eJournals körper tanz bewegung 10/2

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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum: Zum 100. Geburtstag von Gerda Boyesen

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Thomas Haudel
Am 18.5.2022 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag von Gerda Boyesen (1922-2005), der Begründerin der Biodynamischen Psychologie und Psychotherapie. Dies ist Anlass genug, an dieser Stelle den innovativen Beitrag Gerda Boyesens zur Weiterentwicklung der Körperpsychotherapie in Reichianischer Tradition zu würdigen. Mit dem erstmaligen Einsatz von Massagen als psychotherapeutische Behandlungsmethode in der Psychiatrie und später in der ambulanten Behandlung leistete sie Pionierarbeit und verbreitete die Körperpsychotherapie in Europa. Ihre Entdeckung der Psychoperistaltik oder die Dynamik von Hypo- und Hypertonus bei psychischen Krankheiten sind bis heute Grundwissen aller BiodynamikerInnen.
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69 körper-- tanz-- bewegung 10. Jg., S. 69-76 (2022) DOI 10.2378/ ktb2022.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Unter der Lupe Zum 100. Geburtstag von Gerda Boyesen Schulengründerin heilsamer Berührungen in der Körperpsychotherapie Thomas Haudel Am 18.5.2022 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag von Gerda Boyesen (1922-2005), der Begründerin der Biodynamischen Psychologie und Psychotherapie. Dies ist Anlass genug, an dieser Stelle den innovativen Beitrag Gerda Boyesens zur Weiterentwicklung der Körperpsychotherapie in Reichianischer Tradition zu würdigen. Mit dem erstmaligen Einsatz von Massagen als psychotherapeutische Behandlungsmethode in der Psychiatrie und später in der ambulanten Behandlung leistete sie Pionierarbeit und verbreitete die Körperpsychotherapie in Europa. Ihre Entdeckung der Psychoperistaltik oder die Dynamik von Hypo- und Hypertonus bei psychischen Krankheiten sind bis heute Grundwissen aller BiodynamikerInnen. Schlüsselbegriffe Gerda Boyesen, Wilhelm Reich, Ola Raknes, Biodynamische Psychologie, Biodynamische Psychotherapie, manuelle Körper-Psychoanalyse, Massage, Psychoperistaltik On the Occasion of Gerda Boyesen’s 100th Birthday. School Founder of Healing Touches in Body Psychotherapy May 18, 2022, marks the 100th birthday of Gerda Boyesen, the founder of biodynamic psychology and psychotherapy. This is reason enough to acknowledge Gerda Boyesen’s innovative contribution to the further development of body psychotherapy in the Reichian tradition. With the first use of massages as a psychotherapeutic treatment method in psychiatry and later in outpatient treatment, she did pioneering work and spread body psychotherapy in Europe. Her discovery of ‚psychoperistalsis‘ or the dynamics of hypoand hypertonicity in mental illnesses are still basic knowledge of all biodynamic psychotherapists today. Key words Gerda Boyesen, Wilhelm Reich, Ola Raknes, biodynamic psychology, biodynamic psychotherapy, manual body psychoanalysis, massage, psychoperistalsis I n diesem Beitrag wird zunächst der Lebensweg Gerda Boyesens vorgestellt, bevor ihre Bedeutung für die Körperpsychotherapie erläutert wird. Die historischen Informationen sind den Werken von Boyesen (2019) und Haudel/ Boyesen (2020) entnommen. Psychologiestudium und körperpsychotherapeutische Selbsterfahrung Im Jahr 1947, acht Jahre, nachdem Wilhelm Reich