird. Verraumen des Modus-Modells Jeder Modus erhält einen eigenen, mit Seilen abgegrenzten Raum: Die drei Räume werden nebeneinandergelegt, wobei der gesunde Erwachsenen-Modus in der Mitte platziert wird, der dysfunktionale (Eltern-)Modus und der Kind-Modus rechts und links von ihm. Die PatientInnen können so in die Räume gehen und die Modi mit Bewegungen, Haltungen verleiblichen. Diese Möglichkeit des Verraumens (Baer/ Frick- Baer 2001, 284 ff ), intensiviert durch das Gehen „in den Raum des Modus“ die Erfahrung und ermöglicht gleichzeitig ein Aussteigen aus dem Modus. Hierbei ist das Verraumen eine effiziente Form der Regulation des Erlebten. Als erstes sollen die PatientInnen in den Raum des dysfunktionalen Eltern-Modus gehen und dort die dysfunktionalen inneren Leitsätze (Roediger 2016, 96) verkörpern, die von den Eltern oder von anderen Bezugspersonen (ErzieherInnen, LehrerInnen, Verwandte usw.) in der Kindheit gehört wurden, die sich „eingebrannt“, also verinnerlicht haben und damit noch aktiv sind. Es müssen nicht unbedingt verbale Sätze sein, es können auch atmosphärische Momente wie ein strafender Blick sein. Es werden also nur die dysfunktionalen Sätze herausgearbeitet wie z. B. „Reiß dich zusammen! “, „Stell dich nicht so an! “, „Nimm dich nicht für so wichtig! “, „Das kriegst du sowieso nicht hin! “, „Du bist nichts wert! “. Im dysfunktionalen Eltern-Modus begegnen uns folglich bewertende, kritische Sätze, die vom „inneren Kritiker“ (strafender Modus), sowie fordernde Sätze, die vom „inneren Antreiber“ (fordernder Schematherapeutische Aspekte in der Tanztherapie 3 | 2022 105 Modus) kommen. Es lohnt sich, einen prägnanten, konkreten Satz zu finden und dann die PatientInnen ihren dysfunktionalen Modus verkörpern zu lassen, z. B. sich groß aufbauend mit erhobenem Zeigefinger, mit abwertendem und / oder verachtendem Blick. Auf der anderen Seite des Raums vom gesunden Erwachsenen-Modus ist der Raum des Kind-Modus. Ich erkläre diesen als den Gefühlsmodus. In diesem Raum ist man ganz im Gefühl: „Ich bin das Gefühl! “ Hierbei ist keinerlei Abstand zum Gefühl möglich, und man ist dadurch dem Gefühl „ausgeliefert“, z. B. wenn es „einen überkommt“. Man kann gar nicht mehr aufhören zu weinen oder steckt in der Angst fest. Ein Zeichen für den Kind- Modus ist, wenn PatientInnen selbst spüren, dass die Gefühle zu stark für die gegenwärtige Situation sind. „Kindmodi sind dann aktiv, wenn wir sehr starke und intensive Gefühle erleben, die sich nicht allein durch die Situation, in der man sich gerade befindet, erklären Dysfunktionaler Eltern-Modus Gesunder Erwachsenen-Modus Kind-Modus Innere Leitsätze: „Du genügst nicht! “ „Reiß dich zusammen! “ „Das wird nichts! “ „Mach jetzt! “ „Du bist falsch! “ Fordernder Elternmodus ∙ „innerer Antreiber“ ∙ Fördert Außenorientierung ∙ Gibt das Gefühl von Versagen ∙ Macht starke Schuldgefühle Strafender Elternmodus ∙ Starke Abwertung, was zur Selbstabwertung (Selbsthass) führt ∙ Oft viel Scham und Ekel vor sich selbst ∙ Es gibt kein Recht auf eigene Bedürfnisse ∙ Sich nicht zumuten können ∙ Keine positiven Botschaften annehmen können Umgang: ∙ Erkennen: Wann wirken sie, wer hat sie angelegt? ∙ Wahrheitsgehalt überprüfen ∙ REDUZIERUNG ∙ Gesunde Ich-Funktion ∙ Aktuelle Situation, Beziehung und Gefühle können hier angemessen erlebt und eingeschätzt werden. ∙ Findet konstruktive Lösungen ∙ Geht erwachsenem Vergnügen nach ∙ Versucht, den dysfunktionalen Elternmodus zu reduzieren und sich um den Kind-Modus zu kümmern. ∙ Zu starke Gefühle für aktuelle Situation (d.h. unverhältnismäßig) ∙ Gefühle sind schwer zu kontrollieren Verletzlicher Kind-Modus ∙ Traurig, einsam, hilflos, Scham, verlassen, verzweifelt Wütender und impulsiver Kind-Modus ∙ Wut, Ärger, Trotz, Impulsivität Glücklicher Kind-Modus ∙ Leicht, neugierig, Spaß, Sicherheit Umgang: ∙ Verletzlichen Kind-Modus schützen, trösten, unterstützen, versorgen ∙ Wütendem Kind-Modus beibringen, seine Bedürfnisse angemessen auszudrücken ∙ Impulsiver, verwöhnter Kind-Modus braucht Grenzen ∙ Glücklichen Kind-Modus fördern Tab. 2: Eltern-, Erwachsenen- und Kind-Modus (in Anlehnung an Jacob et al. 2011) 106 3 | 2022 Andrea Du Bois lassen.