eJournals körper tanz bewegung 10/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2022.art02d
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2022
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Phänomenologie und Tanztherapie

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2022
Ursula Schorn
Als Tanz- und Gestalttherapeutin ist der Zugang der Autorin zur Tanztherapie geprägt von Theorien der Humanistischen Psychologie. Eine der entscheidenden philosophischen Wurzeln ist die Phänomenologie. Dieser Artikel sucht Erklärungsmodelle des Leibwissens in der Phänomenologie von Merleau-­Ponty sowie in der Forschung von Daniel Stern. Das Phänomen des Leibwissens, des Erfahrungsraumes jenseits von Sprache, rückt in den Vordergrund. Ziel dieses Artikels ist, die therapeutische Wirksamkeit des Leibwissens durch theoretische Erklärungsmodelle begreifbar zu machen. Den Transfer von Theorie zu tanz- und gestalttherapeutischer Arbeit wird anhand von Beispielen dargestellt. Sie sind geprägt vom Halprin Life/Art Process. Diese werden mit Bespielen aus der gestalttherapeutischen Leibarbeit in Verbindung gebracht. Phänomenologische Handlungsprinzipien öffnen Wege in ein intersubjektives Feld sowie Erfahrungsräume impliziten Wissens.
9_010_2022_1_0003
Fachbeitrag 2 körper-- tanz-- bewegung 10. Jg., S. 2-13 (2022) DOI 10.2378 / ktb2022.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Phänomenologie und Tanztherapie Der Leib als Erkenntnisorgan Ursula Schorn Als Tanz- und Gestalttherapeutin ist der Zugang der Autorin zur Tanztherapie geprägt von Theorien der Humanistischen Psychologie. Eine der entscheidenden philosophischen Wurzeln ist die Phänomenologie. Dieser Artikel sucht Erklärungsmodelle des Leibwissens in der Phänomenologie von Merleau- Ponty sowie in der Forschung von Daniel Stern. Das Phänomen des Leibwissens, des Erfahrungsraumes jenseits von Sprache, rückt in den Vordergrund. Ziel dieses Artikels ist, die therapeutische Wirksamkeit des Leibwissens durch theoretische Erklärungsmodelle begreifbar zu machen. Den Transfer von Theorie zu tanz- und gestalttherapeutischer Arbeit wird anhand von Beispielen dargestellt. Sie sind geprägt vom Halprin Life / Art Process. Diese werden mit Bespielen aus der gestalttherapeutischen Leibarbeit in Verbindung gebracht. Phänomenologische Handlungsprinzipien öffnen Wege in ein intersubjektives Feld sowie Erfahrungsräume impliziten Wissens. Schlüsselbegriffe Phänomenologie, der Gegenwartsmoment, Leibwissen, implizites Wissen, Ursprung der Intersubjektivität, vom Unbewussten zum Bewusst-Sein, Sich-selbst-Verstehen Phenomenology and Dance Movement Therapy. The Body as an Organ of Knowledge As a dance and Gestalt therapist, the approach of the author to dance therapy is based on theories of humanistic psychology. One of the crucial philosophical roots is phenomenology. This article seeks explanatory models of body knowledge in the phenomenology of Merleau-Ponty, as well as in Daniel Stern’s research. The phenomenon of body knowledge, the realm of experience beyond language, comes to the fore. The aim of this article is to-make the therapeutic effectiveness of body knowledge comprehensible through theoretical explanatory models. The transfer from theory to dance therapy and gestalt therapy work is illustrated using examples. They are shaped by the Halprin Life / Art Process. These are associated with examples from gestalt therapeutic bodywork. Phenomenological principles of action open ways into an intersubjective field as well as realms of experience of implicit knowledge. Key words phenomenology, the present moment, body knowledge, implicit knowledge, origin of intersubjectivity, from the unconscious to consciousness, understanding oneself Phänomenologie und Tanztherapie 1 | 2022 3 A ls Tanz- und Gestalttherapeutin bin ich Zeugin von therapeutischen Prozessen, die in abschließenden Rückmeldungen der KlientInnen folgendermaßen beschrieben werden: ● eine Verbindung von Leichtigkeit und Tiefe ● Sicherheit im bewertungsfreien Raum ● Erkenntnisprozesse jenseits von Sprache Diesen Artikel zu schreiben, betrachte ich als Herausforderung, Worte und Erklärungen zu finden für Erfahrungs- und Veränderungsprozesse, die sich im Raum jenseits kognitiver Begrifflichkeit und von außen herangetragener Deutung und Interpretation ereignen. Die Suche nach Erklärungen der genannten Rückmeldungen führt mich zur Phänomenologie, eine der entscheidenden philosophischen Wurzeln der Gestalttherapie. Sie stellt die gegenwärtige Erfahrung des Hier und Jetzt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Aus dem großen Feld der Phänomenologie fokussiere ich mich auf Merleau-Ponty, der den Leib als Erkenntnisorgan zum grundlegenden Phänomen erklärt. Zugänge zu Feinstrukturen leiblicher Gegenwartserfahrung entdecke ich in Forschungsarbeiten von Daniel Stern, die leiborientierten, therapeutischen Interventionen und Intentionen eine klare Richtung geben. Die genannten theoretischen Quellen geben meiner Suchbewegung nach Erklärungen ein tragfähiges Fundament, um das Phänomen des Leibwissens in seinen kreativen Ausdrucksformen der