eJournals körper tanz bewegung 11/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Sophie Krietsch/Birgit Heuer: Schritte zur Ganzheit. Bewegungstherapie mit schizophrenen Kranken

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2023
Dagmar Hoffmann-Axthelm
Dieses Buch ist eine Neuauflage des gleichnamigen, 1997 bei Urban und Fischer erschienenen Bandes, angereichert durch ein Vorwort der Herausgeberinnen Angela von Arnim, Cornelia Gudden und Verena Laufer und ein Geleitwort zur Neuauflage von Frank Röhricht. Die Herausgeberinnen schöpften mit ihrer Neuausgabe insofern aus erster Quelle, als sie Schülerinnen und spätere Mitarbeiterinnen von Sophie Krietsch (1922–2012) waren, was auch für die Mitautorin Birgit Heuer gilt.
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Medien & Materialien 34 körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 34-36 (2023) © Ernst Reinhardt Verlag Sophie Krietsch / Birgit Heuer: Schritte zur Ganzheit. Bewegungstherapie mit schizophrenen Kranken Unv. Neuaufl. Psychosozial-Verlag, 2022, 203 Seiten, 29,90 € (D) D ieses Buch ist eine Neuauflage des gleichnamigen, 1997 bei Urban und Fischer erschienenen Bandes, angereichert durch ein Vorwort der Herausgeberinnen Angela von Arnim, Cornelia Gudden und Verena Laufer und ein Geleitwort zur Neuauflage von Frank Röhricht. Die Herausgeberinnen schöpften mit ihrer Neuausgabe insofern aus erster Quelle, als sie Schülerinnen und spätere Mitarbeiterinnen von Sophie Krietsch (1922-2012) waren, was auch für die Mitautorin Birgit Heuer gilt. Krietsch arbeitete als gelernte Gymnastiklehrerin in einer psychiatrischen Klinik mit schizophren erkrankten PatientInnen, bildete sich bei Marianne Fuchs in Funktioneller Entspannung weiter und entwickelte daraus ihre „Psychiatrische Bewegungstherapie“. Birgit Heuer begann als Krankengymnastin, machte bei Ursula Kost eine Ausbildung zur Konzentrativen Bewegungstherapeutin und studierte bei Krietsch Bewegungstherapie, den Gegenstand dieses Buches. Das Buch ist keine systematische Einführung in die Bewegungstherapie, sondern eine eher lockere Zusammensicht einschlägiger Artikel, die, wie es der Titel verheißt, „Schritte zur Ganzheit“ beschreiben. Einen ersten „Schritt“ geht Frank Röhricht in seinem Geleitwort, in dem er zum einen erklärende Worte für die extrem schwer zugängliche und ebenso schwer geistig und emotional erfassbare schizophrene Erkrankung findet und zum anderen auf die essenzielle Relevanz des körperorientierten Zuganges im Hinblick auf diese Selbststörung verweist. Den zweiten Schritt macht Sophie Krietsch in einem kurzen Beitrag (S. 25-35), in dem sie ihren Weg von der Gymnastiklehrerin zur Bewegungstherapeutin beschreibt und eine knappe erfahrungsorientierte Systematik anfügt. Auf der Basis der Erkenntnis, dass schizophren Erkrankte unter einer existenziellen Beziehungsstörung der eigenen Person wie auch der menschlichen und dinglichen Mitwelt gegenüber leiden, gliedert sie ihr therapeutisches Programm in vier Übungsbereiche: ● Beziehung zum eigenen Körper ● Beziehung zu Raum und Zeit ● Beziehung zu den Dingen ● Beziehung zu den Menschen Einen umfangreichen, hundert Seiten umfassenden dritten Schritt unternimmt im darauffolgenden Beitrag Birgit Heuer, indem sie zunächst die für die Bewegungstherapie basalen Schizophrenie-Theorien von Donald W. Winnicott und Christian Scharfetter referiert und dann ausführlich Krietschs vier Übungsrichtlinien erläutert. Es liegt in der Natur einer schizophrenen Erkrankung, dass die betroffenen PatientInnen die Beziehung zum eigenen Körper, zu Raum und Zeit, zu Dingen und zu Menschen als Kinder nicht ausreichend gut oder nur rudimentär erfahren und erlernen konnten. Sie fühlen ihren Körper nicht