aus Norwegen ausgereist war, begann Gerda Boyesen in Oslo ihr Psychologiestudium 70 2 | 2022 Thomas Haudel und ihre Selbsterfahrung beim Reich-Schüler Ola Raknes. In den zehn Jahren, die Reich dann noch in den USA lebte, besuchte ihn Ola Raknes jährlich. Beide Männer schätzten einander sehr und waren eng befreundet. Nach Reichs Tod wurde Ola Raknes einer seiner Biografen. Es ist überliefert, dass Reich zu Raknes sagte: „Wenn ich mich jemals wieder einer Therapie unterziehen sollte, um meinen Vaterkomplex mit Freud aufzuarbeiten, dann bei Ihnen.“ Wir haben es bei Ola Raknes also mit einem Mann zu tun, der mit Reichs Theorien und therapeutischen Konzepten bestens vertraut und von der Richtigkeit seiner Thesen überzeugt war. Gerda Boyesen wiederum wurde in ihrer Ausbildung zur Körperpsychotherapeutin sehr stark von Ola Raknes beeinflusst und schätzte ihn menschlich und fachlich von all ihren AusbilderInnen am meisten. Sie absolvierte zwei längere Selbsterfahrungsprozesse bei ihm von 1947 bis 1951 und 1959 bis 1960. Die Entdeckung der Biodynamischen Psychotherapie als neue körperpsychotherapeutische Behandlungsmethode wäre ohne diese intensive Selbsterfahrung und ohne die Bekanntschaft mit Reichianischen Theorien durch Ola Raknes gar nicht denkbar gewesen. Physiotherapieausbildung und Arbeit als Psychologin in norwegischen Kliniken Trotz ihres Diploms in Psychologie entschied sich Gerda Boyesen dazu, noch eine Ausbildung zur Physiotherapeutin zu absolvieren. Sie tat dies am damals sehr bekannten Institut für Dynamische Physiotherapie von Aadel Bülow Hansen in Oslo. Während dieser Ausbildung lernte sie viele Arten von Massagen kennen und praktizierte sie an KlientInnen, die zur Behandlung in das Institut kamen. Viele davon waren auch psychisch krank, und Gerda Boyesen erlebte zum ersten Mal mit Erstaunen, dass man allein mit Massagen Neurosen heilen kann (Boyesen 2019, 31). Um ihr Wissen über psychische Erkrankungen und psychologische Theorien (vor allem der Psychoanalyse), die Erkenntnisse ihrer Selbsterfahrungen und die Beobachtungen über die psychische Wirkung von Massagen zu einer Synthese zusammenzuführen, entwickelte Gerda Boyesen schon Anfang der 1960er Jahre ihre eigene Theorie, die sie später als Biodynamische Psychologie bezeichnen wird. Gerda Boyesen war wie viele SchulengründerInnen in der Körperpsychotherapie eine Forscherin im traditionellen Sinne. Sie verließ sich auf sinnlich wahrnehmbare Phänomene, indem sie sehr genau beobachtete, gleichzeitig mit den Händen fühlte und dabei zugleich immer theorie- und hypothesengeleitet vorging. In Oslo fand sich trotz der Bemühungen von Gerda Boyesen kein Wissenschaftler, der bereit war, ihre Theorien zu überprüfen. Sie schrieb: „Wenn ich dann aber mit Kollegen der experimentellen Psychologie reden wollte, hörten die mich gar nicht erst an, weil ich „nur klinische Psychologin“ war. Tatsächlich herrschte in Oslo ein kalter Krieg zwischen klinischen und experimentellen Psychologen, der so weit ging, dass sie sich in zwei Fakultäten teilten.