körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Studien mit TanzbewegungstherapeutInnen und zu Tanzbewegungstherapie während Covid-19
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Iris Bräuninger
Dieser aktuelle Überblick stellt zwei Online-Studien mit ExpertInnen vor: Kirane (2021) erfasste die Einstellung und Praktiken von TanztbewegungstherapeutInnen gegenüber Opioidkonsumstörungen, Bräuninger und Reips (2021) verglichen die Bedeutung des Tanzes für TanztbewegungstherapeutInnen mit unterschiedlich langer tanztherapeutischer Erfahrung. Aus aktuellem Anlass werden außerdem Erfahrungsberichte und Interventionsbeispiele für Tanzbewegungstherapie während Covid-19 präsentiert.
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Aktuelles aus der Forschung 80 körper-- tanz-- bewegung 10. Jg., S. 80-83 (2022) DOI 10.2378/ ktb2022.art12d © Ernst Reinhardt Verlag Aktuelle Studien mit TanzbewegungstherapeutInnen und zu Tanzbewegungstherapie während Covid-19 Iris Bräuninger D ieser aktuelle Überblick stellt zwei Online-Studien mit ExpertInnen vor: Kirane (2021) erfasste die Einstellung und Praktiken von TanztbewegungstherapeutInnen gegenüber Opioidkonsumstörungen, Bräuninger und Reips (2021) verglichen die Bedeutung des Tanzes für TanztbewegungstherapeutInnen mit unterschiedlich langer tanztherapeutischer Erfahrung. Aus aktuellem Anlass werden außerdem Erfahrungsberichte und Interventionsbeispiele für Tanzbewegungstherapie während Covid-19 präsentiert. Opioidkonsumstörungen und die Haltung von TanzbewegungstherapeutInnen An einer Online-Querschnittsbefragung über Einstellung und Praktiken von TanzbewegungstherapeutInnen zur US-Opioidkrise und zu Opioidkonsumstörungen nahmen 310 TherapeutInnen teil (Kirane 2021). Ein Drittel war in Privatpraxen tätig, und die Hälfte wiesen mehr als zehn Jahre Tanztherapie-Erfahrung auf. Die Mehrheit der Teilnehmenden war der Meinung, dass auf die Opioid-Krise (86 %) und die Opioidkonsumstörung bezogene Versorgung mit Tanzbewegungstherapie (TT) reagiert werden könne (61 %). Das Ergebnis offenbarte ein Missverhältnis zwischen der Einstellung und den Praktiken: Viele der Tanzbewegungstherapeut- Innen gaben an, kein routinemäßiges Screening (68 %) und keine Kurzinterventionen für Substanzgebrauchsstörung (41 %) (SBIRT) durchzuführen oder Überweisungen zur Suchthilfe (75 %) oder Verabreichung von Naloxon (87 %) zu veranlassen, was als Standard gilt. Die Autorin empfahl eine Anpassung des akademischen DMT-Lehrplans und die Stärkung der formalisierten Suchtausbildung in Institutionen beispielsweise durch SBIRT-Training (Screening und Kurzinterventionen), welches für TanzbewegungstherapeutInnen leicht zu erlernen und gut in die Praxis integrierbar sei. Der Tanz und seine Bedeutung für TanzbewegungstherapeutInnen Bräuninger und Reips (2021) verglichen in einer internationalen Online-Umfrage die Bedeutung des Tanzes für TanzbewegungstherapeutInnen mit weniger als einem Jahr Erfahrung („Neueinsteigerinnen“) gegenüber Therapeut- Innen mit mehr als einem Jahr Erfahrung („Expertinnen“). Als potenzielle Verteiler und Multiplikatoren für die Umfrage wurden die 2 | 2022 81 Aktuelles aus der Forschung Websites der ADTA und EADMT und internationale TT-Verbände nach anerkannten TT-Ausbildungseinrichtungen und Programmen gesichtet. Insgesamt wurden 55 E-Mail-Kontakte von Ausbildungsinstituten und TT-Verbänden in 23- Ländern angeschrieben. Von den 87 TeilnehmerInnen wurden 27 ausgeschlossen (21 schauten den englischsprachigen Survey nur an, sechs übersprangen eine oder mehrere der ersten sechs Fragen). Alle Teilnehmerinnen (N = 60) waren Frauen (Durchschnittsalter 33,6 Jahre, SD = 11,2), zwei Drittel (n = 40) waren Neueinsteigerinnen (Durchschnittsalter 32,4, SD = 9,5). Die Teilnehmerinnen nannten 23 Geburtsländer und 12 Ausbildungsländer, etwa zwei Drittel (n = 37) nannten ein universitäres TT-Studium (postgraduiert oder MA / MS) als Abschluss, ein Drittel nannte eine außeruniversitäre TT-Ausbildung (n = 20). Die größte Gruppe der Responder kam aus Deutschland (n = 12) und Israel (n = 8). Eine große Mehrheit der Neueinsteigerinnen erachteten einen starken Tanzhintergrund für die TT als wichtig bis sehr wichtig, die Expertinnen wiesen dem Tanz nur eine mittlere Bedeutung zu. Die Neueinsteigerinnen bewerteten die Notwendigkeit eines persönlichen und beruflichen Hintergrunds im Tanz und die Integration von Tanz in der TT im Vergleich zu den Expertinnen auf einer 7-stufigen Likert-Skala mit durchschnittlich einem Punkt höher. Beide Gruppen erachteten einen professionellen Tanzhintergrund als weniger wichtig. Sie waren sich aber einig, dass sie Tanzinterventionen auch zukünftig in die TT integrieren würden. Nicht-tanzbasierte Techniken und Interventionen schienen für Neueinsteigerinnen und für Expertinnen eine untergeordnete Rolle zu spielen, wobei die Expertinnen dies mit einem Punkt höher bewerteten. Tanz wird immer noch als sinnvoll erachtet, mehr von Neueinsteigerinnen als von Expertinnen. Covid-19 und die tanztherapeutische Antwort auf die Pandemie Nachfolgend werden veröffentlichte Erfahrungen mit Online-TT vorgestellt, welche in verschiedenen Ländern während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 umgesetzt wurden. Die Bezeichnungen reichen von Online-Angeboten über Remote Therapy, Tele-Intervention und Webcam-TT, wobei hier der einheitliche Begriff der Online-TT gewählt wird. Yariv und Kolleginnen (2021) setzen sich theoretisch damit auseinander, was es bedeute, wenn verschiedene Therapiekomponenten durch das Online-Format beeinflusst und geändert werden. Die erzwungene abwesende Gegenwart betone die einzigartige Gegenwart in der TT. Als TanzbewegungstherapeutInnen liege es in unserer Verantwortung zu versuchen, die Lücken zwischen der Abwesenheit der physischen Körperbewegung und der virtuellen Präsenz der Körperbewegung und zwischen dem Teilkörperbewegungstext und dem Ganzkörperbewegungstext zu schließen. Re (2021) initiierte während des Lockdowns im Piemont (Italien) ein TT-Online-Programm mit choreographischen Elementen zur Musik „Karneval der Tiere“. Sowohl Kindergruppen (n = 58, Alter 3-10 Jahre, drei Gruppen à 8 Sessions) als auch ältere Menschen in Pflegeeinrichtungen (n = 18, Alter 58-85 Jahre, zwei Gruppen à 11 Sessions) nahmen wöchentlich für 45 Minuten teil. Die gemeinsame Abschlussvorstellung mit 100 Personen inklusive zuschauenden Angehörigen dauerte drei Stunden. Das Projekt „Karneval der Tiere“ wurde „als wirksame Antwort auf die Gemeinschaft, in der sich weit ‚isolierte Systeme‘ zu einem belastbaren neuen trafen“ (S. 17) beschrieben. Shuper Engelhard und Yael Furlager (2021) beschreiben äußere Rahmenbedingungen der Online-Einzel-TT mit Grundschulkindern, wel- 82 2 | 2022 Aktuelles aus der Forschung che zum Gelingen dieses Settings beitragen können: 1. Ein fester und genügend großer Raum, der Privatsphäre gewährt, 2. Flexibilität und Kreativität gegenüber neuen Situationen, 3. Orientierung an den Bewegungsbedürfnissen der Teilnehmenden (somatische und kinästhetische Bewegungsfreude versus symbolischem Bewegungsausdruck), 4. Nähe trotz räumlicher Distanz durch die Förderung von Körperbewusstsein und Intentionalität, Synchronisation und Spiegelung von Bewegung. Darüber hinaus betonen die Autorinnen die Wichtigkeit der kinästhetischen und sinnlichen Verspieltheit für den therapeutischen Prozess im Online-Setting. Garcia-Medrano (2021) gibt Einblicke in ihre neunmonatige Erfahrung mit Online-TT im Einzel- und Gruppensetting mit Erwachsenen und beschreibt folgende Themen als relevant im Einzelsetting: Fokus auf den Bildschirm, individuelle Rituale, verkörperte Empathie im Online-Kontext und