Körperarbeit, der Bewegung und dem Tanz erfassen und erklären zu können. Grundannahmen der Phänomenologie Phänomenologie ist Erkenntnistheorie sowie Methodik. Sie verlagert den Blick auf das Gewahrsein im Hier und Jetzt. Damit gewinnt der Körper als erkennender Leib an Bedeutung. Es gilt, das Offensichtliche zu sehen, zu spüren und mit Bewusstheit wahrzunehmen. „Wie kommen wir in diese innere Einstellung, in der die Meinung sich in wahres Erkennen wandelt? “, fragt Sylvester Walch (1990, 134). Husserl schlägt dafür die phänomenologische Methode der „epoche“ vor, ein Ausschalten, Einklammern, eine Reduktion von alldem, was uns geläufig und vertraut ist (Husserl 1985). Der Gestaltpsychologe Metzger beschrieb dies folgendermaßen: „Das Vorgefundene einfach hinnehmen wie es ist, auch wenn es unerwartet, unlogisch und widersinnig erscheint. (…) Die Dinge selbst sprechen lassen, ohne Seitenblicke auf Bekanntes, früher Gelerntes, Selbstverständliches.“ (Metzger 1975, 12) Der Handelnde, in diesem Fall der Sich-Bewegende, begibt sich auf einen Erkenntnisweg, der in der leiblichen Begegnung mit den Dingen, den Phänomenen Erkenntnisse gewinnt, denn „von Bedeutung ist die innere Begegnung und Berührung mit dem zu Erkennenden“ (Walch 1990, 126). An die Stelle der Analyse oder Erklärung tritt die Beschreibung der Wesensstruktur des Phänomens, eine grundlegende phänomenologische Methode. Alles Vorwissen über einen Erfahrungsgegenstand auszuschalten, um sich ihm vorurteilsfrei zu nähern, bis sein Wesen sichtbar wird, ist Ziel phänomenologisch geprägter Erkenntnisprozesse. Merleau-Ponty-- Der Leib als Erkenntnisorgan Auf der Suche nach einem tieferen Verstehen leiblicher Erkenntnisprozesse folge ich den Grundannahmen des französischen Phänomenologen Merleau-Ponty (1908-1961). Denn er hat den Aspekt der Leiblichkeit, der sinnlichen Existenz, in die Phänomenologie eingebunden, aufbauend auf dem Werk des Begründers der Phänomenologie, Edmund Husserl. Merleau-Ponty schreibt: „Der Leib ist kein Gegenstand. Aus demselben Grund ist auch mein Bewusstsein des Leibes kein Denken, ich kann den Leib nicht auseinandernehmen 4 1 | 2022 Ursula Schorn und wieder zusammensetzen, um eine klare Vorstellung von ihm zu gewinnen. Seine Einheit ist eine beständig nur implizite. (…) Er bleibt verwurzelt in der Natur“, denn „zur Kenntnis des Leibes führt kein anderer Weg als der, ihn zu er-leben, d. h. das Drama, das durch ihn hindurch sich abspielt, auf sich zu nehmen und in ihm selber aufzugehen.“ (Merleau-Ponty 1966, 234) Und weiter sagt er: „Unser Leib ist nicht lediglich ein Ausdrucksraum unter vielen anderen mehr. Er selbst ist der Ursprung aller anderen Ausdrucksräume, die Bewegung des Ausdrückens selbst, das, was Bedeutungen aus sich erst entwirft und ihnen einen Ort gibt.“ (Merleau-Ponty 1966, 176) Merleau-Ponty steigt noch tiefer in das Phänomen leiblichen Wissens ein, indem er sagt: „Insofern sie [die leibliche Existenz] Sinnesorgane trägt, ruht sie in sich selbst, ist sie von einem aktiven Nichts durchwirkt, fordert sie unaufhörlich mich zu leben auf, und in jedem neu angekommenen Augenblick zeichnet die natürliche Zeit von neuem die Leerform eines wirklichen Geschehnisses vor.“ Aus Merleau-Pontys Perspektive ist Phänomenologie „eine Philosophie des beständigen Anfangs“ (Merleau-Ponty 1966, 198). Welche Erkenntnisse werden in diesen Worten greifbar. Nun stellt sich mir als Therapeutin die Frage: Wie können wir als TanztherapeutInnen leibliche Erfahrungsräume öffnen und die von Merleau-Ponty beschriebene Komplexität begreifbar und erfahrbar machen, ohne uns in ihr zu verlieren? Ist die Leerform, das aktive Nichts, von dem er spricht, eine von ihm gewählte Metapher, der Ort, an dem der Leib aus dem Nicht-Wissen seine Bedeutungen entwirft? Folgerichtig betont Merleau-Ponty, wie wichtig es sei, die Erfahrung des Eigenen und des Anderen „frei zu halten von sie verzerrenden intellektualisierenden Analysen“ (Merleau-Ponty 1966, 219). Denn: „Durch meinen Leib verstehe ich den Anderen.“ (Merleau- Ponty 1966, 219 f ). Dies schreibt er 1945 und nimmt entscheidende Erkenntnisse voraus, die wissenschaftlich belegt werden. Auch Daniel Stern widmete sich diesem Thema. Seine Beobachtungen leiblicher Entwicklungen der ersten Lebensmonate sind so greifbar dargestellt, dass die Komplexität leiblicher Erfahrungsräume unmittelbar in leiborientiertes therapeutisches Handeln übersetzbar zu sein scheint. Doch zunächst eine Darstellung von Sterns Weg in die Beschreibung des Gegenwartsmoments, verknüpft mit seiner Intention, diese gewonnenen Erkenntnisse in therapeutisches Handeln zu übersetzen. Daniel Stern-- der Weg in die Phänomenologie Daniel Stern, Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe, hat sich durch seine Beschäftigung mit dem Gegenwartsmoment sowie der Lebenswelt des Säuglings in den Bereich der Phänomenologie begeben, das zunächst Neuland für ihn war (Stern 2014, 15). Und er fragt, warum die klinische Psychologie in der Vergangenheit niemals direkt von der in der Gegenwart gelebten Erfahrung ausgegangen sei, denn „unser subjektives Erleben ist ein Thema mit gewaltigen Dimensionen“ (Stern 2014, 14). Seine phänomenologische Grundannahme basiert auf der Annahme, dass „Veränderung auf gelebter Erfahrung beruht. Verbales Verstehen, Erklären oder Erzählen reicht für sich allein genommen nicht aus, um eine Veränderung in Gang zu setzen. Notwendig ist auch ein reales Erleben, ein subjektiv erlebtes Geschehen. Ein Ereignis muss gelebt werden, mit Gefühlen und Handlungen, die in der Echtzeit, in der realen Welt und in einem Moment der Gegenwärtigkeit verankert sind und mit realen Menschen zu tun haben.