“ (Boyesen 2019, 73) Ausgebildet als Psychologin und als Physiotherapeutin begann Gerda Boyesen ab 1956, als Psychologin auf den Psychiatriestationen verschiedener norwegischer Krankenhäuser zu arbeiten. Sie arbeitete zunächst wie die meisten KollegInnen von ihr mit der humanistischen Methode der Gesprächstherapie nach Rogers, die zu dieser Zeit als sehr modern galt und in vielen europäischen Kliniken praktiziert wurde. Da sie bei bestimmten Patientinnen (es wurden vorwiegend Frauen mit Psychotherapie behandelt) mit dieser Methode keine therapeutischen Fortschritte erzielte und durch ihre Physiotherapieausbildung über weitere therapeutische Fähigkeiten verfügte, begann sie (mit der Erlaubnis von Oberärzten), an den Wochenenden Patientinnen zu massieren. Das Ergebnis waren deutliche Symptom- Zum 100. Geburtstag von Gerda Boyesen 2 | 2022 71 reduktionen, die den Chefärzten bei ihren Visiten am Montagmorgen auffielen. Es sprach sich herum, dass Gerda Boyesen mit den Patientinnen mit einer für psychiatrische Stationen neuen Methode arbeitete. Sie tat das auf eigene Verantwortung und nahm alle damit verbundenen Risiken in Kauf. Es kam aber fast immer zu Heilungserfolgen, so dass zunehmend Neugier in der Ärzteschaft entstand, was genau sie denn da tat. Wenn sie dann den ärztlichen KollegInnen erklärte, wie sie mit den Patientinnen gearbeitet hatte, schaute sie in erstaunte und ungläubige Gesichter. In ihrem Buch „Über den Körper die Seele heilen“ schreibt sie dazu: „Dann traf ich einen Psychiater, der Spezialist für manische Depression war, und erzählte ihm die Fallgeschichte meines Patienten Oscar. Er nahm den Gesichtsausdruck an, den ich schon so gut kannte, wenn ich von meiner Arbeit sprach. Es war, als erzählte ich ihm, ich hätte den Mond abgehängt und in einer Tasche mitgebracht.“ (Boyesen 2019, 88) Die Anwendung von Massagen auf psychosomatischen und psychiatrischen Stationen der 1950er und 1960er Jahre war nicht nur in den norwegischen Kliniken, sondern für ganz Europa absolutes Neuland. Die meisten Reich- Schüler in Norwegen arbeiteten in eigenen Praxen und hatten damit eine gewisse methodische Freiheit, die man als PsychologIn in einer Klinik normalerweise nicht hat. Gerda Boyesen erkämpfte sie sich mit viel Ausdauer und überzeugenden Heilungserfolgen. Sie hat sich somit bei einigen ärztlichen KollegInnen eine gewisse Anerkennung erworben. Leider kam es in Norwegen trotz des erfolgreichen ambulanten Praktizierens der Reich-Schüler Ola Raknes, Nic Waal, Harold Schjelderup und Trygve Braatöy sowie Gerda Boyesens Pionierarbeit in den Kliniken zu keiner akademischen Anerkennung der Körperpsychotherapie inklusive der Biodynamischen Massagearbeit von Gerda Boyesen. Ganz im Gegenteil: Ihr Lehrer Ola Raknes wurde nach einer üblen Pressekampagne, ebenso wie zuvor Wilhelm Reich, des Landes verwiesen. Das frustrierte Gerda Boyesen so sehr, dass sie 1969 den Umzug ins Ausland wagte und nach London ging. Biodynamische Arbeit in der Londoner Praxis und erste Veröffentlichungen In London hatte Gerda Boyesen die Wahl zwischen einer Stelle in der Anna-Freud-Klinik oder der Praxis von Ola Raknes und entschied sich für letzteres. London war Ende der 1960er Jahre zu einem Zentrum der noch jungen Körperpsychotherapiebewegung in Europa geworden. Neben Ola Raknes praktizierten dort die Neoreichianer David Boadella und Malcolm Brown. Es gab im Vergleich zu anderen Orten ein zahlungskräftiges und interessiertes Klientel für diese Art der Psychotherapie. Hier war die richtige Atmosphäre, um biodynamisch arbeiten zu können und parallel dazu die Grundpfeiler der Biodynamischen Psychotherapie zu Papier zu bringen und zu veröffentlichen. Das geschah erstmalig 1970 in der Zeitschrift „Energie und Charakter“ (Boyesen 1970), die von David Boadella