Müdigkeit. Die Online-Gruppen-Sessions waren offen gestaltet, manche der Gruppen gingen aus zuvor live gestarteten Gruppentherapien hervor. Es nahmen zwischen 12 und 20 TeilnehmerInnen aus unterschiedlichen Ländern an sieben Terminen teil. Die Online-TT-Gruppen folgten derselben Struktur: Willkommen, Aufwärmen, direktive Bewegungen zur Entspannung und Abschlussrunde, Integration von Musik. Das Gruppen-Onlineformat schien dazu beizutragen, Isolationsgefühle zu reduzieren, die Selbstwahrnehmung zu steigern und ein Zugehörigkeitsgefühl zu fördern. Lotan Mesika und ihre Kolleginnen (2021) führten eine Pilotstudie in Israel durch, welche die Anpassung einer laufenden TT-Gruppe für Erwachsene mit Depression von psychiatrischen Abteilungen und einer Ambulanz evaluierte, die aufgrund der Pandemie zur Online-TT- Gruppe und Therapie im Freien wechselte. Die Online TT-steigerte die Motivation der TeilnehmerInnen zu spielen und schien ihre affektive Vitalität zu verbessern und ihre Depressionssymptome zu reduzieren. Schlussfolgerung Um TherapeutInnen durch formalisierte Suchtausbildung für ihre Praxis in der Opioidsuchtbehandlung zu stärken, scheint ein Bedarf für Anpassungen im akademischen TT-Lehrplan zu bestehen, zumindest in den USA (Kirane 2021). Der Tanz scheint nach wie vor eine wichtige Intervention in der TT darzustellen, die jedoch mit zunehmender Praxis durch weitere Nicht-TT-Interventionen ergänzt wird (Bräuninger / Reips 2021). Die Sammlung an Erfahrungsberichten aus unterschiedlichen Ländern dokumentiert, dass sich Online-TT in Zeiten der Pandemie mit unterschiedlichen Altersgruppen und für verschiedene Indikationen zu bewähren scheint und einen wichtigen Beitrag leisten kann. Literatur Bräuninger, I., Reips, U. D. (2021): The significance of dance in dance movement therapy: An international online survey with DMT novices. In: Wengrower, H., Chaiklin, S. (Hrsg.): Dance and creativity within Dance Movement Therapy: International perspectives. Routledge, London, 61-81, https: / / doi.org/ 10.4324/ 9780429442308-8 Garcia-Medrano, S. (2021): Screen-bridges: dance movement therapy in online contexts. Body, Movement and Dance in Psychotherapy 16 (1), 64-72, https: / / doi.org/ 10.1080/ 17432979.202 1.1883741 Kirane, K. (2021): Dance / movement therapists’ attitudes and practices toward opioid use disorder. American Journal of Dance Therapy 43, 115-131, https: / / doi.org / 10.1007/ s10465-021- 09350-1 Lotan Mesika, S., Wengrower, H., Maoz, H. (2021): Waking up the bear: dance / movement therapy group model with depressed adult patients during Covid-19 2020. Body, Movement and Dance 2 | 2022 83 Dr. Iris Bräuninger Senior Researcher & Co-Leiterin Studiengang Psychomotoriktherapie (Hochschule für Heilpädagogik Zürich IVE), Dozentin MA Tanztherapie UAB Barcelona, BTD-Supervisorin / Ausbilderin / Lehrtherapeutin, KMP-Notatorin, Praxis Tanztherapie Supervision Bodensee. ✉ Dr. Iris Bräuninger dancetherapy@mac.com und iris.braeuninger@hfh.ch in Psychotherapy 16 (1), 32-46, https: / / doi.org/ 10.1080/ 17432979.2021.1879269 Re, M. (2021): Isolated systems towards a dancing constellation: coping with the Covid-19 lockdown through a pilot dance movement therapy tele-intervention. Body, Movement and Dance in Psychotherapy 16(1), 9-18, https: / / doi.org/ 1 0.1080/ 17432979.2021.1879934 Shuper Engelhard, E., Yael Furlager, A. (2021): Remaining held: dance / movement therapy with children during lockdown. Body, Movement and Dance in Psychotherapy 16 (1), 73-86, https: / / doi.org/ 10.1080/ 17432979.2020.1850525 Yariv, A., Shalem-Zafari, Y., Wengrower, H., Shahaf, N., Zylbertal, D. (2021): Reflections on individual webcam dance / movement therapy (DMT) for adults. Body, Movement and Dance in Psychotherapy 16 (1), 56-63, https: / / doi.org/ 10.10 80/ 17432979.2020.1860131 Aktuelles aus der Forschung