“ (Stern 2014, 14 f ). So definiert Stern Phänomenologie als die „Erforschung der Dinge, wie sie sich dem Bewusstsein präsentieren und unserem Gewahrsein zufolge zu sein scheinen. Zu ihren Gegenständen zählen Sensationen, Gefühle, Phänomenologie und Tanztherapie 1 | 2022 5 Träume, Phantasien, Erwartungen, Ideen (…). Die Phänomenologie fragt nicht danach, wie diese Dinge von unserem Geist erzeugt wurden oder wie sie ihren Weg ins Bewusstsein fanden. (…) Sie beschäftigt sich ausschließlich mit der Erscheinung der Dinge, mit der Art und Weise, wie sie sich unserem Erleben präsentieren oder darstellen.“ (Stern 2014, 27) Er benennt die Grenze sprachlich geprägter Erkenntnisprozesse, indem er sagt: „Der Gegenwartsmoment lässt sich, während er gelebt wird, nicht mit Hilfe der Sprache erfassen, die ihn vielmehr erst nachträglich (re)konstruiert. Wie groß ist der Unterschied zwischen der sprachlichen Version und der ursprünglichen, gelebten? “ (Stern 2014, 27) Und er betont, dass „gelebte Erfahrung der Erfahrungsbezug ist, auf dem Sprache aufbaut. Sie ist das nicht greifbare Geschehen unserer Realität. Folglich müssen wir sie, so gut wir können, untersuchen, um besser über sie nachdenken und therapeutische Ansätze erarbeiten zu können.“ (Stern 2014, 27) Daniel Stern erkennt Grundstrukturen des Erlebens im Mikrokosmos der Gegenwart (Stern 2014, 12). Der Mikrokosmos der Gegenwart Daniel Sterns Forschungsergebnisse erschienen 2014 in seinem Buch „Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag“. Seine Wege in den Mikrokosmos der Gegenwart führen ihn in eine „Welt in einem Sandkorn“. Bildhaft beschreiben seine poetischen Worte „Dimensionen jener kleinen Welt, die sich durch die Mikroanalyse erschließt. Gleichzeitig lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass man das umfassendere Panorama des früheren und gegenwärtigen Lebens eines Menschen häufig in den kleinen Verhaltensweisen und mentalen Akten wahrnehmen kann, aus denen sich diese Mikrowelt aufbaut. Hinzu kommt etwas außenordentlich Wichtiges: Indem man nämlich die Welt in dieser Realitätsdimension betrachtet, verändert sich das, was sichtbar ist, und damit verändern sich auch unsere Grundvorstellungen von dieser Welt.“ (Stern 2014, 15). Blicken wir in diesen Mikrokosmos des Gegenwartsmoments, öffnen sich die Augen und Sinne im Sehen und Erkennen ungeahnter Dimensionen und neuer Perspektiven. Der Blick in den Raum des Nicht- Wissens- - von Merleau-Ponty als die „Leerform“ wirklichen Geschehnisses beschrieben, von Stern als die „dunkle Seite des Mondes“ benannt- - fordert uns zu der Frage heraus: Was geschieht, phänomenologisch betrachtet, in diesem Raum, dem Raum des Leibwissens, jenseits von intellektuell erklärenden Worten? Und wie nähern wir uns diesem verborgenen Wissen? Stern nähert sich diesem Raum, indem er Grundstrukturen früher Entwicklungsprozesse bis ins Detail wahrnimmt und beschreibt. Die sich mir daran anknüpfende Frage lautet: Wie können diese Phänomene früher leiblicher Ausdrucksformen zu Prinzipien leibtherapeutischer Arbeit werden? Stern beschreibt die Ergebnisse der Säuglingsforschung in seinem 1992 erschienenen Buch „Die Lebenserfahrung des Säuglings“ (Stern 1992). Das Phänomen amodaler Wahrnehmung Zunächst entdeckte Stern Kompetenzen des Säuglings, die er als amodale Wahrnehmung definiert: „Säuglinge scheinen dank einer angeborenen generellen Fähigkeit die in einer bestimmten Sinnesmodalität aufgenommene Information irgendwie in eine andere Sinnesmodalität übersetzen zu können. Wie sie es machen, wissen wir nicht. Vermutlich wird die Information dem Säugling gar nicht über einen bestimmten Sinnesmodus vermittelt. Sie überschreitet vielmehr die Modi oder Kanäle der Wahrnehmung und existiert in einer unbekannten, supramodalen Form.“ (Stern 1992, 79) Bei diesen abstrakten, für den Säugling wahrnehmbaren Repräsentationen von Wahrnehmungseigenschaften handelt es sich nicht um Bilder, Töne, haptische Eindrücke und be- 6 1 | 2022 Ursula Schorn nennbare Objekte, sondern vielmehr um Formen, Intensitätsgrade und Zeitmuster- - die eher „globalen Merkmale des Erlebens“ (Stern 1992, 80). In dieser frühen Zeit der Entwicklung ist das kreative Potential im Menschen bereits angelegt, transmodale Prozesse vollziehen zu können. Denn, so folgert Stern: „Das Bedürfnis sowie die Fähigkeit, abstrakte Repräsentationen von primären Wahrnehmungseigenschaften zu entwickeln und nach ihnen zu handeln, sind bereits mit dem Beginn des psychischen Lebens vorhanden.