“ (Jacob et al. 2011, 18) Dadurch wird deutlich, dass sich das gegenwärtige Gefühl mit einem bekannten Gefühl aus der Biographie verbunden hat, wodurch das Gefühl zu intensiv und inadäquat für die gegenwärtige Situation ist (siehe weiter oben). Darin zeigt sich, dass ein Schema aktiviert wurde, z. B. vom impulsiven, verlassenen, verletzten oder wütenden Kind. Um für den Kind-Modus eine Haltung oder Bewegung zu finden, kann sich der Patient/ die Patientin ein Kind vorstellen, welches dieses Gefühl ausdrückt. Kinder sind in ihrem Gefühlsausdruck noch nicht sozialisiert und deswegen pur in ihrem Ausdruck (weswegen es auch Kind-Modus genannt wird) und damit für PatientInnen ein hilfreiches Konstrukt. Im Raum des gesunden Erwachsenen-Modus stehen einem alle altersentsprechenden Kompetenzen zur Verfügung, der Mensch ist handlungsfähig und sieht den Kontext. Das bedeutet, die gegenwärtige Situation kann realistisch eingeschätzt werden. Man ist im Kontakt mit dem Kind-Modus, also den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, ohne in ihnen zu versinken, und kann durch die Verankerung in sich selbst eine adäquate, für sich stimmige Handlung umsetzen. Im Versuch der PatientInnen, den gesunden Erwachsenen-Modus zu verkörpern, zeigt sich, dass sich viele darin hilflos fühlen, keine Haltung finden oder überfordert sind. Der Modus wird als „klein“ erlebt, eingezwängt zwischen dem machtvoll erlebten dysfunktionalen Eltern-Modus von der einen und dem von Gefühlen überladenden Kind-Modus auf der anderen Seite. Das kann eindrucksvoll mit den Größen der Räume dargestellt werden, die dementsprechend kleiner oder größer gelegt werden. So legen die PatientInnen meist den Raum ihres dysfunktionalen Eltern-Modus extrem groß und den Raum des Kind-Modus mittelgroß, wodurch der gesunde Erwachsenen-Modus dazwischen kaum noch Platz hat. Wenn die PatientInnen sich im gesunden Erwachsenen-Modus hilflos fühlen oder im Kind- Modus von ihren Gefühlen überschwemmt werden, haben sie einen Fluchtimpuls, aus den Räumen aussteigen zu wollen. Für die „Flucht“ wird vor den drei Räumen ein vierter Raum mit Seilen gelegt: für die Bewältigungsmodi. Bewältigungsmodi sind Varianten, wie Kinder und Erwachsene sich an ihre Schemata anpassen und versuchen, damit die innere Dynamik der Modi zu umgehen. Es sind die bekannten drei Reflexe auf Gefahr: Unterwerfung (Erstarren), Vermeidung (Flucht) und Überkompensation (Kampf ) (Jacob et al. 2011, 66 ff ). ● Unterwerfung (Freeze): den dysfunktionalen Eltern-Modus als wahr verstehen und ihm gehorchen. Hier wird akzeptiert, dass das Schema wahr ist. ● Vermeidung (Flight): Vermeidung, Substanzgebrauch, Ablenkung, Selbststimulation. Damit wird versucht, dass das Schema nicht aktiviert werden kann. ● Überkompensation (Fight): sich mit viel Kontrolle entgegengesetzt zum dysfunktionalen Eltern-Modus verhalten, so tun, als ob das Schema nicht wahr ist. Beispiel: Sagt der dysfunktionale Eltern-Modus „Du bist nichts wert! “, wird versucht, alles dafür zu tun, um „etwas wert“ zu sein. So wird über die eigenen Grenzen hinaus gearbeitet, um das zu beweisen, aber es wird nie gut genug sein. Gehen die PatientInnen in die Bewältigungsmodi, erleben sie erst mal eine Entlastung, weil sie aus der Dynamik vom dysfunktionalen Eltern-Modus, dem Kind- und Erwachsenen- Modus wortwörtlich „ausgestiegen“ sind. Das ist auch vorrangig die Funktion des Bewältigungsmodus. Aber durch den Ausstieg aus der inneren Dynamik haben sie keinen direkten Zugriff mehr auf den Kind-Modus, d. h. auf ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle. Meiner Erfahrung nach erklärt dieses Bild für viele PatientInnen anschaulich, warum sie sehr wenig fühlen und erst mal nicht an ihre Gefühle kommen. Schematherapeutische Aspekte in der Tanztherapie 3 | 2022 107 Wenn die Bewältigungsmodi, die die PatientInnen bisher verwendet haben, erklärt werden, ist eine Wertschätzung dieser Modi wichtig, da die Bewältigung vielen PatientInnen zunächst ermöglicht hat, Situationen auszuhalten und wortwörtlich zu überleben. Jetzt erleben sie in der tanztherapeutischen Modus-Arbeit, dass sie innerhalb der Bewältigungsmodi nur auf den dysfunktionalen Anteil reagieren und nicht wirklich