körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2022.art14d
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Fachbeitrag: Bewegungsanalyse von Säugetieren
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Undine Uhlig
In dieser Arbeit wurde die Hypothese aufgestellt, dass die zehn Spannungsflussrhythmen nach Kestenberg auch bei anderen, rezenten Säugetieren auftreten. Dazu wurden die zehn Spannungsflussrhythmen bei acht lebenden Säugetiergattungen untersucht, deren Vorfahren auf der Entwicklungslinie zum Menschen liegen oder dieser Entwicklungslinie sehr nahestehen. Für die Beobachtung der Tiere wurden Videos verwendet. Von jeder Säugetiergattung wurden 200 Bewegungskomponenten in Spannungsflussrhythmus-Kurven aufgezeichnet, beschriftet, ausgezählt, die Plot-Werte berechnet und diese dann in Diagramme eingezeichnet. Die Untersuchungsergebnisse dieser Arbeit bestätigen die Hypothese und unterstreichen somit die Bedeutung dieser Rhythmen für die Entwicklung von Kindern, aber auch für Erwachsene.
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Fachbeitrag 90 körper-- tanz-- bewegung 10. Jg., S. 90-100 (2022) DOI 10.2378/ ktb2022.art14d © Ernst Reinhardt Verlag Bewegungsanalyse von Säugetieren Untersuchung der Spannungsflussrhythmen von Insektenfressern, Spitzhörnchen und Primaten Undine Uhlig In dieser Arbeit wurde die Hypothese aufgestellt, dass die zehn Spannungsflussrhythmen nach Kestenberg auch bei anderen, rezenten Säugetieren auftreten. Dazu wurden die zehn Spannungsflussrhythmen bei acht lebenden Säugetiergattungen untersucht, deren Vorfahren auf der Entwicklungslinie zum Menschen liegen oder dieser Entwicklungslinie sehr nahestehen. Für die Beobachtung der Tiere wurden Videos verwendet. Von jeder Säugetiergattung wurden 200 Bewegungskomponenten in Spannungsflussrhythmus-Kurven aufgezeichnet, beschriftet, ausgezählt, die Plot-Werte berechnet und diese dann in Diagramme eingezeichnet. Die Untersuchungsergebnisse dieser Arbeit bestätigen die Hypothese und unterstreichen somit die Bedeutung dieser Rhythmen für die Entwicklung von Kindern, aber auch für Erwachsene. Schlüsselbegriffe Bewegungsanalyse, Spannungsflussrhythmen, Säugetiere, Paläontologie, Phylogenie Movement analysis of mammals. Investigation of the Tension Flow Rhythms of Insectivores, Shrews and Primates In this article the hypothesis was put forward that Kestenberg’s tension flow rhythms also occur in other living species of mammals. For this purpose, the ten tension flow rhythms were examined in eight living mammalian genera whose ancestors are on the human lineage or are very close to this lineage. Videos were used to observe the animals. From each mammalian genera, 200 movement components were recorded in tension flow rhythm curves, labeled, counted, plot values calculated and then plotted on diagrams. The results of this study confirm the hypothesis and thus underline the importance of these rhythms for the development of children as well as for adults. Key words movement analysis, tension flow rhythms, mammals, paleontology, phylogeny D er Mensch bewegt sich immer, solange er lebt (und wenn es nur das Heben und Senken des Brustkorbs beim