“ (Stern 1992, 80) Das Phänomen der Imitation zwischen Mutter und Kind In den ersten Lebensmonaten des Säuglings verhält sich die Mutter überwiegend imitatorisch. Durch ihre empathische Einfühlung auf Bewegungen und Lautgebungen des Kindes, ihre bewusste Wahrnehmung, differenzierte leibliche Spürfähigkeit und ihr rhythmisches Einschwingen auf die abstrakten, amodalen Ausdrucksphänomene des Kindes entsteht ein „bewegter“ Zwischenraum zwischen Mutter und Kind. Der Blick in den Mikrokosmos einer sich bildenden Mutter-Kind-Beziehung öffnet zugleich den Blick in die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung, die, verstanden als intersubjektive Begegnung zweier Menschen, von mir als Therapeutin das verlangt, was die Mutter dem Kind gegenüber lebt, spürt und zum Ausdruck bringt. Heute geben neurobiologische Forschungen Erklärungen für das Phänomen empathischen Verhaltens: dass unser Nervensystem (die Spiegelneurone) vom Nervensystem anderer Menschen „verstanden“ werden kann, dass nicht nur unsere Augen wahrnehmen, sondern dass wir auch scheinbar „in die Haut eines Anderen“ hineinspüren können. Stern spricht von einem neuronalen Korrelat der Intersubjektivität: „Damit eine andere Person eine Resonanz in uns finden kann, müssen wir unbewusst mit ihr synchronisiert sein.“ (Stern 2014, 93) Wie oft entdecke ich in therapeutischen Prozessen meine unbewusst synchronisierte Körperhaltung, identisch mit der des Klienten. Indem ich mir dessen bewusst werde, wird dieses erlebte Phänomen möglicherweise zur kreativen Herausforderung eines intersubjektiven Erfahrungsprozesses, der aus der Synchronizität in einen Veränderungsprozess führen kann. Denn Nachahmung allein ermöglicht nicht Veränderung. Und genau dieses Phänomen der Veränderung beobachtet Stern zwischen der Mutter und ihrem Kind in den fortschreitenden ersten Monaten des Lebens. Er spricht von einem emotionalen Pfad, der sich uns öffnet, der direkt in den Anderen hinein führt (Stern 2014, 89). Das Phänomen der Affektabstimmung: Ursprung von Intersubjektivität Ab dem 9. Lebensmonat verändert und erweitert sich das imitatorische Verhalten der Mutter um eine neue Dimension, die Stern als Affektabstimmung benennt. Das imitatorische Geschehen wird umgestaltet und die Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was „hinter dem Verstand liegt, auf die Qualität des Gefühls, das gemeinsam empfunden wird“ (Stern 1993, 204). Das Kind wird zum potentiell intersubjektiven Partner. Während die Nachahmung auf Formen äußerlich sichtbaren Verhaltens konzentriert ist, wird in der Affektabstimmung durch die Umgestaltung des Ausdrucksverhaltens eine Verbindung zu inneren, emotionalen Zuständen zwischen der Mutter und ihrem Kind geschaffen. Es entwickelt sich das gemeinsame Erleben und der gegenseitige Austausch von Gefühlen. Und von großer Bedeutung ist, dass es sich hier nicht um den Austausch von Zeichen oder Symbolen handelt, sondern um eine Abstimmung von abstrakten Bewegungs- und Ausdrucksvariablen in den Parametern von Intensität, Zeitmuster und Raum (Stern 1993, 203). Entsprechungen zeigen sich im Intensitätsniveau (Stern 1993, 218). Phänomenologie und Tanztherapie 1 | 2022 7 Hier stellt sich die Frage: Wie können diese von Daniel Stern erforschten Phänomene frühester leiblicher Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen- - die amodale Wahrnehmung, die imitatorische Verhaltensweise, die Affektabstimmung- - zu Prinzipien therapeutischer Handlungsräume werden, die den Leib als Sinnes- und Ausdrucksorgan ins Zentrum stellen? Vom Phänomen amodaler Wahrnehmung zum Prinzip intermedialer Prozesse Wie das Phänomen amodaler Wahrnehmung seine Entsprechung finden kann im therapeutischen Prozess, möchte ich im folgenden Beispiel intermedialer Arbeit darstellen. Aus dem nach innen gerichteten Spüren mit dem Fokus auf einen körperlichen Schmerzbereich mag der Impuls entstehen, die Hände auf den Ort des Schmerzes zu legen, den Atem unter die Hände zu lenken und durch den Atem einen inneren, sich zunehmend weitenden Ort entstehen zu lassen. Das innere Auge- - gelenkt vom Atem in diesem inneren Raum- - beginnt, Farben und Formen zu imaginieren. Dieses innere Bild wird sichtbar im Malen: Ein intrapersonaler Dialog entsteht zwischen dem sehenden Auge und dem Bild, ein Übergang vom Wahrnehmungssinn zum sprachlichen Sinn (Merleau-Ponty 2004, 228), von der „schweigenden“ Sprache des Bildes zum erlebenden Beschreiben des Gesehenen. Ein bildhaftes Wort findet wiederum einen Ausdruck in einer Gestik. Die Gestik verbindet sich mit der Bewegung des ganzen Körpers zu einer fließenden Bewegung, die ein wiederholbares Bewegungsmotiv entstehen lässt, das sich im Raum und im Rhythmus einer gewählten Musik zu einem Tanz entwickelt und in einer Körperposition seinen Abschluss findet. Die Hände suchen wieder den Ort des Schmerzes. Sie nehmen wahr, was sich unter den Händen verändert und verwandelt hat. Das innere Auge wandert hinein in den inneren, leiblichen Ort des Schmerzes und sieht möglicherweise ein Bild, das wiederum gemalt und schließlich neben das erste Bild gelegt wird. Im Vergleich der beiden Bilder nehmen die Augen wahr, wie sich Farben, Formen, Raumwege und die Intensität der Strichführung im zweiten