körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum: Walking-in-your-shoes
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Sabine Ott
Der Artikel stellt die Methode Walking-in-your-shoes (WIYS) vor, erläutert das strukturierte Vorgehen und beschreibt mögliche Einsatzbereiche. Das Vorgehen wird veranschaulicht durch das Fallbeispiel eines Walks im Video-Setting. WIYS ist eine phänomenologische Erkenntnismethode, die in der erlebniszentrierten Körperpsychotherapie Einsatz finden kann. Die körperliche Bewegung ermöglicht Selbsterfahrung, führt oft zu einem kongruenten Erleben und kann erstaunliche Selbsterkenntnisse hervorbringen. Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass Walks nun auch im Video-Setting ausprobiert werden, was erstaunlich gut „geht“.
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155 Forum: Vorgestellt körper-- tanz-- bewegung 10. Jg., S. 155-166 (2022) DOI 10.2378/ ktb2022.art23d © Ernst Reinhardt Verlag Walking-in-your-shoes Per Video-…-geht-…-gut! Sabine Ott Der Artikel stellt die Methode Walking-in-your-shoes (WIYS) vor, erläutert das strukturierte Vorgehen und beschreibt mögliche Einsatzbereiche. Das Vorgehen wird veranschaulicht durch das Fallbeispiel eines Walks im Video-Setting. WIYS ist eine phänomenologische Erkenntnismethode, die in der erlebniszentrierten Körperpsychotherapie Einsatz finden kann. Die körperliche Bewegung ermöglicht Selbsterfahrung, führt oft zu einem kongruenten Erleben und kann erstaunliche Selbsterkenntnisse hervorbringen. Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass Walks nun auch im Video-Setting ausprobiert werden, was erstaunlich gut „geht“. Schlüsselbegriffe Walking-in-your-shoes, phänomenologisches Verstehen, Körperpsychotherapie, Video- Setting Walking-in-your-shoes. By Video … Goes … Well! The article introduces the Walking-in-your-shoes (WIYS) method, explains the structured procedure, and describes areas of application. The procedure is illustrated by a case study of a walk in a video setting. WIYS is a phenomenological method to gain insight that can be used in experience-centered body psychotherapy. The physical movement enables self-experience, often leading to congruent experience, and can yield astounding self-knowledge. The Corona Pandemic led to walks being tried in the video setting, which “goes” surprisingly well. Key words walking-in-your-shoes, phenomenological understanding, body psychotherapy, video setting „Movement never lies. It is a barometer telling the state of the soul’s weather to all who can read it.“ Martha Graham (Wikiquote 2022, o.S.) M it diesem wunderbaren Zitat sind wir ins frühe 20. Jahrhundert zurückgegangen, genauer gesagt zu Martha Graham. Sie lehrte Tanz und gründete bereits 1926 eine Tanzschule. Sie legte früh Wert auf den Ausdruck von Emotionen und entfernte sich so vom klassischen Ballett hin zu einer modernen Tanzpädagogik. Seltsamerweise hat sich die Psychotherapie, so wie ich sie kennengelernt habe, fast ausschließlich als sitzende oder liegende Angelegenheit etabliert, womit ein wichtiger Aspekt unseres Lebens, nämlich das Gehen, schon allein durch das Setting nicht berücksichtigt wurde. Dass Bewegung eine seelische Aussagekraft („Zustand des Seelenwetters“) hat, konnte ich durch die Methode Walking-inyour-shoes (im Folgenden als WIYS abgekürzt, Name und Methode sind markenrechtlich geschützt) kennenlernen. Joseph Culp (geb. 1963) 156 4 | 2022 Sabine Ott und John Cogswell (1926-2012) haben diese Methode in den 1980er Jahren in Kalifornien entwickelt. Der klinische Psychologe Cogswell nannte das Vorgehen „Walking-in-your-shoes“ nach dem alten Sprichwort der indianischen Ureinwohner: „Du kannst niemals einen anderen Menschen verstehen, bevor du nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bist.