körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum: Energie
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Martin Schley
Der Versuch von Koemeda-Lutz und Gutzat, körpertherapeutische Verfahren auf der Basis eines naturwissenschaftlichen Energiebegriffs zu fundieren, wird kritisch hinterfragt. Der Autor hält diesen Ansatz nicht für sinnvoll, da dieser nach seiner Ansicht eine Form von unzeitgemäßem und dem therapeutischen Anliegen undienlichen Szientismus darstelle. Zudem blieben dadurch potenzielle Chancen ungenutzt, welche sich auf der Grundlage eines leibphänomenologischen Ansatzes ergeben könnten.
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114 körper-- tanz-- bewegung 10. Jg., S. 114-116 (2022) DOI 10.2378/ ktb2022.art16d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Zur Diskussion Energie Reaktion auf den Artikel von Koemeda-Lutz und Gutzat in Ausgabe 1 / 2022 Martin Schley Der Versuch von Koemeda-Lutz und Gutzat, körpertherapeutische Verfahren auf der Basis eines naturwissenschaftlichen Energiebegriffs zu fundieren, wird kritisch hinterfragt. Der Autor hält diesen Ansatz nicht für sinnvoll, da dieser nach seiner Ansicht eine Form von unzeitgemäßem und dem therapeutischen Anliegen undienlichen Szientismus darstelle. Zudem blieben dadurch potenzielle Chancen ungenutzt, welche sich auf der Grundlage eines leibphänomenologischen Ansatzes ergeben könnten. Schlüsselbegriffe Energie, Energiebegriff, Szientismus, Leibphänomenologie Response to the Article by Koemeda-Lutz and Gutzat in Issue 1 / 2022 The attempt of Koemeda-Lutz and Gutzat to base body therapy methods on a scientific concept of energy is critically questioned. The author does not consider this approach to be useful, since in his view it represents a form of outmoded scientism that is unsuitable for therapeutic concerns. In addition, potential opportunities that could arise on the basis of a body-phenomenological approach remain unused. Key words concept of energy, scientism, body phenomenology D ie Autorin und der Autor initiieren dankenswerterweise eine längst fällige Diskussion, welche über die von ihnen genannten Sachverhalte hinausweist. Ruben Gutzats Ausführungen zum naturwissenschaftlichen Energiebegriff sind informativ und verständlich. Darauf aufbauend möchte Margit Koemeda-Lutz weder „den Energiebegriff neu (…) definieren“ noch „dessen alltagssprachliche Verwendung mit dem wissenschaftlichen Begriff (…) vermischen“ (S. 17). Vielmehr möchte sie „begriffliche Erweiterungen und Modifikationen vorschlagen, deren Brauchbarkeit wissenschaftlich zu überprüfen sein werden“ (S. 17). Worin, wenn dies tatsächlich gelänge, der Erkenntniszuwachs bestünde, bleibt dem Autor dieser Zeilen unklar. Ließe sich durch die „mit wissenschaftlichen Methoden überprüfbare Manifestation von Energieflüssen und -transformationen im menschlichen Bereich“ (S. 20) die Körperpsychotherapie optimieren, würde sie dadurch verständlicher, transparenter, besser kommunizierbar und effizienter? Oder trüge das ganze Unterfangen gar zur weiteren Legitimierung und Verbreitung der Kör- Zur Diskussion: Energie (Teil 2) 3 | 2022 115 perpsychotherapie mittels einer naturwissenschaftlichen Fundierung bei? All dies möchte ich bezweifeln. Mit der Freud’schen Triebenergie, der Reichianischen Orgonenergie, dem Chi und dem Prana nennt Koemeda-Lutz Phänomene, bei denen, nach meinem naturwissenschaftlichen Verständnis, der Energiebegriff alltagssprachlich verwendet wird. Gleiches gilt für Phänomene im Zusammenhang mit der Atmung, bei zwischenmenschlichen Begegnungen, bei unterschiedlichen Körperhaltungen und ähnlichem. Diese Phänomene nun naturwissenschaftlich-energetisch quantifizieren zu wollen, scheint mir ein grundsätzlich unmögliches und im Kern auch überflüssiges Unterfangen zu sein. Bezeichnenderweise stand Albert Einstein Wilhelm Reichs Versuch der empirischen Erfassung der Orgonenergie ablehnend gegenüber, und selbst der New-Age-Prophet und Quantenmystiker Fritjof Capra hat dergleichen als Szientismus disqualifiziert. Natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Wissenschaft „einfach noch nicht so weit ist“ (gleiches gilt für meine Person) und/ oder noch nicht über das notwendige Instrumentarium verfügt, um solche Phänomene angemessen zu begreifen. Vielleicht lässt mal wieder Shakespeare grüßen: „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.