ihr Leben gestalten und autonom handeln können. Ihnen wird deutlich, dass sie versucht haben, sich durch ihre Bewältigungsmodi zu schützen, aber eben nur aus den Reflexen der Flucht, Kampf und Erstarrung heraus, ohne die Situation aktiv mitgestalten konnten. Im gesunden Erwachsenen-Modus können sie genau das, sind handlungsfähig und können sich im Kontakt mit sich, also mit ihrem Kind-Modus, schützen und abgrenzen. Sie spüren im Bewältigungsmodus nun auch ihre Not und die daraus resultierende psychische Krankheit. Die Bewältigungsmodi an sich sind nicht pathologisch, sondern erst, wenn sie permanent aktiviert sind. Beispielsweise kann meiner Erfahrung nach ständige Unterwerfung / Anpassung zur Depression führen, ständiger Kampf/ Überkompensation zum Burn-out und ständige Flucht/ Vermeidung zur Sozialphobie oder Sucht (so auch Roediger / Zarbock 2015, 63). Die PatientInnen kennen meist alle drei Bewältigungsmodi an sich, jedoch macht es Sinn, den gegenwärtig aktiven Haupt-Bewältigungsmodus in der Tanztherapiestunde zu identifizieren, weil sie ihn dann schneller bei sich im Alltag erkennen können. Denn dieser ist es, der die Gefühle im Kind-Modus oder die Handlungsfähigkeit im gesunden Erwachsenen-Modus verdeckt und blockiert. Bleibt der Bewältigungsmodus unerkannt, kann die Gefahr bestehen, in der Therapie mit dem Bewältigungsmodus zu arbeiten, der sie davon abhält, in den gesunden Erwachsenen zu kommen. Nun kann die eigene Psychodynamik erspielt werden, indem ein Patient als Protagonist die Rollen der verschiedenen Modi an MitpatientInnen verteilt. Diese gehen dann in den entsprechenden Modus-Raum mit der vom Protagonisten vorgegebenen Verkörperung des Modus. Der Protagonist kann dann ausprobieren, was ihm hilft, um aus dem Bewältigungsmodus in den gesunden Erwachsenen-Modus zu kommen, sich dem dysfunktionalen Eltern- Modus entgegenzustellen und den Kind-Modus zu schützen. Damit ist die Grundlage geschaffen, in einer normalen Tanztherapiestunde mit diesen Modi zu arbeiten, diese zu identifizieren und den PatientInnen immer wieder die Möglichkeit zu geben, in den gesunden Erwachsenen-Modus zu gelangen. Stärkung des gesunden Erwachsenen-Modus in der Tanztherapie Durch das meist für PatientInnen fremde Medium des Tanzes / der Bewegung zeigen sich schon in der ersten Stunde deren Bewältigungsmodi: 1. „Ich habe was am Fuß und kann deswegen wahrscheinlich nicht mitmachen. Kann ich wieder gehen? “ (Vermeidung / Flucht) 2. „Was soll das hier? So ein Quatsch- - das ist nichts für mich …“ (Überkompensation / Kampf ) 3. Oder die „brave, angepasste Patientin“, die alles einfach mitmacht, ohne involviert zu sein und vielleicht noch sagt: „Ich habe mitgemacht, um nicht aufzufallen.“ (Unterwerfung / Anpassung) Können die TherapeutInnen diese Aussagen als Bewältigungsmodus verstehen, werden sie nicht reflexartig darauf reagieren, sondern auf die dahinterliegende Aussage eingehen und den Patienten anders abholen. 1. „Sie sind hier auch mit Ihrem verletzten Fuß herzlich willkommen. In der Tanztherapie geht es nicht darum, alles einfach mitzumachen, sondern darauf zu achten, was 108 3 | 2022 Andrea Du Bois gerade möglich ist und was nicht. Machen Sie mit, aber achten Sie dabei gut auf Ihren Fuß.“ 2. „Machen Sie nur so mit, wie es für Sie nicht ‚albern oder peinlich‘ wird, denn dann scheint etwas nicht stimmig für Sie zu sein. Machen Sie alles auf Ihre Art und Weise mit.“ 3. „Achten Sie mal darauf, was in Ihnen passiert, wenn Sie mitmachen, und erlauben Sie sich, auf Ihre Grenzen zu hören und darin mehr Ihr Eigenes zu finden. Im Funktionsmodus schließen Sie sich selbst in der Übung aus.