“ (Culp 2010, 7) Meines Wissens hat Cogswell nur einen einzigen Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift über WIYS geschrieben (Cogswell 1993). Culp ist Schauspieler, Regisseur und leitet Walks. Er hat mit WIYS über mehrere Jahrzehnte mit KlientInnen und mit Theater-Schauspieler- Innen („Walking theatre group“) Erfahrung gesammelt, lange nur in den USA und seit einigen Jahren auch in Europa, wo er mittlerweile Seminare und Workshops anbietet. Die Methode wurde von Christian Assel nach Deutschland gebracht. Nach einem Studium der Philosophie und Anglistik leitete er viele Jahre lang Familienaufstellungen, bis er WIYS bei einem beruflichen Auslandsaufenthalt kennenlernte. Er gründete das Europäische Institut für Walking-In-Your-Shoes und beschreibt WIYS in seinen beiden Büchern als Alternative zum Familienstellen und als „ganzheitliche Selbsterfahrungsmethode“ (Assel 2010, 2016). Mittlerweile wird WIYS in verschiedenen nicht-therapeutischen Kontexten eingesetzt, vor allem im Coaching. Es werden Ausbildungen zum / zur WalkleiterIn sowie zu AusbilderInnen angeboten, welche dann Namen und Logo verwenden können, sodass die Methode eine einheitliche Struktur beibehält und abgrenzbar wird von anderen Methoden. Vor meinem Hintergrund als Psychotherapeutin und Körperpsychotherapeutin (Weiterbildung bei Ernst Kern und Lisa Große-Rhode) möchte ich vorschlagen, dass WIYS nicht nur im Selbsterfahrungskontext, sondern auch im Rahmen körperpsychotherapeutischer Verfahren Anwendung finden möge. Nach meiner Einschätzung kann WIYS als Bottom-Up-Methode verwendet werden und als Technik im Rahmen eines Behandlungsplans zur Umsetzung einer therapeutischen Intention. WIYS würde sich in die meisten der zehn Prinzipien der Körperpsychotherapie nach Ulfried Geuter (Geuter 2019) einpassen, insbesondere in „Wahrnehmen und Spüren“, „Gewahrsein und Gegenwart“, „Aktivieren und Ausdrücken“, „Erkunden und Entdecken“, „Inszenieren und Interagieren“. Ich nutze im therapeutischen Einzelsetting hin und wieder Walks, wenn wir nicht weiterkommen oder wenn ich den Eindruck habe, dass zwischen Kognition, Emotion und Körperempfindung keine stimmige Verbindung entsteht. Ich habe auch schon mal gemeinsam mit einer Patientin gewalkt: „Der Weg zu meinem Therapie-Ziel“. Das war sehr spannend, denn die beiden Walks unterschieden sich deutlich voneinander. Während ich einen sehr ausführlichen Walk hinlegte mit vielen Drehungen und Umwegen um Ecken und Kanten, ging die Patientin direkt geradlinig zum ausgemachten Endpunkt. Das gab uns Schwung und neuen Impuls für unser weiteres Gespräch-- und mir hinsichtlich meiner Gegenübertragung einiges zum Nachdenken. Einmal habe ich einen Walk zur Rolle „Mein Kloß im Hals“ geleitet (Ott 2017, 73). Es stellte sich im Walk heraus, dass der Kloß im Hals für ein Geheimnis stand, welches die Klientin dem Partner gegenüber nicht preisgeben wollte. Das Kloßgefühl verhinderte auf körperlich-symbolische Weise das Aussprechen ihres Geheimnisses- - ein schönes Beispiel für ein psychosomatisches Geschehen. Im nachfolgenden Gespräch konnte dieses zuvor verdeckte Thema weiter angeschaut werden. WIYS vertraut auf selbstregulatorische Prozesse und ist eine phänomenologische Methode, die der Humanistischen Psychotherapie zugeordnet werden kann. Es gibt hier kein „Muss“ und keinen Lösungsvorschlag. Die (Selbst-)Exploration hat Vorrang. Im wahrsten Sinne des Wortes ist „der Weg das Ziel“. Die Selbsterfahrung eines Walks macht oft etwas Walking-in-your-shoes 4 | 2022 157 deutlicher, lässt den Körper sprechen und weniger den Neocortex. Nicht selten werden im Walk Ressourcen wiederentdeckt, und Klient- Innen sagen, der Walk tat gut. Ablauf Wie bei vielen Methoden gibt es auch hier eine Nomenklatur, die ich kurz einführen will: Der Mensch, der einen Walk machen will, wird meist „AnliegenstellerIn“ genannt. Die Person, die den Walk macht, heißt „WalkerIn“. Das können sowohl der oder die AnliegenstellerIn sein oder ein/ e StellvertreterIn, der / die aus der Gruppe kommt. Der „Walk“ ist das Herzstück des Vorgehens, er dauert üblicherweise ca. 10-30 Minuten. Der / die WalkerIn sucht intuitiv einen Ausgangspunkt. Dort spricht er / sie laut aus: „Ich bin jetzt …“, und der Walk beginnt. Meistens gehen die Walker dann los, aber auch Stehenbleiben ist in Ordnung. Es wird nichts vorgegeben. Es muss hier kein „geradliniger Gang“ entstehen. Alles, was der Körper intuitiv ausdrückt, ist wichtig. Wir erkunden alle entstehenden Körperbewegungen, wozu u. a. das Atmen, paraverbale Ausdrucksformen und auch die Art des Stehens oder des Gehens gehören. Wenn der Körper im Walk tanzen will, dann tanzt er, aber nicht auf Kommando. Das ergibt sich einfach. Die Walkleitung begleitet den Walk und stellt nur gelegentlich anregende, weiterführende oder reflektierende Fragen. Der Walkende kann auch etwas verbalisieren, es wird aber darauf geachtet, dass dies nicht zu sehr vom Körpererleben wegführt. Der Ablauf ist in Abbildung 1 illustriert: Es findet ein Vorgespräch statt, dann kommt der