herausgegeben wurde. Was aber sind die wichtigsten Grundpfeiler der Biodynamik, die sie von der Reichianischen Körperpsychotherapie unterscheidet? Als erstes ist hier der Einsatz der Massage als Hauptintervention zu nennen, für die Gerda Boyesen eine spezielle Ausbildung absolviert hatte. Mit dieser Doppelqualifikation hatte sie ein Alleinstellungsmerkmal unter den KörperpsychotherapeutInnen. In ihrem ersten Buch „Entre Psyche et Soma“, was 1985 in Paris erschien und 1987 in Deutschland unter dem Titel „Über den Körper die Seele heilen“ (Neuauflage im Boyesen Verlag 2019) veröffentlicht wurde, erwähnt die Autorin, dass selbst ihr Lehrer Ola Raknes seine PatientInnen nicht massiert habe (Boyesen 2019, 28). Gerda Boyesen hat darin sehr viele Hypo- 72 2 | 2022 Thomas Haudel thesen über physiologische Prozesse und Gesetzmäßigkeiten im Körper als Resultat von Massagen entwickelt, die sich in der Praxis nachvollziehen lassen, für die es aber kaum wissenschaftliche Studien unter Laborbedingungen gibt, die diese Hypothesen nach neuesten Forschungsstandards bestätigten. Dazu gehören das „plasmo-faradische“ und das „plasmo-galvanische“ Prinzip, ihre Elektrolyttheorie zur Neurose, die Theorie vom „Transsudations- und Dehnungsdruck“ und das Zusammenwirken von Hypo- und Hypertonus in den Muskeln. Gerda Boyesens Fokus waren immer die Auswirkungen verschiedener körperlicher Zustände auf die menschliche Psyche und umgekehrt. Sie fand auf diese Weise für alle psychopathologischen Zustände ein somatisches Korrelat in den Muskeln, im Bindegewebe, im Dünndarm, der Haut usw. und entwickelte psychosomatische Theorien zu Neurosen und Psychosen. Die Entdeckung der Psychoperistaltik Eine der wichtigsten psychosomatischen Erkenntnisse von Gerda Boyesen war die Entdeckung der Psychoperistaltik als eine Form der vegetativen Entladung von Affektrückständen. Sie nutzte sie als Biofeedbackmethode bei den Massagen und setzte etwa ab 1965 ein Stethoskop dafür ein, was seither zur Grundausstattung aller BiodynamikerInnen gehört. Levine (Levine 2011, 190) führt unter Verweis auf das körpertherapeutische System von Gerda Boyesen für die Darmgeräusche den Fachbegriff „Borborygmus“ ein und stuft die Darmreaktionen innerhalb seines SIBAM-Modells als viszerales Verhalten ein. Eine Bestätigung von Gerda Boyesens Hypothesen zur Bedeutung des Darmes bei der psychophysischen Regulation des Menschen sind die Forschungsarbeiten der amerikanischen Mediziner Gershon (Gershon 2001) und Mayer (Mayer 2016) sowie der deutschen Humanbiologen Enck, Schemann und Frieling (2019). Bei Tierexperimenten fanden sie heraus, welche immense Anzahl von Nervenzellen der Darm enthält, und sprechen vom Darm als einem zweiten Gehirn. Das Nervengeflecht im Darm, das sogenannte Enterische Nervensystem, ist seit der Jahrhundertwende immer stärker in den Focus der medizinischen Forschung geraten. Die starken Wechselwirkungen zwischen dem Zustand des Darmes und der Psyche gelten inzwischen als gesichertes Wissen und werden vor allem von der Pharmaindustrie mit Hochdruck beforscht. Zwar gilt Michael Gershon als der „Entdecker“ des „Bauchhirns“, aber er relativiert das selbst im Gespräch mit der Wissenschaftsjournalistin Hania Luczak (Luczak 2000), indem er sagt, er habe es mit Hilfe vieler anderer höchstens wiederentdeckt. Auf der Ebene der psychologischen Theorien ist das Konzept der Primärpersönlichkeit ein Grundpfeiler der