Atmen ist). In der Tanztherapie werden diese Bewegungen beim Menschen beobachtet und analysiert (Bender 2014, 3). In dieser Arbeit bin ich einen Schritt weiter gegangen und habe Bewegungen bei Säugetieren, den nächsten Verwandten des Menschen im Tierreich, beobachtet und hinsichtlich ihrer Spannungsflussrhythmen analysiert. Dass sich Bewegungsmuster des Menschen, z. B. die sechs Bartenieff-Fun- Bewegungsanalyse von Säugetieren 3 | 2022 91 damentals, die ein Kind während seines ersten Lebensjahres entwickelt, auch bei Tieren zeigen, berichten bereits Schoop (1999, 120) und Rollwagen (2007, 145). Dabei entspricht die Reihenfolge der Bartenieff-Fundamentals der phylogenetischen Entwicklung der Tierwelt von ihrem Beginn im Präkambrium bis heute. Die zehn Spannungsflussrhythmen entwickelt ein Kind von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr (Kestenberg 1971, 94; Bender 2014, 91). Die Spannungsflussrhythmen beginnen mit dem Saugrhythmus, dem wichtigsten Kennzeichen der Säugetiere. Daher stellte sich für mich die Frage, ob es sein könnte, dass die Spannungsflussrhythmen auch bei anderen rezenten Säugetieren auftreten, insbesondere bei denen, deren Vorfahren auf der Entwicklungslinie zum Menschen liegen oder dieser Entwicklungslinie sehr nahestehen. Meine Hypothese lautet: Die zehn Spannungsflussrhythmen, die ein Kind von der Geburt bis zu seinem sechsten Lebensjahr entwickelt, treten auch bei anderen, rezenten Säugetieren auf. Wenn nachgewiesen werden könnte, dass die Spannungsflussrhythmen auch bei anderen Säugetieren vorhanden sind, dann sind sie vermutlich bereits seit Jahrmillionen im Genpool der Säugetiere und damit auch des Menschen enthalten. Dies würde die Bedeutung dieser Rhythmen für die Entwicklung der Kinder, aber auch für Erwachsene bestärken. Eine Literaturrecherche ergab keine bisherigen Forschungsarbeiten oder Publikationen zu diesem Thema. Methodik In dieser Arbeit wurden acht lebende Säugetiergattungen von drei Ordnungen untersucht: ● Ordnung Insectivora: Sorex (Spitzmaus) ● Ordnung Scandentia: Tupaia (Spitzhörnchen) ● Ordnung Primates: Lemur (Katta), Pygathrix (Kleideraffe), Hylobates (Gibbon), Pongo (Orang-Utan), Gorilla und Pan (Schimpanse) Die Vorfahren dieser Säugetiergattungen liegen in der genannten Reihenfolge auf der Entwicklungslinie zum Menschen oder stehen dieser Entwicklungslinie sehr nahe (Benton 2007, 344, 376, 383, 386-394; Müller 1989, 713-749). Zu einer Gattung gehören mehrere Arten, die sich jedoch nur in Details voneinander unterscheiden. Zur Beobachtung der Tiere wurden frei zugängliche Videos auf YouTube und in Mediatheken verwendet. Dabei kamen fast nur Videos von professionellen Tierfotografen zum Einsatz, die diese Tiere in ihrer natürlichen Umgebung filmten. Aus jedem Video wurden Sequenzen ausgewählt, die möglichst eine Vielzahl an unterschiedlichen Bewegungen und Aktivitäten von erwachsenen Tieren zeigen. Junge Individuen schieden bei der Analyse aus, denn es ist anzunehmen, dass diese genauso wie Menschenkinder entsprechend ihrem jeweiligen Alter einige Spannungsflussrhythmen mehr, andere nur wenig oder manche eben noch gar nicht zeigen. In die Aufzeichnung der Spannungsflussrhythmen