“ Mit dieser Umgangsweise erkennen die TherapeutInnen die Aussage als Bewältigungsmodus an, also als einen Modus, der vor dem dysfunktionalen Eltern-Modus beschützen will oder vor der Angst, in der Tanztherapie zu stark in den Kind-Modus zu rutschen und von Gefühlen überschwemmt zu werden. Manch ein Patient/ eine Patientin wertet die Tanztherapiestunde schnell ab oder geht die TherapeutInnen provozierend an. Hinter diesem Phänomen steckt häufig die eigene innere Abwertung, die vom dysfunktionalen Eltern-Modus ausgeht, von dem er / sie innerlich herabgewürdigt wird. Um dem aus dem Weg zu gehen, passt er / sie sich an und funktioniert (Unterwerfung), vermeidet oder „greift an“ (Überkompensation). Ebenso kann sich der dysfunktionale Eltern-Modus im Antreiber zeigen, der den Patienten pusht mitzumachen, weil er/ sie sich „zusammenreißen“ soll. Wenn die TherapeutInnen jetzt noch stark insistieren würden, dass mitgemacht werden soll, und zwar nur in der „richtigen“ Art und Weise, „füttert“ dieses Verhalten den dysfunktionalen Eltern-Modus, und der Patient/ die Patientin wird mehr in seinen / ihren Bewältigungsmodus gedrängt und entfernt sie / ihn damit von sich selbst. In den obigen Antworten wird deswegen der gesunde Erwachsenen-Modus im Patienten angesprochen. Häufig besteht das Bild von Tanztherapie darin, dass dort Gefühle „angetriggert“, offengelegt werden und aufdeckend gearbeitet wird, wodurch PatientInnen unbewusst erstmal als Schutz in den Bewältigungsmodus gehen. Deswegen ist es sinnvoll zu verdeutlichen, dass die / der TherapeutIn die PatientInnen durch die tanztherapeutische Methode nicht in den Kind-Modus, also ins pure Gefühl bringen will, sondern in den gesunden Erwachsenen-Modus. D. h. in den Modus, in welchem sie ihre Gefühle spüren und wahrnehmen, aber auch steuern und regulieren können. Auf diese Weise können sie auch die Tanztherapiestunde mitgestalten, da sie entscheiden, wie weit sie etwas mitmachen möchten. Mit dieser Aussage erfahren, meiner Erfahrung nach, die Patient- Innen eine große Entlastung. Das bedeutet, dass die Tanztherapie schon allein durch ihre Methode Schemata evoziert, die bestimmte Modi in den PatientInnen aktivieren. Mit verschiedenen tanztherapeutischen Methoden werden die Modi identifiziert, herausgefordert, dargestellt, ertanzt und der gesunde Erwachsenen-Modus gestärkt. Insbesondere durch die Betroffenheit der PatientInnen über die innere Dynamik der Modi entsteht die Motivation, aus dem Bewältigungsmodus (oder dem Kind-Modus) in den gesunden Erwachsenen-Modus kommen zu wollen. Stärkung des gesunden Erwachsenen-Modus Die Tanztherapeutin kann schon durch ihre innere Haltung in der Therapie den gesunden Erwachsenen im Patienten ansprechen und unterstützen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass der / die TherapeutIn sich in ihrem gesunden Erwachsenen-Modus befindet. Folgende Grundsätze haben sich in meiner Praxiserfahrung u. a. bewährt: ● Annehmen und Akzeptieren von Gefühlen und Körperresonanzen: Nur wenn die TherapeutInnen es schaffen, alle Gefühle und Resonanzen zunächst stehen und da sein zu lassen, Schematherapeutische Aspekte in der Tanztherapie 3 | 2022 109 können die PatientInnen das auch lernen. Das Annehmen bedeutet hier ein In-Kontakt-Gehen mit dem Kind-Modus als Gefühls-Modus. Über das So-Sein-Lassen können viele Informationen über die PatientInnen erhalten werden. Wenn die TherapeutInnen aber selbst innerlich durch ihren Antreiber oder Kritiker angefeuert werden, „jetzt gleich was Sinnvolles damit tun zu müssen“, spüren das die PatientInnen und steigen darauf ein. Spüren diese jedoch die Offenheit der TherapeutInnen für das, was da ist, können sie sich selbst auch eher annehmen. ● Es gibt kein Richtig und Falsch: Es lohnt sich, das in der Therapie immer wieder zu betonen und selbst danach zu handeln. Keine Übung wird „falsch“ ausgeführt, sondern in allem zeigen sich Phänomene. Darin stecken viele Informationen über die PatientInnen, die durch das Bewerten verloren gehen würden. Im Bewerten zeigt sich der dysfunktionale Eltern-Modus. Die erwachsene annehmende Haltung der Therapeutin wirkt hingegen unterstützend auf die PatientInnen, in den eigenen gesunden Erwachsenen-Modus zu kommen und sich darin zu erlauben, die Übung so zu machen, wie es sich für sie stimmig anfühlt. ● Förderung der Exzentrizität der PatientInnen: Exzentrizität (Petzold 1996, 228) ist die Fähigkeit des Menschen, sich selbst „von außen“ zu beobachten, Abstand zu sich und den eigenen Impulsen zu erhalten und dadurch die Möglichkeit zu bekommen, freier, erwachsener damit umzugehen. D. h. es ist „eine emotionale Distanzierung und eine Neubewertung aus der Sicht des Erwachsenen möglich“ (Roediger / Zarbock 2015, 66). Ist den PatientInnen