als ihrer Persönlichkeit zugehörig und können sich folglich nicht abgrenzen. Entsprechend geht es in der Therapie darum, dass sie ihre fragmentierte leib-seelische Befindlichkeit wieder als lebendiges, zusammenhängendes Ganzes erleben können. In der Gruppentherapie geschieht diese Schaffung einer Beziehung zum eigenen Körper durch Übungen, die der / die TherapeutIn mit der gesamten Gruppe oder mit einzelnen Mit- Medien & Materialien 35 1 | 2023 gliedern anleitet oder die diese- - im Falle bereits fortgeschrittener KlientInnen-- paarweise miteinander ausführen. Mittel zum Zweck ist die körperliche Berührung oder auch der stimulierende Umgang mit Geräten- - z. B. Bällen, Stäben oder Matten. Die Beziehung zu Raum und Zeit ist bei schizophrenen PatientInnen verzerrt, weil sie als Säuglinge und Kleinkinder keinen Halt in den Armen ihrer Pflegeperson finden konnten und ihnen als Erwachsene ein verlässlicher Boden unter den Füßen fehlt. Entsprechend werden die elementaren Schritte „Liegen“, „Sich aufrichten“, „Sitzen“ und „Stehen“ neu gelernt, und dies unter Schulung bewusster Körperwahrnehmung. Die Beziehung zu Dingen ist dem Umstand geschuldet, dass die PatientInnen Gegenstände ihrer Umgebung nicht physisch und sinnlich wahrnehmen, also beispielsweise etwas in den Händen halten und dies nicht realisieren. In der Therapie werden ihnen spielerisch eine Vielzahl von Gegenständen wie Tücher, Holzreifen, Stäbe, Kissen oder Wärmesäckchen angeboten und ihnen so Raum gegeben, eine Vorliebe für das eine oder andere Objekt zu entdecken. Naturgemäß ist auch die Beziehung zu den Mitmenschen gestört. Hier wird versucht, in der Zweierbeziehung oder in der Gruppe den oder die anderen zu erfahren, indem man etwa im Gleichschritt nebeneinander läuft, sich bei den Händen hält, Rücken an Rücken sitzt oder von der Gruppe hochgehoben und getragen wird. Für all diese Übungsbereiche gilt, dass der / die LeiterIn sich außerordentlich aktiv einbringt, korrigiert, berät und im Bedarfsfall Vorschläge macht. Im Übrigen werden zu den vier genannten Bereichen Übungsbeispiele beschrieben und durch Fotos veranschaulicht. Schritt vier und fünf liegen wieder bei Sophie Krietsch. Im vierten Schritt gibt sie eine kurze Einführung in die Theorie der von Marianne Fuchs entwickelten Funktionellen Entspannung. Es handelt sich um eine tiefenpsychologisch fundierte Körpertherapie, die als Einzeltherapie gehandhabt wird. Die PatientInnen liegen auf einer Matte und explorieren zunächst mit Hilfe der TherapeutInnen ihren Atem, der bei psychisch Kranken naturgemäß den Körper nur mit dem unbedingt Nötigen versorgt und dementsprechend zu Verspannungen führt. Fokus der Entspannungsarbeit sind die Wirbelsäule, bei Fuchs „Ichachse“ genannt, sowie die „drei Kreuze“, d. h. das Becken und seine Verbindung zu Beinen und Füßen, der Brustkorb und seine Verbindung zu Armen und Händen sowie der Kopf. Ziel der Therapie ist es, dass die PatientInnen Ruhe und Halt auf dem Boden und in sich selbst finden. In einem fünften Schritt berichtet Krietsch von einer Einzeltherapie, die sich über einen Zeitraum von zehn Jahren erstreckte und die eine an Schizophrenie erkrankte Patientin zu eben diesem Ziel führte- - zu verlässlicherem Halt in der eigenen Person wie auch im Berufsleben und im täglichen Sein. Die verbleibenden Schritte unternimmt Birgit Heuer. Sie gibt zunächst einen kurzen Überblick über die Konzentrative Bewegungstherapie nach Elsa Gindler und Helmut Stolze, ein Verfahren, in dem die Konzentration auf das im therapeutischen Rahmen Erlebte gelenkt und so versucht wird, innere Konfliktzonen zu erspüren. Diese Therapieform ist für neurotisch und psychosomatisch beeinträchtigte Patient- Innen entwickelt worden, die vonseiten