flossen die Bewegungen verschiedener Individuen ein, denn in den Videos ist nicht immer das gleiche Individuum zu sehen. Von jeder Säugetiergattung wurden 200 Bewegungskomponenten aufgezeichnet (Uhlig 2021). Die Aufzeichnungen der Spannungsflussrhythmus-Kurven richtete sich nach den Vorgaben von Loman (1999, 5-11). Von jeder Säugetiergattung wurden zuerst Spannungsflussrhythmus-Probekurven aufgezeichnet. Erst wenn es bei den Probekurven keine Unterschiede mehr gab, wurde das letztendliche Original erstellt. Jede Bewegungskomponente wurde mit den entsprechenden Spannungsflussrhythmen bezeichnet. Bei der Aufzeichnung nach Loman enthalten Mischrhythmen grundsätzlich eine Kombination 92 3 | 2022 Undine Uhlig von Spannungsflussrhythmen, z. B. oso (Mischung aus Beiß- und Saugrhythmus) (Uhlig 2021, 6 f ). Dabei wird der ankämpfende Rhythmus zuerst genannt. Ansonsten richtet sich die Reihenfolge nach der Entwicklung (Loman 1999, 12). Auf einem „Count Sheet“ werden die Anzahl jedes reinen Rhythmusses, die Anzahl jeder Komponente der Mischrhythmen sowie die Anzahl jedes Mischrhythmusses eingetragen. Auf einem „Calculation Sheet“ wird der prozentuale Anteil jedes reinen Spannungsflussrhythmus und jeder Komponente der Mischrhythmen ausgerechnet und eingetragen. Dieser prozentuale Anteil wird mit 0,2 multipliziert. Dies ergibt einen sogenannten Plot-Wert. Im „Diagram Sheet“ werden die Plot-Werte für die rei nen Spannungsflussrhythmen in ein Spannungs flussrhythmen-Diagramm eingetragen und mit einer durchgezogenen Linie verbunden. Die Plot-Werte für die Komponenten der Mischrhythmen werden zu den Plot- Werten der reinen Spannungsflussrhythmen addiert, dann in das Spannungsflussrhythmen- Diagramm eingetragen und mit einer gestrichelten Linie verbunden (Loman 1999, 12 f ). Die Spannungsflussrhythmen-Diagramme wurden bei dieser Studie für jede Säugetiergattung erstellt (siehe Abb. 2-9). Erklärung der verwendeten Fachbegriffe Spannungsflussrhythmen Die Spannungsflussrhythmen wurden von Judith Kestenberg, einer Kinderpsychiaterin, entdeckt (Bender 2014, 91). „1953 begann Kestenberg eine 20-jährige Langzeitstudie zu Bewegungsmustern von drei Kindern.“ (Bender 2020, 67) Kestenberg entdeckte die Spannungsflussrhythmen, als sie Linien malte, während sie sich kinästhetisch auf die Körperspannung eines Kindes, das sie beobachtete, einstimmte (Bender 2014, 91). Kestenberg fand heraus, dass alle Spannungsflussrhythmen von Geburt an zu beobachten sind, dass sie aber zu bestimmten Zeiten häufiger auftreten. Die Spannungsflussrhythmen werden fünf Körperzonen zugeordnet: oral, anal, urethral, innergenital und außergenital. Diese fünf Grundrhythmen sind jeweils in einen libidinösen, d. h. lustvoll, genießenden und einen Körperzone SFR libidinös hauptsächliches Alter SFR aggressiv hauptsächliches Alter oral Saugrhythmus (o) in den ersten 5 bis 6 Monaten Beißrhythmus (os) 4.-9. Monat anal Verdrehrhythmus (a) beginnt im 9.