eigentliche Walk, und es folgt ein Nachgespräch. Das Ganze dauert auf diese Weise ungefähr eine ¾ Stunde und ist damit gut im Abb. 1: Ablauf eines Walks Vorgespräch Ablauf eines Walks Der Walk Nachgespräch WalkleiterIn StellvertreterIn AnliegenstellerIn WalkleiterIn StellvertreterIn Gruppe AnliegenstellerIn 158 4 | 2022 Sabine Ott Rahmen auch einer Einzel-Therapiesitzung machbar. WIYS kann sowohl im Einzelsetting als auch im Gruppensetting stattfinden. Die Corona-Pandemie hat uns erfindungsreich gemacht und ins digitale Zeitalter geschubst. Plötzlich waren Gruppenangebote nicht mehr oder nur noch unter sehr eingeschränkten Bedingungen mit sozialen Abstandsregeln möglich. Dank verschiedener Video-Anbieter stellte die WIYS-Community, allen voran Culp, zügig auf ein Video-Setting um. Seine Global Community Meetings erreichten in der Folge Menschen in verschiedenen Ländern und Zeitzonen. Und es zeigte sich, dass auch in diesem Format Walking möglich war. Abb. 2 zeigt einen möglichen Walk im Video-Setting. Ein Walk-Beispiel mit erläuternden Kommentaren Zur Veranschaulichung folgt die gekürzte Beschreibung eines im April 2022 stattgefundenen WIYS per Video. Setting S. und U. sitzen zusammen in einem Raum, wobei S. die Walkleiterin ist und U. als Beobachterin fungiert. M. befindet sich in Österreich und sitzt zu Beginn vor dem Computer in ihrem Wohnzimmer. Wir kennen einander von ca. drei vorangegangenen Walks per Video. Der Anonymität wegen werden nur die Anfangsbuchstaben der Vornamen genannt. Nach einem kurzen Warming-up beginnt das Vorgespräch. Abb. 2: Ein prototypischer Walk im Video-Setting. Der Walk ist nur zum Teil für die Walkleitung sichtbar, das macht aber nichts. Der oder die WalkerIn kann sich (wenn er / sie möchte) im Video sehen, das eröffnet neue Möglichkeiten. WalkleiterIn WalkerIn WalkerIn Video Video Ein Walk im Videosetting Start Ende Walking-in-your-shoes 4 | 2022 159 Vorgespräch M. teilt mit, dass sie sich derzeit sehr überlastet fühlt und den Überblick nicht habe, was jetzt „wirklich am wichtigsten“ sei: „Auf welchen Problembereich meines Lebens soll ich mich konzentrieren, damit nicht alles so beschwerlich ist: Familie, Beruf, Arbeit? “. Sie fühle sich zwar wohl in ihrem Arbeitsprojekt als Selbstständige, manchmal arbeite sie „wie manisch“ zwölf Stunden, erlebe aber danach große Erschöpfung und fühle sich schlecht, weil ihr spätestens dann bewusst werde, dass sie sich ja eigentlich auch um ihre Familie kümmern sollte und auch will. S. fragt, ob sie ihr Anliegen nun genauer kennt. Kommentar: Im Vorgespräch eines beabsichtigten Walks wird darauf geachtet, dass die erzählte Geschichte nicht zu ausführlich ist, sondern zeitnah ein Anliegen formuliert wird, so dass dann ein Walk in einer bestimmten „Rolle“ stattfinden kann. Dabei kann entweder der / die AnliegenstellerIn selbst oder der / die WalkleiterIn Vorschläge nachen. Das heißt, schon die Auswahl einer Rolle benötigt ein Maß an Stimmigkeit, was eigentlich das Anliegen ist. Im Gruppensetting wird die Gruppe in der Regel hierbei außen vor gelassen, damit das Ganze nicht zu ausufernd und durch Resonanzphänomene in der Gruppendynamik verkompliziert wird. Es ist manchmal eine Kunst, die Rolle so zu formulieren, dass Raum entstehen kann für das, was noch nicht gewusst wird. Oft stecken wir in Ambivalenzen und haben kognitiv aus moralischer Sicht „richtige“ Lösungen bereit, die aber nicht umgesetzt werden, weil sie nicht kongruent sind. Genau hier kann ein Walk Klarheit bringen und körperliche Erfahrungen ermöglichen, die in der Zeit nach dem Walk hilfreich erinnert werden. Die im Vorgespräch definierte Rolle wird zu Beginn des Walks als Satz mit „Ich bin jetzt …“ begonnen (engl.: „I am now …“) formuliert. Prinzipiell ist jede Rolle möglich. Es kann um ein persönliches Thema gehen, eine problematische Beziehung, eine schwierige Lebenssituation, „mein blinder Fleck“, „mein sicherer Ort“, „mein inneres Kind“, eine Blockade. Assel empfiehlt: „Welche Rolle könnte mir Antworten auf meine wichtigste Frage geben? Welche Rolle könnte mir in meiner jetzigen Situation, in meiner jetzigen Lebensphase am meisten weiterhelfen? Welches Verständnis bringt mich jetzt weiter? “ (Assel 2016, 80). Aber auch allgemeinere Themen können gewalkt werden, zum Beispiel „Selbstliebe“, „Weltfrieden“, „Glück“. In der Medizin und Psychosomatik werden Rollen entwickelt, wie z. B.: Ich bin jetzt … ● … meine Krankheit („meine Migräne“, „Fatigue“) ● … wovor meine Erkrankung mich schützt ● … was mein Symptom mir sagen möchte ● … was mir hilft, wieder gesund zu werden ● … was ich brauche, um die Krankheit besser bewältigen zu können ● …was ich davon habe, wenn ich krank bleibe. „Ich und meine Krankheit“ kann auch als sogenannter Doppelwalk ausgeführt werden. Doppelwalks sind für Paare ideal, aber auch für eine/ n einzelne/ n AnliegenstellerIn möglich, wenn eine Beziehung angeschaut werden will. Dabei gehen zwei Personen gleichzeitig, und deren Beziehung zueinander oder mögliche Interaktion wird achtsam begleitet. Auch der Archetypenwalk ist beliebt. Hier werden Rollen angeboten bzw. vorgegeben, zum Beispiel: „der Heiler“, „die Königin“, „der Narr“ (Abb. 3). Zurück zum Beispiel: M. sagt jetzt (und wirkt schwungvoll-berührt dabei), sie habe das Gefühl, es gebe für all diese Bereiche einen „Schlüssel, und wenn ich den drehe, wirkt es sich auf alles aus“. Sie will den Schlüssel „finden“. S. schlägt ihr als kleine Änderung vor, einen Walk des Suchens eines Schlüssels zu machen. Das Finden eines Schlüssels würde 160 4 | 2022 Sabine Ott den Walk eventuell zu eng machen, da schon vorgegeben würde, dass etwas gefunden werden soll. Die Rolle, die für M. schließlich stimmig ist und nach ihrer Einschätzung ihr Anliegen am besten beschreibt, verbalisiert sie so: „Ich bin jetzt M., die den Schlüssel zu ihrem Wohlbefinden sucht.“ M. sagt, sie möchte es selbst walken. Kommentar: Die Rolle hätte auch ganz anders lauten können- - wesentlich ist die Stimmigkeit der Rolle im Vorgespräch, und dies entscheidet (meistens) der/ die AnliegenstellerIn, ebenfalls, ob sie es selbst walkt oder ein/ e StellvertreterIn möchte. M. steht schon am Start, geht aber dann zur Wohnungstür und teilt mit, dass sie sie abschließen wolle, „damit keiner reinkommt“. Dann zieht sie die Schuhe aus und findet einen Ort im Raum, wo sie den Walk beginnen möchte. Wir sehen sie im Video. Kommentar: Der Walk hat eigentlich hier schon begonnen, zumindest lohnt es sich, das, was in den ersten Momenten geschieht, aufmerksam zu beobachten (siehe auch Kommentar zum Nachgespräch). Zu Beginn eines Walks sucht der / die WalkerIn einen Ausgangspunkt im Raum und fokussiert ganz auf die Rolle, indem er / sie sich etwas Zeit nimmt, um sich einzufühlen und schließlich die Rolle laut ausspricht. Im Video-Setting ist wichtig, dass der / die WalkerIn überall hingehen darf, auch wenn wir sie zeitweise nicht sehen, denn wir bleiben in Kontakt über die Stimmen. Im Walk Abb. 3: Walk-Varianten und Rollenbeispiele Walk-Varianten, Rollenbeispiele Einzelwalk: Selbst oder StellvertreterIn Archetypen-Walk Doppelwalk: zeitgleich, 2 Rollen Entscheidungswalk: dafür/ dagegen Mehrfachwalk: alle laufen die gleich Rolle Optionswalk: mehrere Optionen Verdeckter Walk Walking-in-your-shoes 4 | 2022 161 ist fast alles erlaubt (außer übergriffiges Verhalten, Verletzungen oder mit dem Setting inkompatible Verhaltensweisen). Im Walk darf der Walker auch stehenbleiben! Stehenbleiben ist sozusagen eine Null-Bewegung, die ebenfalls Wesentliches aufzeigen kann. Ich erinnere mich an eine Rolle, die einmal gegangen werden sollte: „Der Zweifel“. Die Walkerin sprach die Rolle aus und blieb wie angewurzelt stehen. Sie sagte kurz darauf: „Ich weiß nicht, ob ich dazu geeignet bin, ob ich das walken kann“. Der Walk begann mit einem Zweifel … M. (laut): „Ich bin jetzt M., die den Schlüssel zu ihrem Wohlbefinden sucht.“ M. geht los und umher, und sie sagt: „Ich suche und suche“. Sie schaut hinter Vorhängen und unter einem Musikinstrument. M.: „Ich suche nicht gerne, das merke ich.“ M. geht jetzt sehr langsam, es sieht behutsam aus. Auf die Frage, was sie gerade spüre, antwortet sie: „Ich spüre innerlich eigentlich gar nichts, außer dass ich das Suchen noch im Hinterkopf hab’.“ Sie bleibt stehen und atmet deutlich und tief ein und aus. Sie kommentiert: „Ich habe das Bedürfnis, sehr, sehr stark auszuatmen-…- bis fast nichts mehr drin ist.“ Sie blickt dabei auf den Boden und atmet aus. Sie sagt: „Das tut so gut zwischen dem Aus- und dem Einatmen, diese Atempause.“ S: „Jetzt atmest du gerade wieder ein? “ Kommentar: S. hatte das Atmen nicht genau sehen können und regt mit der Frage die Selbstbeobachtung weiter an. M.: „Ja, jetzt wieder aus.