Bild verändert haben und wie möglicherweise ein neues bildhaftes Wort, vielleicht ein Satz, zum Thema dieses Prozesses wird. Beziehen wir kreative Medien in einen therapeutischen Prozess ein-- in diesem Kontext methodisch geprägt durch den Life / Art Process (Wittmann et al. 2013, 48 ff und 108 ff )-- wird erkennbar, wie sich mit jedem Ausdrucksmedium- - sei es die Bewegung, der Tanz, die Stimme, Musik, Malen, das poetische Schreiben- - neue Erfahrungs- und Ausdrucksräume öffnen sowie neue Perspektiven subjektiven Erlebens zeigen. Öffnen sich Sinneskanäle-- das Sehen, Fühlen, Hören, Berühren und der kinästhetische Sinn- - erschließt sich Sinnhaftigkeit als leibliches Erfassen eines Erfahrungsprozesses (Petzold 1993, 16). Innere Bilder werden sichtbar im gemalten Bild, im poetischen Text beschrieben und in der Bewegung aktiv gestaltet. Somit durchwandert das Phänomen des Schmerzes transformierende Erfahrungsräume, die den Schmerz von Schichten zugeordneter Interpretationen zu befreien vermögen. Denn Phänomenologie „will den Schein innerhalb der Erscheinung bloßlegen, um zu ihrem Wesen zu gelangen.“ (Walch 1990, 132) Sie will „die Dinge selbst sprechen lassen“ (Metzger 1975), den Schmerz, die Gestik, die Bewegung, den Tanz, das gemalte, das bildhafte Wort. 8 1 | 2022 Ursula Schorn Vom Phänomen imitatorischen Verhaltens zum Prinzip der Spiegelung und Einstimmung Das Phänomen imitatorischen Verhaltens der Mutter, von Stern in den ersten Lebensmonaten des Säuglings beobachtet, spielt in dem Aufbau einer therapeutischen Beziehung eine wichtige Rolle: als empathisches Sich-Einstimmen in den Klienten, in die Tonlage, Melodie und den Rhythmus seiner Sprechweise, die Zeiträume des Erzählens und Pausierens. Der Übergang von einer verbalen zur nonverbalen Kontaktaufnahme über die Sprache des Körpers braucht feine, oftmals kleine Schritte behutsamer Annäherung an den Körper als Wahrnehmungsorgan: Imitatorische Spiegelungen von Bewegungen, Variationen im Tempo, der Intensität im Krafteinsatz, der Formgebung im weiten oder körpernahen Raum laden den Klienten dazu ein, verborgene Ausdrucksdynamiken hervorzulocken. Stern spricht von Vitalitätsaffekten, die in „dynamischen Zeitgestalten, als zeitlich konturierte Gefühle, verbunden mit Affekten, Bewegungen, Gedanken, Sensationen sowie mentaler und physischer Aktivität“ (Stern 2004, 54) auftauchen. Verborgene Ausdruckspotentiale zeigen sich im Spiel synchroner Abstimmungen mit einem Gegenüber. Ausdrucksformen der Bewegung differenzieren sich in Raum und Zeit durch ein bewegtes Miteinander in der Spiegelung, zugleich differenziert sich das emotionale Erleben in der Gegenwärtigkeit des bewegten Augenblicks. Der Klient sieht sich wie im Spiegel, fühlt sich von seinem Gegenüber angenommen in seinem Bewegungsausdruck und -rhythmus, seinen dynamischen Impulsen und räumlichen Gestaltungen. Hier bildet sich eine Grundvoraussetzung, um aus der Spiegelung und der gegenseitigen Einstimmung den Raum intersubjektiver Begegnung zu öffnen und das Phänomen der Affektabstimmung erfahrbar zu machen. Vom Phänomen der Affektabstimmung zum Prinzip der Resonanz im intersubjektiven Kontakt Das Phänomen der Affektabstimmung, der Umgestaltung eines Ausdrucks, führt zum Prinzip der Resonanz, mit Hartmut Rosas Worten zu „einem wechselseitigen Antwortverhältnis, bei dem die Subjekte sich nicht nur berühren lassen, sondern ihrerseits zugleich zu berühren vermögen“ (Rosa 2016, 270). Die Aufmerksamkeit wird auf die Qualität des Gefühls gelenkt. Wie lässt sich ein Erfahrungsraum öffnen, der nicht nur Gefühlen Zeit und Raum gibt, sich zu zeigen, sondern durch den intersubjektiven Kontakt eine Umgestaltung emotionalen Erlebens möglich macht? Zu dieser Fragestellung folgendes Beispiel einer Partnerarbeit: Zwei Personen, eine Frau und ein Mann, geben ihrem momentanen Befinden Ausdruck in einer bewegten Gestik der Arme und Hände. Die Frau zeigt ihre Bewegung dem Partner. Dieser greift die Gestik der Partnerin auf und bewegt sich zunächst mit der Partnerin synchron, stimmt sich ein in den Rhythmus, die Raumform und Intensität ihrer Gestik. Die Partnerin, die ihre Gestik dem Partner übergeben hat, steigt aus der gemeinsamen Bewegung aus und wird zur Zeugin des Bewegungsprozesses des Partners. Die Aufgabe des sich bewegenden Partners besteht jetzt darin, sich von der Gestik der Partnerin führen und leiten zu lassen: Wohin, in welche Richtung, auf welche Raumebene führt sie mich, in welchem Tempo oder Rhythmus, mit wie viel oder wenig Krafteinsatz bewegt sie mich? Welche Bewegungsform kristallisiert sich allmählich heraus in ihrem Rhythmus, ihrer Intensität, ihrer Raumform? Schließlich finden die Arme und Hände eine Schlussposition, in der der Bewegende den Prozess beendet. Dies ist die Zeit für beide Partner, dem aktiv Bewegten und der Zeugin, Resonanzen und das Berührt-Sein durch den anderen in sich selbst sowie im intersubjektiven Zwischenraum zu erspüren. Phänomenologie und Tanztherapie 1 | 2022 9 Von wesentlicher Bedeutung für diesen Erfahrungsprozess ist, dass der Bewegende sich „führen“ lässt von der Gestik, die an ihn übergeben wurde, dass er