-10. Monat Pressrhythmus (as) 2. Lebensjahr urethral Fließrhythmus (u) 3. Lebensjahr Stopprhythmus (us) beginnt mit 2,5 Jahren innergenital Wiegerhythmus (ig) 4. Lebensjahr Wogerhythmus (igs) 4. Lebensjahr außergenital Hüpfrhythmus (og) 5. Lebensjahr Stoßrhythmus (ogs) im 6. Lebensjahr Tab. 1: Die zehn Spannungsflussrhythmen, unterteilt in libidinös und aggressiv sowie hinsichtlich ihres altersmäßigen Auftretens nach Bender (2014, 103, 338) Bewegungsanalyse von Säugetieren 3 | 2022 93 aggressiven, d. h. trennenden, ankämpfenden Rhythmus aufgeteilt (Koch 2007, 238-240; Bender 2014, 91; siehe Tab. 1). Phylogenie und Systematik der Säugetiere Das älteste, anhand von Fossilfunden bekannte Säugetier ist Morganucodon. Es lebte in der Trias, also vor ca. 220 Mio. Jahren (Benton 2007, 318). Vermutlich hatte Morganucodon bereits Milchdrüsen, von denen die Neugeborenen Milch leckten (Benton 2007, 322). Darüber hinaus haben Säugetiere ein besonderes Kiefergelenk, das ihnen erlaubt, ihre Nahrung zu kauen (Benton 2007, 322). Die heute lebenden Säugetiere werden in drei Hauptgruppen unterteilt: Monotremata (Kloakentiere), Marsupialia (Beuteltiere) und Placentalia (Placentatiere) (Kemp 2017, 2-6). In dieser Arbeit werden nur Placentalia untersucht, zu denen auch der Mensch gehört. Placentalia entwickelten sich mit dem Beginn des Tertiärs vor ca. 65 Mio. Jahren sehr vielgestaltig (Benton 2007, 383). Es gibt heute ca. 5500 Arten, die in 20 Ordnungen klassifiziert sind (Kemp 2017, 2). Auf der Entwicklungslinie zum Menschen liegen drei Ordnungen, die in dieser Arbeit Beachtung finden: Insectivora (Insektenfresser), Scandentia (Spitzhörnchen) und Primates (Herrentiere). Abb. 1 zeigt die Entwicklungslinie zum Menschen mit diesen drei Ordnungen sowie die verwandtschaftlichen Verhältnisse zu Morganucodon, Monotremata und Marsupialia. Von den Insectivora wurde Sorex (Spitzmaus) ausgewählt, eine Gattung, die zu den ursprünglichsten Insectivora zählt. Die Ordnung Scandentia enthält nur die Gattung Tupaia (Spitzhörnchen). Demzufolge floss diese Gattung in die Untersuchung ein. Bei den Primaten wurden die ursprünglichen Gattungen Lemur (Katta), Pygathrix (Kleideraffe) und Hylobates (Gibbon) sowie die drei Menschenaffen Pongo (Orang-Utan), Gorilla und Pan (Schimpanse) in Betracht gezogen. Abb. 1: Phylogenetische Entwicklungslinie zum Menschen mit den drei Ordnungen Insectivora (Insektenfresser), Scandentia (Spitzhörnchen) und Primates (Herrentiere) sowie die verwandtschaftlichen Verhältnisse zu Morganucodon, Monotremata (Kloakentiere) und Marsupialia (Beuteltiere) (eigene Zeichnung, zusammengestellt nach Benton 2007, 383; Müller 1989, 109, 713; Thenius 1979, 93-98). 94 3 | 2022 Undine Uhlig Untersuchung der Spannungsflussrhythmen von acht Säugetiergattungen Bei Sorex und Tupaia konnten orale, anale und urethrale Spannungsflussrhythmen beobachtet werden. Auffallend war bei beiden Gattungen die hohe Anzahl an Stopprhythmen. Inner- Abb. 2: Spannungsflussrhythmen- Diagramm von Sorex (Spitzmaus) Abb. 3: Spannungsflussrhythmen- Diagramm von Tupaia (Spitzhörnchen) und außergenitale Spannungsflussrhythmen konnten nicht beobachtet werden (Abb. 2 und 3). Beim Lemur konnten alle Spannungsflussrhythmen außer dem Wogerhythmus beobachtet werden. Der Stopprhythmus war vorherrschend (Abb. 4). Bewegungsanalyse von Säugetieren 3 | 2022 95 Abb. 4: Spannungsflussrhythmen- Diagramm von Lemur (Katta) Abb. 5: Spannungsflussrhythmen- Diagramm von Pygathrix (Kleideraffe) Bei Pygathrix und Hylobates konnten alle Spannungsflussrhythmen beobachtet werden. Bei den genießenden Spannungsflussrhythmen überwogen Verdrehrhythmus und Wiegerhythmus, bei den ankämpfenden der Stopprhythmus (Abb. 5 und 6). 