Biodynamischen Psychologie. Es besagt, dass es in jedem Menschen einen gesunden organismischen Kern gibt, der zur Entfaltung drängt und sich, insofern es keine störenden oder verhindernden Bedingungen im sozialen Umfeld gibt, dies langfristig auch tut. Demgegenüber stehen die Sekundärpersönlichkeitsanteile, die ein Resultat von zu starken Anpassungsprozessen und Resignation sind. Dieses Konzept habe ich 2020 überarbeitet und leicht modifiziert (Haudel 2021, 117-122). Resonanz der Biodynamik unter deutschen PsychotherapeutInnen und Forschungen zur Biodynamik Nachdem Gerda Boyesen ihr erstes Buch veröffentlich hatte, sprach sich herum, dass sie mit ihrer Behandlungsmethode vielen psychisch kranken Patienten helfen konnte und auch in Deutschland Ausbildungen durchführte. Daher begannen hierzulande viele psychologische und ärztliche KollegInnen mit körperpsychotherapeutischem Hintergrundwissen, sich für Zum 100. Geburtstag von Gerda Boyesen 2 | 2022 73 sie zu interessieren. Der körperpsychotherapeutisch tätige Psychotherapeut Tilmann Moser schrieb einen sehr kritischen Artikel über sie (Moser 1992, 249-272) und deckte einige Schwächen ihrer Arbeit auf, wie z.B. die mangelnde Reflexion der therapeutischen Beziehung orientiert an den Übertragungskonzepten der Psychoanalyse. Warum Gerda Boyesen darauf nicht schriftlich reagierte, bleibt ungeklärt. Ich entkräftete die Kritik Mosers, was den Aspekt der unterstellten Leichtfertigkeit im Umgang mit KlientInnen und die Arbeit mit der Übertragung betrifft, auf der GBP-Tagung 2013 in Gunzenhausen und setzte mich mit seiner Kritik auseinander (Haudel 2014, 22-26). Die meisten der körperpsychotherapeutisch arbeitenden KollegInnen schätzten jedoch Gerda Boyesens Arbeit, gaben ihr Gelegenheit zu Veröffentlichungen (Boyesen 1970; Boyesen / Boyesen 1977), absolvierten bei ihr Kurse oder Ausbildungen (u. a. Bettina Schröter, Ulfried Geuter, Manfred Thielen und Gustl Marlock) oder luden sie zu Tagungen ein, wie z. B. zur DGK-Tagung 2003 in Berlin. Ulfried Geuter gab ihr in seinem 2015 erschienen Handbuch der Körperpsychotherapie einen angemessenen Platz und würdigt sie als eine neoreichianische Schulengründerin auf einer Ebene mit Malcolm Brown und David Boadella (Geuter 2015, 65-68). Der bekannte Arzt Bruno Müller-Oerlinghausen widmete Gerda Boyesen ein Kapitel in seinem 2018 veröffentlichten Buch „Berührung“ (Müller-Oerlinghausen / Kiebgis 2018, 164-166) und würdigt darin ihre Pionierarbeit in Form psychotherapeutischer Massagebehandlungen. Den meisten ärztlichen und psychologischen PsychotherapeutInnen in Deutschland ist Gerda Boyesen jedoch weitgehend unbekannt, denn ihre Theorien und Behandlungsmethoden werden an den meisten Universitäten hierzulande nicht gelehrt. Ausnahmen sind das Institut für Sportwissenschaften und Motologie Marburg, die Hochschule Magdeburg- Stendal, das Institut für Psychotherapie Potsdam, das IST Berlin, die SFU Berlin und das APP Köln, wo innerhalb der Curricula zur Körperpsychotherapie auch auf die Biodynamische Psychotherapie von Gerda Boysen hingewiesen wird. Ulfried Geuter und Manfred Thielen sind die beiden Körperpsychotherapeuten, die den größten Teil dieser Lehrveranstaltungen bestreiten. Der Mangel an Kenntnissen über Gerda Boyesen und die Biodynamische Psychotherapie könnte durch die 2014 von der Bundespsychotherapeutenkammer verabschiedete neue Weiterbildungsordnung ein Ende finden, weil