“ Kommentar: Die verschiedenen Ebenen des Erlebens werden im Walk adressiert: Wahrnehmung, Bilder, Gedanken, körperliches Erleben und Ausdruck (Verhalten). In der WIYS-Ausbildung werden dazu Fragen vorgeschlagen, die die WalkleiterInnen stellen können, und hier werden manche LeserInnen typische körperpsychotherapeutische Fragen wiedererkennen: „Was passiert jetzt in deinem Körper? Hast du einen bestimmten Impuls? Kannst du auch im ganzen Raum laufen, oder geht nur eine bestimmte Stelle? Was machen deine Arme gerade? Wie gehst du? Wie siehst du die Welt, kannst du die Gruppe sehen? Wie ist deine Körper-Energie (von 0 bis 10)? Hat die Bewegung eine Richtung? Wirst du bewegt, oder bewegst du dich aus dir heraus? Kannst du die Bewegung mal größer machen? Wenn dies (ein Körperteil, eine Bewegung) eine Stimme hätte und sprechen könnte, was würde sie sagen? Gib der Körperempfindung mal mehr Raum! “ Nicht selten sprechen die Walker Gedanken aus und verlieren sich manchmal in Interpretationen. Hier ist es die Aufgabe der Walkleitung, auf das aktuelle Erleben im Walk, meist eine Körperempfindung, zurückzuführen. Das können Fragen sein wie z. B.: „Was spürst du im Körper, während du das sagst? Wie fühlt sich das an, was du gerade benannt hast? Welche Stelle im Körper geht damit in Resonanz? “ M. macht „wiegende“ Bewegungen des Oberkörpers, atmet deutlich aus und sagt, dass sie sich sehr wohl fühle gerade. M.: Ich bin ganz bei mir, im Gleichgewicht, starke Empfindung.“ S. (ihr kommt die Pendelbewegung vor wie in Zeitlupe, möchte es ansprechen): „Hat das ein Tempo? “ M.: „Andante“. Alle drei (S., U. und M.) lächeln (M. ist Musikerin). S. wiederholt: „Andante.“ Es kehrt Stille ein. M.: „Eigentlich ist jetzt nichts Wesentliches hinzuzufügen, der Walk könnte jetzt enden, ich möchte das (bei)behalten, in diesem Gleichgewicht bleiben.“ S. (möchte einen Körperanker vorschlagen): „Weißt du, wie du das Gefühl beibehalten kannst? “ M. faltet beide Hände auf den Oberbauch, da sitze das Gleichgewicht, das könne eine Geste sein. S.: „Wenn du magst, kannst du die Hände auch mal wegnehmen, um zu spüren, ob das für dich eine gute Geste ist. Nimm 162 4 | 2022 Sabine Ott dir bitte noch Zeit, damit du auf deine Weise den Walk beenden kannst.“ M.: „Ich merke, dass das nicht von der Geste abhängt. Am liebsten möchte ich diesen Zustand nach dem langen Ausatmen, diese Atempause in Erinnerung behalten, dann kommt diese Ruhe.“ M. wiederholt das Ausatmen mit der anschließenden Atempause und pendelt weiter hin und her. Kommentar: An dieser Stelle kann der / die AnliegenstellerIn, sofern nicht gleich wie der / die WalkerIn, in den Walk hineingebeten werden, um die Rolle des / der WalkerIn einzunehmen. Dies ermöglicht dem / der AnliegenstellerIn, in diesen guten Moment selbst hineinzuspüren und zu genießen. M.: „Ja, ich hab jetzt richtig das Bedürfnis, zu euch zurückzukommen und da drin zu bleiben. Mach ich jetzt.“ Kommentar: Meiner Erfahrung nach enden Walks meistens von dem / der WalkerIn ausgehend und mit einem angenehmen Gefühl. Hier lohnt es sich, noch mal nachzufragen, gegebenenfalls mit der Frage: „Spüre bitte mal in dich hinein, ob noch etwas fehlt“. Damit kann noch eine verdeckte Empfindung erkundet werden, oder es verstärkt sich der Wunsch „Es ist jetzt gut, ich kann den Walk beenden“. Wenn ein Walk mit einem Kongruenzgefühl endet, sind die WalkerInnen oft sehr entspannt und zufrieden. Nach dem Walk achtet die WalkleiterIn auf den Zustand der Beteiligten, im Gruppensetting also aller Anwesenden. Insbesondere bei Walks, bei denen das Thema „Trauma“ sichtbar wurde, sollte danach gut auf die TeilnehmerInnen geachtet werden. Die Rolle wird bewusst wieder „zurückgegeben“, ggf. mit einem Dank. Angelehnt an Rituale im Familienstellen kann das über ein Handreichen zwischen WalkerIn und AnliegenstellerIn gehen, und beide Beteiligte sagen dann: „Ich bin jetzt wieder (Vorname)“. Manchmal gehen auch Teilnehmende in der Gruppe in intensive Resonanz zum Walkthema. Dies kann erfragt werden und ggf. eine Reorientierungsübung für die Gruppe gemacht oder auch eine Kaffeepause eingeläutet werden. S. fragt, was M. als Anliegenstellerin möchte: erst einmal selbst etwas zum Walk sagen oder die Walkleiterin und die Beobachterin um eine Rückmeldung bitten. M. möchte eine Rückmeldung bekommen, wie wir das erlebt haben und was das lange Ausatmen mit der Atempause bedeuten könnte. U: „Innehalten“, S.: „Loslassen, alles Rauslassen.“, U.: „Das Glück des Nichts.