96 3 | 2022 Undine Uhlig Abb. 6: Spannungsflussrhythmen-Diagramm von Hylobates (Gibbon) Abb. 7: Spannungsflussrhythmen-Diagramm von Pongo (Orang-Utan) Beim Pongo traten alle Spannungsflussrhythmen außer dem Hüpfrhythmus auf. Auffallend war eine Häufung des Verdrehrhythmus (Abb. 7). Beim Gorilla konnten Saugrhythmus, Verdrehrhythmus, Pressrhythmus, Fließrhythmus, Stopprhythmus, Wiegerhythmus und Stoßrhythmus beobachtet werden, Beißrhythmus, Bewegungsanalyse von Säugetieren 3 | 2022 97 Wogerhythmus und Hüpfrhythmus dagegen nicht. Bei den genießenden Spannungsflussrhythmen überwogen Verdrehrhythmus und Wiegerhythmus, bei den ankämpfenden der Stopprhythmus (Abb. 8). Beim Pan waren alle Spannungsflussrhythmen außer dem Wogerhythmus zu sehen. Auffallend war die hohe Anzahl an Verdrehrhythmen. Abb. 8: Spannungsflussrhythmen- Diagramm von Gorilla Abb. 9: Spannungsflussrhythmen- Diagramm von Pan (Schimpanse) 98 3 | 2022 Undine Uhlig Abb. 10: Das Auftreten der Spannungsflussrhythmen bei den untersuchten acht Säugetiergattungen, inklusive dem ältesten Säugetier Morganucodon, den mesozoischen Säugetieren und der Gattung Homo (Mensch). Die Säugetiere sind von unten nach oben phylogenetisch geordnet (eigene Darstellung). Ergebnisse und Diskussion In Abb. 10 ist das Auftreten jedes Spannungsflussrhythmusses vom ursprünglichsten Säugetier (Morganucodon) bis zum Menschen dargestellt. Der Saugrhythmus trat wahrscheinlich schon beim ältesten Säugetier (Morganucodon) auf. Die Jungen haben vermutlich Milch von Milchdrüsen aufgeleckt (Benton 2007, 322). Der Saugrhythmus tritt bei allen acht untersuchten Säugetiergattungen auf. Dieser Spannungsflussrhythmus ist für Säugetiere existenziell, denn sie kommen ohne Zähne auf die Welt. Daher muss es eine Lösung geben, Neugeborene zu ernähren, ohne dass sie ihre Nahrung zerbeißen und kauen müssen. Bewegungsanalyse von Säugetieren 3 | 2022 99 Der Beißrhythmus trat vermutlich ebenfalls schon bei Morganucodon auf. Dieses älteste Säugetier hatte bereits ein besonderes Kiefergelenk, das es ihm erlaubte, seine Nahrung zu zerbeißen und zu kauen (Benton 2007, 322). Der Beißrhythmus konnte bei sieben Säugetiergattungen beobachtet werden, nur beim Gorilla nicht. Es ist aber zu vermuten, dass der Beißrhythmus im Bewegungsrepertoire des Gorillas vorhanden ist, da er sowohl bei dem phylogenetisch älteren Pongo als auch bei dem phylogenetisch jüngeren Pan beobachtet werden kann. Der Verdrehrhythmus war bei allen acht Säugetieren zu beobachten. Er trat sehr häufig bei Pongo und Pan auf. Press-, Fließ- und Stopprhythmus waren ebenfalls bei allen acht Säugetieren zu beobachten. Der Stopprhythmus trat auffallend häufig bei den ursprünglichen Vertretern auf (Sorex, Tupaia und Lemur). Der Wiegerhythmus war bei den ursprünglichen Vertretern Sorex und Tupaia nicht zu beobachten. Höchstwahrscheinlich entwickelte er sich erst bei den Primaten. Der