der TherapeutInnen zur Selbsterforschung ermutigt werden, was aber einen Grad an Selbstständigkeit voraussetzt, über den psychotische PatientInnen nicht verfügen. Heuer schlägt eine aktivere Haltung der TherapeutInnen den schizophrenen PatientInnen gegenüber vor, um sie auch von diesem konzentrativen Aspekt profitieren lassen zu können. Es folgt ein Bericht über die Therapie mit offenen und geschlossenen Gruppen an psychiatrischen Kliniken, die naturgemäß eine unterschiedliche Dynamik entwickeln, die aber den TherapeutInnen gleichermaßen viel vorberei- 36 Medien & Materialien 1 | 2023 tende Arbeit und ebenso viel Spontaneität im akuten Gruppengeschehen abverlangen. Den Abschluss bildet ein Bericht über einen jungen Patienten, der im katatonen Stupor gefangen war und der sich mit Hilfe der ebenso kreativ wie zuverlässig vorgehenden Therapeutin aus seiner nahezu tödlichen Starre befreien und wieder „laufen lernen“ konnte. Der äußeren Form nach wirkt das Buch zunächst ein wenig befremdlich. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis erweckt den Eindruck, als würden die „Schritte zur Ganzheit“ in kontinuierlicher inhaltlicher und stilistischer Bezogenheit aufeinander unternommen. Bei der Lektüre drängt sich dann aber der schon angedeutete Eindruck auf, dass die Autorinnen ein unabhängig voneinander entstandenes, vielleicht sogar vorveröffentlichtes Material zu einem Sammelband zusammengestellt haben. Dagegen wäre nichts zu sagen, die Leserin hätte aber in einem Vorwort gern etwas über etwaige Quellen der „Schritte“ erfahren. So stehen die einzelnen Beiträge eher übergangslos nebeneinander. Besonders gilt dies für Heuers Artikel über die Konzentrative Bewegungstherapie, der in den übrigen Beiträgen keinerlei Echoeffekt auslöst. Und noch zwei Bemerkungen zum Inhalt. Zum einen: Es hat mich überrascht, wie sparsam das Konzept des Atems zur Sprache gebracht wird. Heuer widmet ihm unter der schönen Überschrift „Atem bedeutet Leben“ eine dreiviertel Seite (S. 60) und Krietzsch drei Absätze (S. 133). Nach meiner Erfahrung als tiefenpsychologisch arbeitende Körpertherapeutin sind das Erkennen und Beobachten der Atmung und die Arbeit an seiner Vertiefung ebenso basal wie elementar. Die Atmung ist das Fundament der Körpertherapie, das gar nicht wichtig genug genommen werden kann, zumal es den PatientInnen schon in einem frühen Stadium der Therapie ein selbständig handhabbares Werkzeug zur Gesundung schenkt. Zum anderen: Beide Autorinnen betonen immer wieder, dass ihre „via regia“ zu einer stabileren Persönlichkeit ihrer KlientInnen die körperliche Berührung ist, was unmittelbar einleuchtet. Andererseits löst Körperkontakt sehr viel schneller sehr viel intensivere Übertragungsphänomene in den KlientInnen aus, als dies im rein verbalen Austausch geschieht. Solche Vorgänge spielen sich meist zunächst unterschwellig ab, können aber, wenn die Zeit reif ist, zu heftigen Explosionen führen. Gern hätte man erfahren, wie die beiden Autorinnen mit derartigen Übertragungsgeschehnissen umgehen, aber hier geht die Leserin gänzlich leer aus. Schließlich eine Kuriosität am Rande: In der den Band abschließenden Liste „Weiterführende Literatur der Neuauflage“ erachtet es eine der Herausgeberinnen als notwendig, zwei der insgesamt sechs Seiten mit eigenen Publikationen zu füllen. Das alles ändert aber nichts am Wesentlichen. Das Buch ist gut, anschaulich und allgemein verständlich geschrieben und kommt ohne jeden Fachjargon aus. Und es vermittelt Inhalte, die es wünschenswert machen, dass es zur Pflichtlektüre all jener therapeutisch arbeitenden Menschen würde, die tagein tagaus mit an Schizophrenie erkrankten KlientInnen arbeiten. Dagmar Hoffmann-Axthelm DOI 10.2378 / ktb2023.art05d