darin gefordert wird, alle vier Grundausrichtungen der Psychotherapie, zu der ja auch die Humanistische Psychotherapie (HP) inklusive der Biodynamik gehört, an allen deutschen Psychologiefakultäten zu lehren. Diese Integration der HP in den psychologischen Hochschulehrbetrieb ist vor allem Manfred Thielen zu verdanken, der sich bis heute für eine Musterweiterbildungsordnung einsetzt, welche auch die Körperpsychotherapie als wissenschaftlich begründete Methode einschließt. Eine solche Musterweiterbildungsordnung gab es zu Gerda Boyesens Lebzeiten noch nicht. Sie hat jedoch Wege gefunden, ihr Wissen auch außerhalb des universitären Lehrbetriebes weiterzuvermitteln. Mit Hilfe verschiedener Vereine bot sie ab den 1970er Jahren bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 2005 in Frankreich, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und vor allem in Deutschland körperpsychotherapeutische Fortbildungen an, die vorwiegend von psychotherapeutisch tätigen HeilpraktikerInnen, aber auch einigen ÄrztInnen und PsychologInnen in Anspruch genommen wurden. Die große Zahl der Absolvent- Innen dieser Fortbildungen sorgte bis heute für den Erhalt, die praktische Anwendung und Weiterverbreitung der Biodynamischen Psychotherapie. Im Jahr 2006 waren BiodynamikerInnen an der Multicenterstudie EWAK beteiligt und konnten die Wirksamkeit ambulanter Körperpsychotherapie bei mehreren psychischen Erkrankungen unter Beweis stellen (Koemeda-Lutz et al. 74 2 | 2022 Thomas Haudel 2006). Müller-Oerlinghausen und Kiebgis widmen in ihrem Band ein ganzes Kapitel der wissenschaftlichen Bestätigung der psychisch heilsamen Wirkung von Berührung und Massagen (2018, 123-156). Sie formulieren Theorien, welche diese Wirkung erklären, und führen mehrere Studien und Metaanalysen auf, in denen sie nachgewiesen wurde (Fields 1998; Moyer et al. 2004; Moyer 2008; Müller-Oerlinghausen et al. 2004; Müller-Oerlinghausen 2015). Diese Effekte wurden auch in einer naturalistischen Studie der GBP bestätigt (Haudel/ Schubert 2018). In Leipzig erforscht Grunwald (Grunwald/ Beyer 2001; Grunwald 2017) seit vielen Jahren die heilsame Wirkung von verschiedenen Arten der Berührung. Weiterentwicklung der Biodynamik nach Gerda Boyesens Tod Als Gerda Boyesen 2005 in London 84-jährig verstarb, hatte sie nicht nur mehrere hundert PatientInnen erfolgreich mit ihrer Methode behandelt, sondern auch eine Vielzahl von TherapeutInnen in ganz Europa in ihrer Methode ausgebildet. Heute gibt es europaweit drei große biodynamische Institute: die „Ecole Biodynamique“ in Montpellier, „The London School of Biodynamic Psychologie“ und in Deutschland die „Europäische Schule für Biodynamische Psychologie“ (ESBPE) mit Sitz in Lübeck und einer Niederlassung in Prag. Letztere wird von Gerda Boyesens Töchtern Ebba und Mona Lisa Boyesen geleitet, die das Werk ihrer Mutter maßgeblich mitgestaltet haben und es fortführen. Daneben gibt es noch mindestens drei weitere kleinere Ausbildungsinstitute mit biodynamischen Lehrinhalten. Außerdem gibt es hierzulande die Gesellschaft für Biodynamische Psychologie / Psychotherapie GBP e. V. mit etwa 200 Mitgliedern, die auch Ausrichter einer Tagung zum 100. Geburtstag von Gerda Boyesen ist (siehe Termine). Der Fortbestand der Methode scheint also gesichert. Auch die Methode selbst hat sich seitdem weiterentwickelt. Ebba und Mona Lisa Boyesen erarbeiteten ein Konzept mit vier Ebenen