Wogerhythmus konnte bei Sorex, Tupaia, Lemur, Gorilla und Pan nicht beobachtet werden. Höchstwahrscheinlich trat auch dieser Spannungsflussrhythmus erst bei den Primaten auf. Auch wenn er bei einigen Primaten nicht zu sehen war, so ist dennoch zu vermuten, dass ihn diese Tiere beim Gebären zeigen. Diese Vermutung stützt sich darauf, dass Sorex und Tupaia mehrere sehr kleine Jungen gebären, die leicht den Geburtskanal passieren können. Erst bei den Lemuren, die zur ursprünglichsten Gruppe der Primaten zählen, wird nach einer langen Tragezeit meist nur ein relativ großes und schweres Junges geboren. Die außergenitalen Spannungsflussrhythmen, Hüpf- und Stoßrhythmus, konnten nur bei den Primaten beobachtet werden. Bei Pongo und Gorilla war der Hüpfrhythmus in den Videos nicht zu sehen. Es ist aber zu vermuten, dass er im Bewegungsrepertoire dieser Tiere vorhanden ist, denn dieser Spannungsflussrhythmus tritt sowohl bei den phylogenetisch älteren als auch bei den jüngeren Primaten auf. Die oralen Spannungsflussrhythmen, die bei Kindern insbesondere im ersten Lebensjahr zu sehen sind, traten höchstwahrscheinlich bereits bei Morganucodon, dem ältesten bekannten Säugetier in der Trias (vor ca. 220 Mio. Jahren), auf (Benton 2007, 318). In dieser Arbeit konnten sie ab Sorex nachgewiesen werden. Diese Gattung zählt zu den ursprünglichsten Vertretern der Insectivora, eine Säugetierordnung, die seit der Oberkreide fossil nachgewiesen ist, also seit ca. 100 Mio. Jahren (Müller 1989, 110). Die analen und die urethralen Spannungsflussrhythmen, die bei Kindern vorrangig im zweiten und dritten Lebensjahr zu erkennen sind, waren ebenfalls ab Sorex zu beobachten. Die inner- und außergenitalen Spannungsflussrhythmen, die vom vierten bis sechsten Lebensjahr entwickelt werden, waren nur bei den Primaten zu sehen. Diese Säugetierordnung ist erstmals zu Beginn des Tertiärs, also vor ca. 65 Mio. Jahren, nachgewiesen (Müller 1989, 715). Aufgrund der phylogenetischen Bedeutung der Spannungsflussrhythmen sollten diese bei Kindern unbedingt unterstützt werden. Werden diese Spannungsflussrhythmen unterdrückt, greift man nicht nur in die Entwicklung des Kindes ein, sondern in eine Millionen Jahre alte phylogenetische Gesetzmäßigkeit. Dies dürfte eine wichtige Erkenntnis für KinderpflegerInnen, ErzieherInnen, LehrerInnen und Eltern sein. Bei Erwachsenen sollten Spannungsflussrhythmen, die fehlen oder nur sehr gering entwickelt sind, nachgenährt werden (Bender 2014, 105-114; Uhlig 2021, 24-29). Die Verbindung der Fachrichtungen Paläontologie, Biologie und Tanztherapie scheint gewinnbringend zu sein, denn der Nachweis aller zehn Spannungsflussrhythmen bei anderen, rezenten Säugetieren unterstreicht meines Erachtens die Bedeutung der langjährigen Forschungsergebnisse von Judith Kestenberg hinsichtlich der Spannungsflussrhythmen. 