nicht nach einer Bedeutung dieser Gestik sucht, sondern sich im leiblichen Spüren dieser Gestik in den Raum des Nicht-Wissens begibt, mit geöffneten Sinnen sich dem überlässt, was wie von allein sich zu ereignen scheint: ein sensibler Prozess inneren Spürens, Fühlens und Geschehenlassens. Die Partnerin, deren Bewegung vom anderen übernommen wird, nimmt als Zeugin mit wacher Aufmerksamkeit an dem Bewegungsgeschehen des Partners teil, sie nimmt wahr, wie sich ihre ursprüngliche Bewegung verwandelt und welche leiblichen Resonanzen in ihr spürbar werden. Sie mag in sich oder auch in ihrem Partner eine wachsende oder sich lösende Körperspannung wahrnehmen, einen angehaltenen Atem, der allmählich wieder ins Fließen kommt, ein Berührt- und Bewegtsein, ein plötzliches Lachen, dann wieder eine unerklärliche Traurigkeit, eine große Überraschung, ausgelöst durch unerwartete Veränderungen ihrer ursprünglichen Gestik. Die beiden Partner setzen sich schließlich zu einem Sharing gegenüber, versuchen, mit oder auch ohne Worte zum Ausdruck zu bringen, was dieser Prozess in jedem von ihnen ausgelöst hat. Die Zeugin beginnt, ihre Wahrnehmungen, leiblichen Empfindungen und Gefühle ihrem Partner mitzuteilen. Es mögen Bilder oder Assoziationen sein, die sie versucht, in Worte zu fassen, die nicht interpretieren oder bewerten. Denn dies ist ein zentrales methodisches Prinzip phänomenologischen Arbeitens, nicht zu interpretieren, nicht zu bewerten, nicht zu erklären, sondern die Sinne zu öffnen für einen neuen Blick auf das ursprünglich Vertraute, das Eigene, das sich in dem Anderen verwandelt und die Augen der Zeugin öffnet für eine neue, ungeahnte Perspektive des Erlebens. Voraussetzung ist, dass beide Partner sich „berühren“ lassen. Denn im gemeinsamen Sharing der Partner wird erfahrbar, dass Resonanzen nicht nur in der Zeugin, sondern auch im aktiv sich Bewegenden spürbar werden, dass wir Menschen in der Lage sind, wie Merleau-Ponty sagt, durch unseren Leib den anderen zu verstehen. Oder, wie Stern es formuliert, dass „ich fühle-- dass du fühlst- - dass ich fühle“ (Stern 2014, 88). Die essentielle Erfahrung von Intersubjektivität. Vom Phänomen abstrakter Ausdrucksformen zum Prinzip abstrakter Bewegungsparameter Stern hat die Fähigkeit beschrieben, in den ersten Lebensmonaten „abstrakte“ Repräsentationen von primären Wahrnehmungseigenschaften zu entwickeln und nach ihnen zu handeln und stellt die These auf, dass diese Fähigkeiten bereits mit dem Beginn des psychischen Lebens vorhanden sind. Bei diesen abstrakten Repräsentationen von Wahrnehmungseigenschaften handelt es sich um Formen, Intensitätsgrade und Zeitmuster (Stern 2014). An diese Fähigkeit knüpfe ich an, indem ich Bewegungsprozesse im spielerischen Entdecken von Raumformen (Raumebenen und -richtungen), Zeitmustern (Rhythmen und Tempi) und Intensitätsgraden (kraftvolle und zarte Bewegungen) initiiere. Diese Grundformen der Bewegung sind inhaltsleer in dem Sinne, dass sie nicht Träger von Narrationen oder Symbolen, sondern geprägt sind von abstrakten Bewegungen. Die verbale Begleitung eines solchen Bewegungsprozesses hilft dem Bewegenden, den Fokus auf die genannten Bewegungsaspekte zu lenken und immer wieder durch neue Impulse die bewusste Wahrnehmungsfähigkeit im Augenblick des Geschehens zu aktivieren und zu differenzieren. Diese Bewegungsvariablen sichtbar zu machen, gelingt durch einen intermedialen Transfer von der Bewegung zum Malen. Der Life / Art Process spricht von einer Psychokinetischen Visualisierung. Das folgende Beispiel beschreibt diesen Prozess: 10 1 | 2022 Ursula Schorn Nach einer experimentellen Bewegungsphase, der Suche nach Gesten des Öffnens und Schließens, des Nehmens und Gebens in verschiedenen Raumrichtungen, Dynamiken und Zeitfaktoren greifen die Hände nach farbigen Stiften. Beide Hände übertragen die soeben entdeckte und sich wiederholende Bewegungsspur in eine fortlaufend fließende Bewegung „tanzend“ auf ein großes Blatt Papier, die Augen möglichst geschlossen, um den Fluss der Bewegung nicht durch den tendenziell bewertenden und deutenden Blick der Augen zu stören. Schließlich öffnen sich die Augen und schauen auf das Bild, nicht bewertend, nicht auf der Suche nach Bedeutung, sondern sie nehmen „das Vorgefundene einfach hin, wie es ist, und lassen die Dinge-- das gemalte Bild-- zu sich sprechen“ (Metzger 1975, 12), gelenkt von der Fragestellung: Was sehe ich? Worte beschreiben die nun sichtbar gewordenen abstrakten Bewegungsformen: „Ich sehe zarte und kraftvolle Linien, die um ein Zentrum kreisen, von der Mitte zur Peripherie sich bewegen, im Rhythmus einer liegenden Acht endlos zu fließen scheinen.