das Modus-Modell bekannt, können sie sich im Tanz beobachten, welcher Modus auftaucht, und lernen, eventuell einen Modus-Wechsel vorzunehmen. ● Den gesunden Erwachsenen in den Patient- Innen ansprechen: Das bedeutet, dass die TherapeutInnen nicht den Kind-Modus der PatientInnen versorgen, sondern die Patient- Innen sollen üben, sich selbst zu versorgen: „Was könnten Sie jetzt brauchen? Was könnten Sie jetzt für sich tun? “ Die TherapeutInnen begleiten bei der Suche, was der gesunde Erwachsene der PatientInnen tun kann, führen es aber nicht selbst aus. ● Den gesunden Erwachsenen-Modus tänzerisch erforschen lassen: Dabei können individuelle innere Bilder entstehen, die auch gemalt werden können, oder es wird für den gesunden Erwachsenen-Modus eine Haltung, eine Bewegung gefunden oder symbolisch ein Gegenstand ausgesucht. Diese Verankerung des gesunden Erwachsenen-Modus hilft den PatientInnen, sich im Alltag an den gesunden Erwachsenen zu erinnern, wodurch er abrufbar wird und ihnen schneller zur Verfügung steht. ● Förderung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit auf der Grundlage von emotionalen und kognitiven Aspekten: Hierbei ist das Zusammenspiel von gesundem Erwachsenen- und Kind-Modus notwendig. Gefühle und Bedürfnisse können nun genutzt werden, um einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Beispiel: Eindrucksvoll kann über einen einfachen Stand (als Standpunkt) erlebt werden, wie stabil man stehen bleiben kann, indem man immer in ein Bouncen (in den Knien wippen) geht, wenn jemand von außen an einem zieht oder stößt (als äußerer Impuls). Dieses Bouncen symbolisiert dabei die Verankerung in sich selbst, denn das Becken als Zentrum wird dadurch aktiv geerdet. Ist man mit sich und seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen in Kontakt, kann der Impuls von außen leicht aufgenommen werden, ohne dass man die eigene Stabilität verliert. ● Der gesunde Erwachsenen-Modus hat einen weiteren Blick als alle anderen Modi. In dem Modus wird alles im Kontext und Kontinuum verstanden. Beispiel aus meiner Praxis: Ein Patient sollte sich im Kind-Modus ausdrücken, was er dann traurig sitzend mit Blick zum Boden tat. Dann sollte er in seine Haltung im 110 3 | 2022 Andrea Du Bois gesunden Erwachsenen-Modus gehen, dabei hob er seinen Kopf als ersten Schritt heraus aus dem Kind-Modus. D. h. der Patient sah nicht mehr nur sich, sondern auch sein Umfeld, den Raum und andere MitpatientInnen. Dadurch nahm er sich als Mensch in seinem Umfeld, seinem Kontext wahr und erhielt dadurch neue Handlungsmöglichkeiten. ● Eine andere Patientin, die im Bewältigungsmodus durch den Raum rannte und ihren Aktionismus (Überkompensation) damit ausdrückte, wurde auf dem Weg zu ihrer Erwachsenen-Haltung langsamer. Schon dabei spürte sie, dass sie ihr Umfeld mehr wahrnahm, damit wieder in Handlung kam und Entscheidungen treffen konnte. Beide PatientInnen spürten den Modus-Wechsel und dass sie dadurch selbstwirksamer wurden. ● Umgang mit den eigenen Gefühlen und Förderung der Kompetenz, die Vielfältigkeit der Gefühle zu erkennen, diese zu regulieren und zu dosieren. Beispiel: Es werden vier verschiedene Musikstücke vorgespielt, die unterschiedliche Gefühle (Kind-Modi) hervorrufen können. Auf jede Musik gibt es eine Körperresonanz, die dann nach außen in Bewegung gebracht wird. Zu jedem Musikstück und der Bewegung werden dann ein Gefühl, eine Farbe und eine Form zugeordnet, die alle nacheinander auf ein Blatt gemalt werden. So entsteht ein Bild verschiedener Gefühle aus dem Moment heraus, ohne nachzudenken (Kind-Modus). Dabei werden manche klein und zart gemalt, andere dominant; die Formen werden eher unzusammenhängend oder ungeordnet sein. Oft entspricht dies der Gefühlslage der PatientInnen. Nun können sie als „gesunde Erwachsene“ das Bild neu malen und dadurch neu ordnen, in dem sie nicht Farbe und Form verändern, also nicht das Gefühl, sondern die Größe (Dosierung der Intensität) oder die Anordnung. Z. B. werden im Bild einer Patientin die Symbole für die Gefühle von Trauer, Verletzlichkeit und Freude vom Ärger, der als schwarze Klötze dargestellt wird, übermalt und unterdrückt. Hier wendet sich der Ärger gegen