100 3 | 2022 Undine Uhlig Zusammenfassung In dieser Arbeit wurde die Hypothese aufgestellt, dass die zehn Spannungsflussrhythmen, die ein Kind von der Geburt an bis zu seinem sechsten Lebensjahr entwickelt, auch bei anderen, rezenten Säugetieren auftreten. Dazu wurden die zehn Spannungsflussrhythmen bei acht lebenden Säugetiergattungen untersucht, deren Vorfahren auf der Entwicklungslinie zum Menschen liegen oder dieser Entwicklungslinie sehr nahestehen: Sorex (Spitzmaus), Tupaia (Spitzhörnchen), Lemur (Katta), Pygathrix (Kleideraffe), Hylobates (Gibbon), Pongo (Orang-Utan), Gorilla und Pan (Schimpanse). Die Untersuchungsergebnisse dieser Arbeit bestätigen die anfangs aufgestellte Hypothese: Die Spannungsflussrhythmen können auch bei anderen, rezenten Säugetieren beobachtet werden. Bei den Primaten traten alle Spannungsflussrhythmen auf, bei den ursprünglicheren Säugetieren Sorex und Tupaia fehlen höchstwahrscheinlich die inner- und außergenitalen Spannungsflussrhythmen im Bewegungsrepertoire. Somit sind die Spannungsflussrhythmen vermutlich bereits seit Jahrmillionen im Genpool von Säugetieren und somit auch des Menschen enthalten. Dies unterstreicht die Bedeutung dieser Rhythmen für die Entwicklung der Kinder. Bei Erwachsenen sollten Spannungsflussrhythmen, die fehlen oder nur sehr gering entwickelt sind, nachgenährt werden. Literatur Bender, S. (2014): Die psychophysische Bedeutung der Bewegung. Ein Lehrbuch der Laban Bewegungsanalyse und des Kestenberg Movement Profiles. 3. Aufl. Logos, Berlin Bender, S. (2020): Grundlagen der Tanztherapie. Geschichte, Menschenbild, Methoden. Psychosozial, Gießen Benton, M. J. (2007): Paläontologie der Wirbeltiere. 3. Aufl. Dr. Friedrich Pfeil, München Kemp, T. S. (2017): Mammals: a yery short introduction. University Press, Oxford Kestenberg, J. S. (1971): The role of movement patterns in development. Dance Notation Bureau Press, New York Koch, S. C. (2007): Basic principles of movement analysis: steps toward validation of the KMP. In: Koch, S. C., Bender, S. (Hrsg.): Movement Analysis-- Bewegungsanalyse. The legacy of Laban, Bartenieff, Lamb and Kestenberg. Logos, Berlin, 235-248 Loman, S. (1999): Training manual for the Kestenberg Movement Profile. Sands Point, New York Müller, A. H. (1989): Lehrbuch der Paläozoologie. Band III Vertebraten, Teil 3 Mammalia. 2. Aufl. Gustav Fischer, Jena Rollwagen, B. (2007): Laban / Bartenieff Bewegungsstudien für Kinder mit Lernstörungen. Neurobiologie und Praxis. In: Koch, S. C., Bender, S. (Hrsg.): Movement Analysis-- Bewegungsanalyse. The Legacy of Laban, Bartenieff, Lamb and Kestenberg. Logos, Berlin, 143-159 Schoop, T. (1999): Zur Tanztherapie. In: Wilke, E., Hölter, G., Petzold, H. (Hrsg.): Tanztherapie-- Theorie und Praxis-- Ein Handbuch. 3 Aufl. Junfermann, Paderborn, 117-128 Thenius, E. (1979): Die Evolution der Säugetiere. Gustav Fischer, Stuttgart Uhlig, U. (2021): Phylogenetische Aspekte in der Tanztherapie. Untersuchung des Zusammenhanges zwischen der Phylogenie der Säugetiere und den Spannungsflussrhythmen. Unveröffentlichte Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung zur Tanztherapeutin am Europäischen Zentrum für Tanztherapie München Dr. rer. nat. Undine Uhlig Promovierte Paläontologin, Tanztherapeutin BTD, Heilpraktikerin für Psychotherapie. Tätig als Tanztherapeutin in einer Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Bad Füssing und in privater Praxis. ✉ Dr. Undine Uhlig Rosenweg 49 | D-82538 Geretsried www.undine-uhlig.de undine.e.uhlig@gmail.com