“ Kommentar: Man kann das so machen und die Frage der Anliegestellerin damit aufgreifen, leicht aber entstehen Allgemeinplätze oder Interpretationen. Es ist empfehlenswert, zum eigentlichen Walk zurückzukommen und das zu besprechen, was wir gesehen haben. S.: „Anfangs hat M. gleich die Tür zugeschlossen mit einem Schlüssel! “ Wir lachen alle drei auf (erinnern uns an das Anliegen, einen Schlüssel finden zu wollen). S.: „Du standest schon da für deinen Walk und bist nochmal zur Tür gegangen, um abzuschließen. Da dachte ich: Das war das mit dem Schlüssel, jetzt kommt das Eigentliche. Das ist jetzt eine kleine Interpretation: Das Abschließen mit dem Schlüssel ist wie eine Metapher für ‚Ich lasse euch alle draußen, ihr kommt mir nicht rein in meinen Raum‘.“ M.: „Was zu tun hat mit dem ‚bei mir sein‘. Bin sehr oft bei den anderen, mach ich jetzt für die anderen das Richtige und denke selten nach: Was ist jetzt für mich gut. Im Walk war so ein Gefühl: Ich bin in meiner Ruhe und habe mich so stark gefühlt, alles war so ein Stück weit weggerückt, und in mir habe ich diese Stärke gefühlt, die aus diesem Gleichgewicht kommt.“ S.: „Wie bist du im Walk dorthin gekommen? Wie war der Übergang vom Suchen, das dich gestresst hat, zu der angenehmen Atembewegung Walking-in-your-shoes 4 | 2022 163 und dem Augenschließen? “ Weder S. noch U. noch M. erinnern sich genau daran. M.: „Ich weiß es auch nicht-- das ist doch auch ein entscheidender Vorteil, wenn man eine Video-Aufzeichnung hat, dann kann man das noch mal nachschauen.“ In U.s Aufzeichnung findet sich ein Hinweis, dass dann plötzlich das Ausatmen kam. M.: „Ja, das Ausatmen! “ S.: „Das hast du nicht gemacht, weil ich dir eine kluge Frage gestellt habe, sondern das hast du aus dir heraus gemacht? “ M. bestätigt das: „Ich kann mich jetzt erinnern, hatte plötzlich das Gefühl auszuatmen und noch mehr auszuatmen. Dann spürte ich die Ruhe an dem ‚Switchpunkt‘, bevor das Einatmen kommt.“ Kommentar: Manchmal kann man nach einem Walk einen zweiten anschließen, den sogenannten Anschlusswalk. Dies besonders dann, wenn im ersten Walk eine etwas unklare Position entstanden ist oder vielleicht ein Körperempfinden genauer angeschaut werden möchte (z. B. „Was hinter dieser Bewegung steckt“). In unserem Beispiel war das nicht der Fall. M. schreibt uns ein paar Tage nach dem Walk: „Hallo, ihr Lieben! Noch immer wirkt der Walk bei mir nach. Immer wieder habe ich diese tiefe Atmung angewendet, und es tat mir gut.“ Natürlich gibt es nicht immer Mitteilungen im Nachhinein, aber sie sind immer wertvoll, und in diesem Fall zeigt sich, dass M. ihre angenehm erlebte Atempause als Körperanker nutzt und so in einen Zustand des Wohlbefindens kommt. Dies ist möglicherweise für sie ein Körper-Schlüssel, indem sie sich auf sich selbst konzentriert und einen angenehmen ventrovagalen Zustand über das Atmen erzeugt. Es ist zu hoffen, dass ihr damit möglich wird, in all dem, was sie tut, ruhiger und entspannter zu sein, und sie sich den verschiedenen Bereichen ihres Lebens, „Familie, Beruf, Arbeit“, mit Freude und im persönlichen Gleichgewicht bleibend zuwenden kann. Eignung der Methode und Anwendungsmöglichkeiten Indikationen WIYS ist keine „Übung“, es wird auch nichts wiederholt im Sinn eines Rollenspiels, sondern es geht um ein Erkunden des körperlichen Erlebens. Eigentlich kann jedes Anliegen mit einem Walk angeschaut werden. WIYS ist eine wertungsfreie achtsame Methode, und sie benötigt kein Vorwissen oder Vorbereitung der KlientInnen. Sie ist eine Möglichkeit, die inneren Vorgänge über einen Bottum-up-Ansatz ins Bewusstsein zu bringen, und dann kann damit in anderer Form (verhaltenstherapeutisch, tiefenpsychologisch, systemisch, hypnotherapeutisch etc.) weitergearbeitet werden. Ein therapeutischer Behandlungsplan wird damit um wertvolle Impulse und Erkenntnisse bereichert. Da die Methode von den meisten AnwenderInnen bisher zu Selbsterfahrungszwecken genutzt wird, fehlen systematische Untersuchungen, wie sich das Walken bei seelischen Störungen auswirken kann. Ich kann aus meiner Erfahrung heraus dafür plädieren, dass WIYS auch im therapeutischen Kontext eingesetzt werden kann und sollte, gerade weil das Walken als körperorientierte Erkenntnismethode auf intuitive und ergebnisoffene Weise den KlientInnen ermöglicht, ihren eigenen „Weg zu finden“. Grenzen und Möglichkeiten des Video-Settings Im Video-Setting ist körperliches Berühren nicht möglich. Dies wird manchmal beim Walken eingesetzt, wenn