“ Das Bild wird zum Gegenüber des Malenden und ermöglicht, inneres, leibliches Erleben aus einem räumlichen Abstand zu betrachten. Merleau-Ponty sieht in einem Bild „das Innen des Außen und das Außen des Innen, das die Doppelnatur des Empfindens möglich macht“ (Merleau-Ponty 2003, 282). Nun werden die Augen eingeladen, ein graphisches Phänomen, eine Figur / Gestalt im Vordergrund des Bildes zu suchen: Wo wandern die Augen hin? Welches graphische Motiv in dem gemalten Bild macht neugierig, irritiert, ist fremd oder verbindet sich mit einer Fragestellung wie z. B. „Wo kommst du (Strich) her? Wo führst du hin? Was geschieht hier (an der Kreuzung zweier Linien)? “ Die Hände berühren die gewählte graphische Figur auf dem Bild (das an der Wand hängt), folgen dem Bewegungsfluss, aus dem diese Figur malend entstand. Dann lösen sich die Hände von der Bildfläche und übertragen diese gewählte, bewegte Figur von der Zweidimensionalität des Bildes in den dreidimensionalen Raum. Und hier, in der leiblichen Identifikation mit der abstrakten graphischen Figur, den neu zu entdeckenden Variationen der bewegten Figur in den Variablen von Raum, Zeit und Intensität, verwandelt sich die ursprüngliche Figur, wird leiblich greifbar und spürbar in ihren Veränderungen, sie beginnt, die in ihr verborgene Suchbewegung aufzuspüren, ein Streben auf etwas hin, von Stern als Intentionalität der Bewegung benannt (Stern 2014, 76): Wohin führst du mich? Woher kommst du? Was spüre und entdecke ich, wenn ich mich von dir führen lasse? Welche Bewegung kristallisiert sich jetzt heraus, findet seine Form im Raum, der Intensität und der Zeit? Wieder greifen die Hände farbige Stifte, vielleicht andere Farben, und übertragen die Bewegungen, die aus der gewählten Figur entstanden sind, auf ein großes Blatt Papier. Ein zweites Bild wird sichtbar: Erkenne ich die ursprüngliche Figur? Wie hat sie sich verändert, und was hat sich im zweiten Bild im Vergleich zum ersten Bild verändert? Haben Raumwege eine neue Richtung bekommen, zeigen sich dynamische Veränderungen in der Strichführung, in ihrer Kraft oder Zartheit, Veränderungen im Rhythmus, der Dichte von Linien und Punkten sowie in den rhythmisch sich wiederholenden, formgebenden Bewegungsspuren? Welche Farben sind sichtbar oder nicht mehr sichtbar? Bildhafte Beschreibungen des Gesehenen lassen poetische Wortbildungen entstehen, die wiederum zur Gestaltung poetischer Texte führen. Ein weiterer Ausdrucksraum öffnet sich, ein Raum der „stillen Sprache der Poesie“, der den Blick öffnet zur „dunklen Seite des Mondes“, wie Stern sagen würde (Stern 2014, 15). Abstrakte Bewegungsvariablen im dreidimensionalen Raum werden sichtbar als abstrakte graphische Ausdrucksformen auf dem zweidimensionalen Blatt Papier. Es handelt sich hier um nicht-narrative Ausdrucksformen, die offensichtlich die Sinnesorgane für den Raum Phänomenologie und Tanztherapie 1 | 2022 11 des Nicht-Wissens-- des Leibwissens-- öffnet. In dem hier beschriebenen Prozess findet der Tanzende seinen inneren, leiblichen Ort des Spürens und Fühlens, vom dem Merleau-Ponty sagt, dass der Leib aus sich Bedeutungen entwirft, aus dem ein Sich-selbst-Verstehen möglich wird (Merleau-Ponty 1966, 176). Liegt hier der Schlüssel, der möglicherweise einen Erklärungsraum öffnet für die anfangs beschriebenen Rückmeldungen auf vergleichbare Prozesse, die beschrieben werden als Verbindung von Leichtigkeit und Tiefe, von Sicherheit im bewertungsfreien Raum, von Erkenntnisprozessen jenseits von Sprache? Merleau-Ponty beschreibt den Leib als eine beständig implizite Einheit (Merleau-Ponty 1966, 234). Und Daniel Stern stellt in diesem Kontext die Frage: „In welcher Form wird der Gegenwartsmoment an sich registriert? “ Und seine Antwort: „Hier kommt der Bereich des impliziten Wissens ins Spiel“ (Stern 2014, 123), den Stern wie folgt beschreibt. Das Phänomen des impliziten Wissens Implizites Wissen entwickelt sich in den ersten achtzehn Lebensmonaten. Stern beschreibt diese Tatsache als „eine kluge Einrichtung der Natur, dass Kleinkinder die symbolische Sprache erst nach etwa achtzehn Monaten kennenlernen, ohne von den Kompliziertheiten der Wörter abgelenkt zu werden. Unterstützt durch die ‚Musik‘ der Sprache haben sie genügend Zeit zu lernen, wie die menschliche Welt tatsächlich funktioniert“ (Stern 2014, 124). Und weiter: „Implizites Wissen ist nicht-bewusst. Es wurde nicht verdrängt. Auf das implizite Wissen wirkt die Verdrängung vermutlich nicht ein. Infolgedessen ist das Implizite nicht-bewusst, das Verdrängte hingegen unbewusst“ (Stern 2014, 127). Der Begriff Bewusst-Sein bezeichnet den Prozess, in dem man sich des Gewahrseins gewahr wird, ein sogenanntes Meta-Gewahrsein (Stern 2014, 133) oder auch als innere Zeugenschaft benannt im Gegensatz zum Gewahrsein, das auf die Grenzen des Gegenwartsmoments beschränkt ist. „Ein Säugling ist sich dessen gewahr, was er sieht, aber er ist sich nicht bewusst, dass er sieht, was er sieht“ (Stern 2014, 133). Daraus folgert Stern, dass möglicherweise gar nicht das Unbewusste das wahre Geheimnis ist, sondern das Bewusst- Sein (Stern 2014, 156). Diese Schlussfolgerung wird konsequenterweise im therapeutischen Handlungsfeld zu einem Umdenken führen mit weitreichenden Folgen in Bezug auf therapeutische Methoden und Interventionen. Denn durch die Betonung der Gegenwärtigkeit phänomenologisch orientierter Therapie findet eine Entmachtung des Unbewussten statt. Das Individuum wird zum aktiven Gestalter gegenwärtiger Erfahrungsräume. Daniel Stern betont, dass der größte Teil dessen, was wir über das Zusammensein mit anderen wissen, implizit ist