sie. Als sie dann das Bild nochmal mit den gleichen Bestandteilen malen darf, malt sie mit den schwarzen Klötzen eine Mauer um die anderen Gefühle herum, die dadurch nun Schutz erhalten. Sie konnte darüber verstehen, dass Ärger, den sie bisher als negativ bewertete, nun eine für sie gute Funktion haben könnte, sich zu schützen und Raum zu geben. ● So erhalten alle Gefühle ihren Platz, wo sie für die PatientInnen im Gesamtzusammenhang Sinn machen, und können dadurch besser angenommen und integriert werden. Dabei nutzen sie die Kompetenz des gesunden Erwachsenen, die Gefühle zu regulieren und einzuordnen. Kind-Modus Viele PatientInnen fühlen sich krank, weil sie keinen Kontakt mehr zu sich und ihren Gefühlen haben und nicht gelernt haben, diese zu dosieren. Gefühle sind jedoch Grundlage für die Gestaltung des eigenen Lebens: Emotionen haben motivationale Funktionen, bewirken Handlungen, haben kommunikative Funktionen und haben eine orientierende und selbstregulatorische Funktion (Petzold 2003, 613). So braucht es, z. B. für eigene Entscheidungen, Selbstfürsorge und Selbstschutz, den Kontakt zu sich selbst, folglich den Kontakt zu den eigenen Gefühlen. TanztherapeutInnen und andere körperorientiert arbeitende TherapeutInnen können durch die Arbeit mit dem Körper und der Bewegung Gefühle evozieren, die den PatientInnen „verlorengegangen“ sind. Es ist jedoch nicht sinnvoll, im therapeutischen Prozess dem Kind-Modus nahezukommen, ohne den dysfunktionalen Eltern-Modus in die Schranken verwiesen zu haben. Öffnet sich der Patient in dieser Situation seinen Gefühlen, kann der dysfunktionale Modus „zuschlagen“. Es folgt möglicherweise eine starke Verletzung der PatientInnen und eine Bestätigung, doch lieber im Bewältigungsmodus zu bleiben. Der Patient fühlt sich „zerstört“, beschämt oder überfordert. Es besteht also die Schematherapeutische Aspekte in der Tanztherapie 3 | 2022 111 Gefahr, dass dadurch nur der Bewältigungsmodus gestärkt wird und es zu einer erneuten Entwertung des Kind-Modus mit den einhergehenden Gefühlen kommt. Es geht in der Tanztherapie also nicht darum, den Kind-Modus, hier Gefühlsanteil, zu fördern, wenn der dysfunktionale Eltern-Modus mit seinen Sätzen „Reiß dich zusammen! “, „Das schaffst du doch sowieso nicht! “ oder „Sei nicht lächerlich! “ im Raum ist. Mit den PatientInnen muss zuerst erarbeitet werden, wie sie den Sätzen des Eltern-Modus entgegentreten, bzw. wie sie sie „vor die Tür schicken“ und sich dann vorsichtig dem Kind-Modus annähern können. Mit Tanz kann die Entmachtung des dysfunktionalen Eltern-Modus im Einzel wie auch in der Gruppe szenisch bewegt dargestellt werden. So kann z. B. einer den dysfunktionalen Eltern-Modus laut, groß, eventuell aggressiv darstellen, jemand anderes den Kind-Modus ängstlich sitzend in der Ecke. Dann probiert die Protagonistin / der Protagonist tänzerisch aus, was es braucht, um dem dysfunktionalen Eltern- Modus entgegenzutreten (z. B. Standpunkt beziehen, kraftvolle Klarheit, oder es braucht eventuell noch Unterstützung von anderen als Hilfs-Ich) und sich damit schützend vor den Kind-Modus zu stellen. Dabei merken sie oft, wie massiv und machtvoll ihr innerer dysfunktionaler Eltern-Modus ist. PatientInnen entlastet diese Erfahrung, warum sie mit ihren Gefühlen nicht zurechtkommen, wenn sie sich der Dynamik des dysfunktionalen Eltern-Modus bewusst sind. So können sie Verständnis für sich aufbringen und liebevoller mit sich umgehen. Viele PatientInnen denken, dass der dysfunktionale Eltern-Modus ein von der Welt verlangte Erwachsene wäre. Die Differenzierung des dysfunktionalen Eltern-Modus und Abgrenzung zum gesunden Erwachsenen-Modus erleben die PatientInnen als eine Erleichterung, und dies ermöglicht ihnen, Mitgefühl und Fürsorge für den Kind-Modus zu entwickeln. Das ist die Grundlage dafür, dass der Kind-Modus Raum bekommen und sich entfalten kann. Nun kann die Arbeit mit Gefühlen beginnen. Gefühlsregulation Die Arbeit mit den Modi bietet die Chance, den PatientInnen zu zeigen, wie sie mit Gefühlen umgehen können, ohne in diesen „zu verschwinden, sich aufzulösen“ oder sich von ihnen „überschwemmt“ zu fühlen. Die Dosierung kann z. B. dadurch stattfinden, dass die