die WalkerInnen es wünschen oder die Walkleitung es vorschlägt: „Was würde dir jetzt gut tun? Magst du die andere Person (im Doppelwalk oder aus der Gruppe) berühren? “ Hier ist natürlich immer das Einverständnis aller Beteiligten notwendig. Auch die Wahrnehmung des Riechens entfällt, was möglicherweise eine wichtige Zusatzinformation während des Walks hinsichtlich der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse bedeutet und ein- 164 4 | 2022 Sabine Ott mal näher untersucht werden müsste. Falls Ungewöhnliches auftritt, sind natürlich die Eingriffsmöglichkeiten der Walkleitung begrenzt. Daher sollte beim Video-Setting noch etwas genauer auf Vorbedingungen und eventuelle Kontraindikationen geachtet und die Teilnehmenden darauf hingewiesen werden, wie in schwierigen Situationen vorgegangen werden kann. Es entstehen auch viele neue Möglichkeiten: Als sehr vorteilhaft erweist sich die Möglichkeit, per Video viel mehr Menschen auf anstrengungslose Weise zu erreichen, auch in anderen Zeitzonen. In Kontakt mit anderen zu sein und gleichzeitig ganz „bei sich“, wird durch dieses Setting realisiert und erzeugt die besondere Erfahrung des Mit-Anderen-Verbunden-Seins ohne analoge körperliche Präsenz. Wie bei Abbildung 2 erwähnt, kann es sein, dass der Walk nur zum Teil sichtbar wird. Im Walk-Beispiel konnten wir M. jederzeit im Video sehen, das ist aber nicht unbedingt notwendig, zumindest dann, wenn die Akustik weiterhin einen Kontakt ermöglicht. Entweder könnte der / die WalkleiterIn fragen, was gerade geschieht, oder der / die WalkerIn teilt mit, was er / sie gerade macht oder fühlt. Aber auch das muss nicht unbedingt sein. Es geht nicht darum, dass der Walk in jeder Sekunde von einer Kontrollinstanz genauestens beobachtet wird, sondern dass der / die WalkerIn etwas erlebt und gegebenenfalls mitteilt. Einen weiteren Effekt des Video-Settings konnte ich bei mir selbst erfahren: Mir ging es als Walkerin einmal so, dass ich mich, an einem guten Ort angekommen, auf meinem Computer-Video selbst sah. Ich erlebte es als Be- und Verstärkung, als ich meine entspannte Körperhaltung sehen konnte. In Intervisionen mit ärztlichen Kolleginnen nutze ich hin und wieder den „Supervisions- Walk“ in einem von mir so benannten Format „Walking-in-your-patients’-shoes“ (WIYPS). Wie in den klassischen Balint-Gruppen beschäftigen wir uns mit Übertragung und Gegenübertragung im therapeutischen Kontext, und es entstehen Rollen wie zum Beispiel: Ich bin jetzt … ● … (Chiffre für den PatientInnen-Name) ● … das, was mein/ e PatientIn von mir erwartet ● … das verdeckte Thema zwischen uns ● … das verdeckte Thema des / der PatientIn ● … das, was hinter meinem komischen Gefühl steckt, wenn ich den Termin im Kalender sehe Die Supervisions-Walks können als Einzelwalk durchgeführt werden, wobei das Anliegen in der Regel vom Therapeuten / der Therapeutin selbst gewalkt wird. Zusätzlich kann ein/ e StellvertreterIn aus der Kolleginnengruppe zu einem Doppelwalk in der PatientInnenrolle gebeten werden. Hier haben wir schon eindrückliche Effekte gesehen. Zum Beispiel wollte im Doppelwalk einmal ein Patienten-Stellvertreter sich auf den Schoß des Behandlers setzen, und dies eröffnete im Nachgespräch Überlegungen zur Nähe-Distanz-Regulation und was das für die weitere Behandlung bedeutet. Kontraindikationen Jede Methode hat ihre Begrenzungen, und über Kontraindikationen spricht man im Zusammenhang mit Indikationen, also im Rahmen der Behandlung einer Erkrankung. Wenn WIYS in psychotherapeutischen Kontexten eingesetzt wird, muss die Walkleitung in der Lage sein, ungünstige Bedingungen zu erkennen, wie z. B. unzureichende Impulskontrolle, Suizidalität, dissoziative Zustände und übergriffiges Verhalten. Schwierige Situationen können beim Thema „Trauma“ entstehen, wenn z. B. Triggersituationen aktualisiert werden, die zu Erstarrung, Dissoziation oder anderen traumatisch bedingten Reaktionsweisen führen. Die Walkleitung sollte hier Grounding- und Reorientierungsangebote machen und dafür sorgen, dass WalkerInnen und AnliegenstellerInnen in einen selbstregulierten Zustand zurückkehren. Walking-in-your-shoes 4 | 2022 165 Wie wirkt WIYS? Das ist eine gute Frage. Zum Thema „Wirkfaktoren in der Körperpsychotherapie“ würde ich am liebsten das gesamte Kapitel 19 des Buchs „Praxis der Körperpsychotherapie“ von Geuter (2019) zitieren. Geuter schreibt, dass die Körperpsychotherapie mit ihren methodischen Mitteln das Selbsterleben fördert, „indem sie den Zugang zum Körpererleben öffnet und die Aufmerksamkeit für die körperliche Wahrnehmung schärft“ (Geuter 2019, 424) und dass „Reorganisation bedeutet, Muster so zu unterbrechen und in Bewegung zu bringen, dass ein Mensch seine Erfahrungen neu organisiert, vor allem indem er bedeutungsvolle neue verkörperte Erfahrungen macht.