und bleibt und dass es „keinen Grund [gibt], das Implizite in Worte zu fassen. Es bleibt stumm, solange nichts geschieht, das eine Verbalisierung erzwingt“ (Stern 2014, 126). Die logische Konsequenz dieser Erkenntnis, übertragen auf den therapeutischen Prozess, wäre, dass die Suche nach Bedeutung, dem expliziten Inhalt, in den Hintergrund tritt, während das unmittelbare Erleben, der Erfahrungsprozess selbst, in den Vordergrund rückt (Stern 2014, 148). Das implizite Wissen beschränkt sich jedoch nicht auf die nonverbale Sprache des Körpers, sondern umfasst auch Worte, deren Ausdruck „zwischen den Zeilen“ verborgen ist (Stern 2014, 124). Hier gewinnt die Sprache der Poesie an Bedeutung, über die Husserl sagt: „Philosophie und Poesie sind in ihrem innersten Ursprung miteinander verbunden und besitzen eine geheime Verwandtschaft in der Seele.“ (zitiert nach Sepp 1988, 123) Der Weg zum impliziten Wissen führt weg vom kognitiven Denken, hin zum leiblichen 12 1 | 2022 Ursula Schorn Spüren. Ein langer Weg für viele Klienten. Wir wissen aus der Traumatherapie, dass durch Dissoziationsprozesse die leibliche Spürfähigkeit verloren geht- - als Schutz im Augenblick traumatischen Geschehens und zugleich Ursache vieler langjähriger psychosomatischer Folgestörungen. Traumatische Erfahrungen der Vergangenheit können die Gegenwart ausblenden, indem sie einen großen Schatten über die Gegenwart legen (Stern 2014, 46). So ließe sich, phänomenologischen Prinzipien folgend, Traumatherapie verstehen als eine behutsame Zurückführung in ein gegenwärtiges, leiblich geprägtes Erleben. Konsequenzen für die therapeutische Praxis Wir TherapeutInnen, die wir um die Bedeutung des impliziten, sowie des intersubjektiven Erfahrungsraums wissen, haben die Aufgabe, unser leibliches Verhalten im Gegenwartsmoment sowie unsere Resonanzfähigkeit im intersubjektiven Erfahrungsfeld zu entwickeln und zu reflektieren. Denn der therapeutische Pfad intersubjektiver Begegnung erfordert einen hohen Grad an Flexibilität, um angemessen mit impliziten Signalen leiblichen Verhaltens des anderen oder einer Gruppe umzugehen. In der Einzeltherapie sowie auch in der Gruppentherapie wird der therapeutische Prozess zu einem gemeinsamen, ko-kreativen Suchen und Finden von Wegen, um Phänomene gegenwärtigen Erlebens zu einem sinnbringenden Prozess zu verknüpfen. Hier geht es weniger um die Anwendung von Methoden als um ein tiefes Verstehen dieser sensiblen und leicht störbaren Entwicklungsprozesse und um die Integration dieses Wissens in eine therapeutische Grundhaltung dem Geschehen gegenüber, das sich aus der Begegnung mit dem anderen oder einer Gruppe entwickelt. Dem impliziten Wissen Raum zu geben-- in der Bewegung, im Tanz, im Malen, in der Musik sowie der poetischen Sprache, jenseits von Wertungen, jenseits von Interpretationen; sich dieser „dunklen Seite des Mondes“ anzunähern, es zu wagen, einen Raum des Nicht-Wissens zu öffnen jenseits intellektualisierender Analyse, ist Ziel leib-phänomenologischen Arbeitens. Denn in einem solchen bewertungsfreien Raum wächst das „stille Wissen“ und das Vertrauen in das implizite, leibliche Wissen, das den sich bewegenden, malenden, tanzenden Menschen zu einem Sich-selbst- Verstehen führt. Literatur Husserl, E. (1985): Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte. Reclam, Stuttgart Merleau-Ponty, M. (2004): Das Sichtbare und das Unsichtbare: Gefolgt von Arbeitsnotizen. 3.-Aufl. Wilhelm Fink Verlag, München Merleau-Ponty, M. (2003): Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Felix Meiner, Hamburg Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. 6. Aufl. De Gruyter, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1515/ 9783110871470 Metzger, W. (1975): Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments. 5. Aufl. Steinhoff, Darmstadt, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-87992-0 Petzold, H. (1993): Integrative Therapie. Modelle, Theorien und Methoden für eine schulenübergreifende Psychotherapie. 1. Klinische Philosophie. Junfermann, Paderborn Rosa, H. (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 4. Aufl. Suhrkamp, Berlin, https: / / doi.org/ 10.21827/ zfphl.4.3.35387 Sepp, H. R. (Hrsg.) (1988): Edmund Husserl und die Phänomenologische Bewegung. Zeugnisse in Text und Bild. Alber, Freiburg / München Stern, D. (2014): Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. 4. Aufl. Brandes & Apsel, Frankfurt/ M. Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. 3. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Phänomenologie und Tanztherapie 1 | 2022 13 Walch, S. (1990): Überlegungen zur Phänomenologie und Psychotherapie. Integrative Therapie 1, 123 Wittmann, G., Schorn, U., Land, R. (2013): Anna Halprin. Tanz-- Prozesse-- Gestalten. 2. Aufl. K.-Kieser, München Ursula Schorn, M.A. Master of Arts in Tanztherapie, USA; Tanz- und Gestalttherapeutin (FPI); Halprin Practitioner; Co-Teaching mit Anna Halprin am Esalen Institute. Langjährige Hochschultätigkeit in Berlin und USA. Tätig in privater Praxis und Fortbildungen im In- und Ausland. ✉ Ursula Schorn, M.A. www.touchingground.de ullaschorn@t-online.de