PatientInnen selbst in den gesunden Erwachsenen-Modus gehen und von dort aus das Gefühl im Kind-Modus wahrnehmen. D. h. sie externalisieren das Gefühl. Um es nochmal zu verdeutlichen: Im Erwachsenen-Modus „habe“ ich das Gefühl, und im Kind-Modus „bin“ ich das Gefühl. Beispiel: Die Patientin nimmt wahr, wo sie selbst als Erwachsene im Raum steht. Dann soll sie sich vorstellen, dass ihr Kind-Modus auch im Raum ist, und diesem einen Platz im Raum geben. Sie soll sich überlegen, was für ein Gefühl ihr Kind-Modus gerade empfindet und ausdrückt und die liegende, sitzende, stehende Haltung wahrnehmen. Die Patientin kann kurz „in das Gefühl gehen“, in dem sie die Haltung des Kind-Modus an dessen Ort im Raum einnimmt mit der Gewissheit, jederzeit wieder aussteigen zu können. Mit traumatisierten PatientInnen wird dieser Wechsel nicht angeleitet, sie stellen sich den Kind-Modus nur vor. Dann ist es möglich, dass der Erwachsene dem Kind-Modus im Raum begegnet, sich annähert und entfernt, sich ausprobiert und dabei wahrnimmt, wie der Kind-Modus auf den gesunden Erwachsenen reagiert. So kann ein Dialog, ein Tanz in der Nähe oder auch in der Ferne der beiden Modi entstehen. Dabei wird die Reaktion des Kind-Modus sich vorgestellt oder von einer Mitpatientin stellvertretend ausgedrückt. Es wird leibhaftig ein stimmiger Abstand gesucht, um nicht einerseits vom Kind-Modus vereinnahmt, überfordert zu werden und an- 112 3 | 2022 Andrea Du Bois dererseits eine stimmige Nähe, um sich von ihm berühren zu lassen (Resonanz). Die Gefühle können über den gesunden Erwachsenen-Modus dosiert und die Gefühlsexploration gesteuert werden. Die Externalisierung der Gefühle durch die Platzierung des Kind- Modus im Raum ermöglicht zunächst den passenden Abstand zu den Gefühlen und die Grundlage für einen Umgang mit ihnen. Ist es für PatientInnen zu herausfordernd, in den Kind-Modus selbst zu gehen, können Platzhalter wie Kuscheltiere oder ähnliches hinzugenommen werden. Die PatientInnen entwickeln durch diese Herangehensweise das Bild vom gesunden Erwachsenen- und Kind-Modus als Team. Der Kind-Modus kann dem gesunden Erwachsenen-Modus Orientierung geben, indem er durch Bedürfnisse zeigt, was es will, was nicht, worauf es Lust hat, wovor es Angst hat usw., und der gesunde Erwachsene kann darauf reagieren, in dem er die Bedürfnisse erfüllt, bei Angst beschützt, bei Trauer tröstet, bei Ärger adäquat diesen nach außen bringt. Weiterführend können in Gruppentherapien mit psychodramatischen Methoden Szenen aller Modi miteinander entwickelt werden, in denen PatientInnen die verschiedenen Modi tanzen und die ProtagonistInnen als Regisseur- Innen von außen ihre eigene innere Psychodynamik steuern können. Außerdem können auch intermediale Transformationen (Willke 2007, 354 ff ) genutzt werden, in dem z. B. mit speziellen Musikstücken bestimmte Modi hervorgerufen werden, die dann gemalt oder geknetet und dann wiederum getanzt werden. Das glückliche Kind Einen besonderen Status erhält das glückliche Kind (Roediger 2016, 113), was ebenso anzustreben ist wie der gesunde Erwachsenen- Modus. In ihm werden Gefühle tiefer Freude, Nähe, Genuss und Spaß erlebt. Es ist im Gegensatz zu den anderen Kind-Modi emotional „satt“. Aus dem glücklichen Kind entsteht Spontaneität und Spiel mit dem Gefühl von Verbundenheit. Hier ist Tanztherapie natürlich prädestiniert. Durch die Bewegung mit Musik und dem Spiel mit anderen können PatientInnen in der Tanztherapie ihrem glücklichen Kind begegnen und es erleben. Es sind meist berührende Momente, wenn diese verschüttet geglaubte Seite wieder auftaucht, sich entfaltet und als Ressource verankert wird. Auf dem Weg zum glücklichen Kind begegnen jedoch viele PatientInnen zunächst ihrem dysfunktionalen Eltern-Modus (z. B. der strafende Modus mit „Das macht man nicht! “ oder der innere Kritiker mit „Das ist doch peinlich! “), der dann erstmal vom gesunden Erwachsenen „entmachtet“ werden muss. Fazit Der schematherapeutische Ansatz kann für die tanztherapeutische Arbeit auf verschiedenen Ebenen sehr wertvoll sein. Vieles ist nichts Neues und den Bewegungs- und TanztherapeutInnen allzu vertraut, aber durch die Schematherapie mit dem sehr praxisbezogenen