“ (Geuter 2019, 342) Körperpsychotherapie fördert also das Selbsterleben, führt zu einer Selbstregulation und ermöglicht Ressourcenaktivierung. Diese Wirkfaktoren werden auch im Setting der Methode WIYS aufgerufen. Der verlässliche Rahmen und die vorgegebene Struktur des Vorgehens schaffen eine sichere Grundlage für Lernerfahrungen im besten Sinne. Auch die im WIYS oft erlebten Überraschungseffekte entstehen aus einem vertieften Erleben, das die Verbindung eines Anliegens mit einer körperlichen Erfahrung ermöglicht. Und „Überraschungen sind ein mächtiger Faktor des Lernens“ (Geuter 2019, 434). Interessant ist, dass die im Walking-Prozess entstehenden Informationen nach Ansicht von Culp aus Erfahrung einen hohen Grad an Treffsicherheit aufweisen (Culp 2010, 8 ff ), was gewissermaßen einem Evidenzgrad Stufe IV entspricht (Meinung und Überzeugung angesehener Autoritäten). Wenn ein/ e StellvertreterIn walkt, ist immer wieder erstaunlich, wie gerade im Hinblick auf ein recht kurzes Vorgespräch plötzlich das Phänomen entsteht, dass etwas im Leben des anderen aufgezeigt wird, was gar nicht (kognitiv) gewusst werden konnte. Ich erinnere mich an eine Teilnehmerin, die im Walk auf einmal ein bestimmtes Lied gerne tanzen wollte („Live is Life“ von Opus), und es war ausgerechnet das Lieblingslied der Anliegenstellerin. Dass Menschen, die sich vorher nicht oder wenig kennen, plötzlich Verständnis und Erfahrungen eines anderen mit einer Genauigkeit bzw. Stimmigkeit aufrufen können, ist auch aus anderen Verfahren und Methoden bekannt, z. B. dem Familienstellen. Von der Hypothese eines kollektiven Unbewussten über die Hypothese eines „morphogenetischen Felds“ (nach R. Sheldrake) bis hin zu den Spiegelneuronen wurden verschiedene Wirkmechanismen vermutet. Assel schreibt dazu: „Ich persönlich verzichte ganz auf eine Erklärung und freue mich stattdessen darüber, dass man nicht alles erklären kann.“ (Assel 2010, 99) Er resümiert: „Wenn wir auf Erklärungen einmal verzichten, wird es vielleicht ‚klar‘.“ (Assel 2010, 103) Dass wir viel mehr vom Gegenüber aufnehmen und „wissen“, als wir „denken“, ist eine Alltagserfahrung, die sich nicht selten als „Bauchgefühl“ mitteilt. Nonverbale und paraverbale Informationen erreichen uns überwiegend subliminal, und dieses Wissen scheint dann eben auch in einem Walk „out of the blue“ an die Oberfläche zu kommen. Ein Walk zeigt also gewissermaßen „wie ein Barometer“ an, wie unser „Seelenwetter“ ist, und das ist meistens eine sehr nützliche Information. Zusammenfassend hoffe ich, vermittelt zu haben, dass es Freude macht, mit Walking-inyour-shoes (WIYS) zu arbeiten, und dass diese wunderbare Methode auch in körperpsychotherapeutischen Zusammenhängen Anwendung finden sollte. Literatur Assel, C. (2016): Wenn ich gehe, dann läuft’s! Die reine Kraft der Empathie. Walking In Your Shoes. Windpferd, Oberstdorf Assel, C. (2010): GEHEN Walking-in-your-shoes HEISST VERSTEHEN. Windpferd, Oberstdorf Cogswell, J. (1993): Walking in your shoes: toward integrating sense of self with sense of oneness. Journal of Humanistic Psychology 33 (3), 99-111, https: / / doi.org/ 10.1177/ 0022167 8930333009 166 4 | 2022 Sabine Ott Culp, J. (2010): Geleitwort. In: Assel, C. (2010): GEHEN Walking-in-your-shoes HEISST VERSTE- HEN. Windpferd, Oberstdorf, o. S. Geuter, U. (2019): Praxis Körperpsychotherapie. Springer, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978- 3-662-56596-4 Ott, S. (2017): Wie deutlich muss ich noch werden? Wenn der Körper mit uns spricht, wir ihn aber nicht verstehen. Eine Anleitung zur Selbsthilfe. Selbstverlag, Zornheim Wikiquote (2022): Martha Graham. In: https: / / en.wikiquote.org/ wiki/ Martha_Graham, 24.7.2022 Dr. med. Sabine Ott Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, niedergelassen in Zornheim / Rheinhessen, Schwerpunkt Traumatherapie und Psychosomatik, Verfahren: VT plus EMDR und TP, Ausbildung bei C. Assel zur Walkleiterin, Ausbildung bei J. Culp zur Ausbildungsleiterin. ✉ Dr. med. Sabine Ott Nieder-Olmer-Str. 12 | D-55270 Zornheim