der Biodynamischen Körperpsychotherapie, das noch nicht veröffentlicht ist. Renate Abel entwickelte mit ihrer Kollegin Ilona Göttges eine Biodynamische Gruppentherapie zur Bearbeitung von Geburtstraumata mit guten Heilerfolgen in der Praxis (Abel 2014, 101). Alberto D’Enjoy spezialisierte sich auf Biodynamische Massagemethoden speziell für die Muskelmembranen und Faszien (D’Enjoy 2016). Ich selbst habe die von mir kreierten Biodynamischen Interventionen der „Patientengeleiteten Fremdberührung“ (Haudel 2018) und den „Satzergänzungslaufkreis“ (Haudel 2021) bereits mehrfach erfolgreich in der Praxis eingesetzt. Es ist an der Zeit, dass das große Heilungspotenzial der von Gerda Boyesen begründeten Biodynamischen Psychotherapie von noch viel mehr FachkollegInnen aller psychotherapeutischen Ausrichtungen zur Kenntnis genommen wird, jüngere KollegInnen verschiedener Heilberufe eine Ausbildung in Biodynamischer Psychotherapie absolvieren und neben den bereits auf diesem Gebiet tätigen noch viel mehr psychologische und ärztliche UniversitätsprofessorInnen den reichen Schatz an potenziellen Forschungsthemen im Bereich der Psychophysiologie entdecken, den Gerda Boyesen hinterlassen hat. Ihr 100. Geburtstag ist ein guter Anlass dafür. Literatur Abel, R. (2014): Geburtsarbeit - Dein Weg ins Leben. In: Gesellschaft für Biodynamische Psychologie / Körperpsychotherapie (Hrsg.): Lebendige Beziehungen. Beiträge der 16. GBP-Fachtagung. BoD, Norderstedt, 79-102 Boyesen, G. (2019): Über den Körper die Seele heilen. Boyesenverlag, Kiel Boyesen, G. (1995a): Von der Lust am Heilen. Kösel, München Zum 100. Geburtstag von Gerda Boyesen 2 | 2022 75 Boyesen, G. (1995b): Psychotherapie und Spiritualität. In: Zundel, E., Loomans, P. (Hrsg.): Im Energiekreis des Lebendigen. Herder, Freiburg u. a., 176-185 Boyesen, G. (1985): Entre psyche et soma. Payot, Paris Boyesen, G. (1970): Experience with dynamic relaxation and the relationship of its discovery to the Reichian bioenergetic view of vegotherapy. Energy and Character 1 (1-2), 21-30 Boyesen, G., Bergholz, P. (2003): Dein Bauch ist klüger als du. Miko Edition, Hamburg Boyesen, G., Boyesen, M. L. (1987): Biodynamik des Lebens. Synthesis, Essen Boyesen, G., Boyesen, M. L. (1977): Biodynamische Theorie und Praxis. In: Petzold, H. G. 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Eine Biodynamische Intervention zur Antriebssteigerung und Ressourcenaktivierung bei depressiven Patienten. körper - tanz - bewegung 9 (3), 151-154, https: / / doi.org/ 10.2378/ ktb2021.art20d Haudel, T. (2018): Körperorientierte Erinnerungsarbeit. In: Vogt, R. (Hrsg.): Das traumatisierte Gedächtnis - Schutz und Widerstand. Lehmanns Media, Berlin, 111-124 Haudel, T. (2014): Zum Verhältnis von Körper- und Beziehungsarbeit in der Biodynamik. In: Gesellschaft für Biodynamische Psychologie / Körperpsychotherapie (Hrsg.): Lebendige Beziehungen. Beiträge der 16. GBP-Fachtagung. BoD, Norderstedt, 9-49 Haudel, T. (2013): Biodynamik als Selbsthilfemethode. In: Thielen, M. (Hrsg.): Körper - Gruppe - Gesellschaft. Psychosozial, Gießen, 363-372, https: / / doi.org/ 10.30820/ 97838379 66787-363 Haudel, T., Boyesen, G. (2020): Gerda Boyesen-- eine Kurzbiografie. In: www.gbpev.de/ gerdaboyesen-eine-kurzbiografie, 29.12.2021 Haudel, T., Schubert, T. 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Thomas Haudel Zionskirchstr. 67 | D-10119 Berlin haudel@biopsych.de