“ Das ganze Unterfangen würde sich dennoch lohnen, wenn gleichfalls andere Therapieverfahren auf ihre energetischen Vorstellungen hin überprüft würden. Eine vorzügliche Möglichkeit, dann Spreu vom Weizen, genauer: esoterische Heilsverfahren (Kinesiologie, Reiki, Homöopathie …) von (Hinter-)Fragwürdigem (Anthroposophische Medizin, Osteopathie, ostasiatische Heilslehren, Schamanismus …) und naturwissenschaftlich Beweisbarem zu unterscheiden. Dadurch wäre auch eine längst dringend gebotene Abgrenzung zur psychospirituellen Heiler-Szene möglich. Dies ist durch den von Koemeda-Lutz vorgeschlagenen Weg nicht der Fall, im Gegenteil: Zu vielfältig sind die Überschneidungen, welche sich durch den inflationären Gebrauch des in der Eso-Szene mit allen möglichen potenziellen Bedeutungen aufgeladenen Energiebegriffs ergeben. Selbst wenn sich aber die naturwissenschaftlich-energetische Basis körperpsychotherapeutischer Verfahren finden ließe-- worin bestünde der Erkenntnisgewinn? Er wäre sehr begrenzt, da lediglich physikalisch-biologische Daten zu einem hermeneutisch-interpersonellen Verstehensprozess gefunden wurden. Die Körperpsychotherapie würde somit einem- - zuletzt von der Hirnforschung gehypten-- Maschinenmodell des Menschen frönen. Ein Reduktionismus, der in der sich als ganzheitlich gerierenden Körperpsychotherapieszene eigentlich verpönt ist. Dass die beiden Überväter Sigmund Freud und Wilhelm Reich dies ebenso taten, macht die Sache nicht besser. Möglicherweise liegt der Fehler bereits bei den Altvorderen. Wie könnte stattdessen eine nicht-naturwissenschaftliche, dem Menschen adäquate philosophisch-geisteswissenschaftliche Begründung der Körperpsychotherapie ausschauen? Im gleichen Heft der ktb versucht Ursula Schorn eine Verbindung von Tanztherapie und Phänomenologie herzustellen. Bravo, wenngleich dieser Versuch nicht vollends geglückt ist, da die Autorin die wesentlichen Aspekte der modernen Leibphänomenologie, welche vor allem mit dem Namen Thomas Fuchs verknüpft sind, nicht rezipiert und deshalb deren Potenziale nicht vollends ausschöpft. Just dieser leibphänomenologische Ansatz eröffnet nämlich einen wesentlich fruchtbareren Zugang zum Verständnis von körper- (besser: leib-)basierten therapeutischen Verfahren. Dann geht es nicht um irgendwelche bio-energetischen Prozesse, sondern vielmehr darum, den in seiner Beziehung zur Welt leiblich erkrankten Menschen (Fuchs: „psychische Erkrankungen sind Störungen der Zwischenleiblichkeit, sind Beziehungsstörungen“) wieder zu einem gelingenden Dialog mit der Welt zu verhelfen. So 116 3 | 2022 Martin Schley ließe sich auch der von Koemeda-Lutz erwähnte Synchronisationseffekt begründen und therapeutisch nutzbar machen. Körperpsychotherapeutischen Verfahren ist eine weite Verbreitung und Anwendung im klinischen Bereich zu wünschen. Dazu braucht es nicht den Versuch der Quantifizierung des psychologischen und alltagssprachlichen Energiebegriffs, da diese Verfahren bereits jetzt den Anforderungen an eine gelingende Psychotherapie vollauf genügen, so beispielsweise therapeutische Beziehung, Ressourcenaktivierung, Katharsis, Universalität des Leidens, Techniken des mitmenschlichen Umgangs. Und dies alles unter Einbeziehung und auf Basis des Leibes, wodurch sich therapeutische Möglichkeiten eröffnen, welche von fundamental ganz anderer Natur sind als jene der verbalen Psychotherapien. Ein Rückgriff auf mechanistische Modelle wäre in diesem Zusammenhang ein Rückschritt. Martin Schley Assessor des Lehramts, 5-jährige Tätigkeit als Sport- und Bewegungstherapeut im Klinikum am Weissenhof in Weinsberg, 25-jährige Tätigkeit als Lehrer an Sport- und Gymnastikschulen, Leitung der Sport- und Bewegungstherapieausbildung an der Gluckerschule in Kornwestheim, Referententätigkeit für diverse Verbände. ✉ Martin Schley Gluckerschule Jägerstr. 90 | D-70806 Kornwestheim mus@gluckerschule.de