Modus-Modell kann das, was TanztherapeutInnen tun, insbesondere für die PatientInnen transparenter und greifbarer werden. Das Bewusstsein über die innere Dynamik der Modi und welche Auswirkung diese Dynamik auf ihr Handeln hat, ist hilfreich bei der Umsetzung im Alltag. Außerdem ermöglicht der Einbezug der Schematherapie in multiprofessionellen Teams in Kliniken eine gemeinsame Sprache mit anderen TherapeutInnen, wodurch die tanztherapeutische Arbeit leichter vermittelt werden kann und therapeutische Prozesse besser zusammenfließen können. Durch das Erkennen und Identifizieren der Modi kann der Therapeut / die Therapeutin gezielt Übungen und Interventionen einsetzen, die den gesunden Schematherapeutische Aspekte in der Tanztherapie 3 | 2022 113 Erwachsenen im Patienten / in der Patientin ansprechen und fördern. Andere Therapieformen können durch ihre Medien der Kunst, Malerei, Poesie die Externalisierung der Gefühle ermöglichen. Die innere leibliche Betroffenheit in der Tanztherapie ist in der Direktheit ein besonderer und wesentlicher Faktor und kann aber gerade dadurch, z. B. bei TraumapatientInnen, ein Hindernis werden. An dieser Stelle kann das Modus-Modell der Schematherapie helfen, indem das Gefühl in der Rolle des Kind-Modus externalisiert ausgedrückt und reguliert werden kann. Das anschauliche Modus-Modell der Schematherapie kann für die Psychoedukation genutzt werden, um PatientInnen zu ihrem eigenen Experten zu machen. Die Idee der Integrativen Therapie, „von den Phänomenen zu den Strukturen zu den Entwürfen“ (Petzold 2003, 429) zu arbeiten, findet sich in der Schematherapie wieder: Ein Schema wird aktiviert und zeigt sich in seinen Phänomenen, indem die PatientInnen in ihren Modi sind und diese ausdrücken und ausagieren. Diese Modi werden dann eingeordnet, das eigene Modus-Modell erarbeitet und als innere Struktur erkannt. Dadurch wird dann das spezielle Schema der PatientInnen offensichtlich. Weiterhin ist es hilfreich, sich als TherapeutIn mit den eigenen Modi auseinanderzusetzen, zu beobachten, wann PatientInnen mit ihren Verhaltensweisen bestimmte Modi in dem / der TherapeutIn selbst aktivieren und wann der Impuls in der Therapie entsteht, in einen Bewältigungsmodus zu gehen. Das Modus-Modell kann somit auch eine Hilfe für Selbstreflexion sein und in der Supervision hilfreich sein. Die Stärkung des gesunden Erwachsenen und des glücklichen Kindes entspricht ganz und gar der Tanztherapie, die sich durch den ressourcenorientierten Blick und ihre Vorgehensweise insbesondere an die salutogenen Persönlichkeitsanteile der PatientInnen richtet (Willke 2007, 45). Literatur Baer, U., Frick-Baer, G. (2001): Leibbewegungen. Affenkönig-Verlag, Neukirchen-Vluyn Jacob, G., van Genderen, H., Seebauer, L. (2011): Andere Wege gehen: Lebensmuster verstehen und verändern-- ein schematherapeutisches Selbsthilfebuch. Beltz, Weinheim Petzold, H. (2003): Integrative Therapie. Bd. 1-3. Junfermann, Paderborn Petzold, H. (1996): Integrative Bewegungs- und Leibtherapie. Junfermann, Paderborn Roediger, E. (2022a): Grundlagen zur Entstehung und Behandlung von psychosomatischen Störungen. In: www.schematherapie-roediger.de/ down/ Pat-Info%20PS.pdf, 5.2.2022 Roediger, E. (2022b) Was ist ein Schema? Neurobiologische Grundlagen. In: www.schematherapie-roediger.de/ down/ Was%20ist%20 ein%20Schema.pdf, 5.2.2022 Roediger, E. (2016): Schematherapie. Grundlagen, Modell und Praxis, 3. Aufl. Schattauer, Stuttgart Roediger, E., Zarbock, G. (2015): Schematherapie bei Persönlichkeitsstörungen-- Eine Standortbestimmung. Der Nervenarzt 86 (1), 60-71 Willke, E. (2007): Tanztherapie. Theoretische Kontexte und Grundlagen der Intervention. Huber, Bern Young, J. E., Klosko, J. S., Weishaar, M. E. (2008): Schematherapie-- Ein praxisorientiertes Handbuch. Junfermann, Paderborn Andrea Du Bois Tanztherapeutin (DGT / BTD), Dipl.-Pädagogin, Tänzerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie. Tanztherapeutin in psychosomatischer Klinik, stellvertretende Leitung für Kreativtherapien. Einzel- und Gruppentanztherapien in eigener Praxis. Fortbildungen und Supervision für TanztherapeutInnen. ✉ Andrea Du Bois www.andrea-dubois.de info@andrea-dubois.de