körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum: (Körper-)Psychotherapie ist Teil des virtuellen Raums
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Ulrich Sollmann
Psychotherapie ist immer auch gesellschaftliches Handeln und Teil des öffentlichen Raums. Bezüglich der Entwicklung von Digitalisierung sieht sie sich einerseits konfrontiert mit der medialen Inszenierung in den sozialen Medien und insbesondere der diesbezüglichen Teilhabe der Gesellschaft. Andererseits ist sie selbst Teil des virtuellen Raums, in dem es um die Ökonomie der Aufmerksamkeit geht, gleichzeitig um die paradigmatische (Neu-) Bestimmung von Psychotherapie selbst. Psychotherapeutische Kompetenz kann sich bei der Bestimmung der Mensch-Maschine-Beziehung als hilfreich erweisen – erleben sich viele Menschen doch in Zeiten von Globalisierung als wurzellos und in den Datenströmen mitgerissen und verloren. Gerade hier steht Psychotherapie vor der großen doppelten Aufgabe, Menschen sowohl bei Wiedererlangung von „Lebenserkennungsgefühl“ zu begleiten als auch im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten einen Einfluss auf den virtuellen Raum selbst zu nehmen.
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114 körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 114-126 (2023) DOI 10.2378/ ktb2023.art16d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Unter der Lupe (Körper-)Psychotherapie ist Teil des virtuellen Raums Ein Essay Ulrich Sollmann Psychotherapie ist immer auch gesellschaftliches Handeln und Teil des öffentlichen Raums. Bezüglich der Entwicklung von Digitalisierung sieht sie sich einerseits konfrontiert mit der medialen Inszenierung in den sozialen Medien und insbesondere der diesbezüglichen Teilhabe der Gesellschaft. Andererseits ist sie selbst Teil des virtuellen Raums, in dem es um die Ökonomie der Aufmerksamkeit geht, gleichzeitig um die paradigmatische (Neu-) Bestimmung von Psychotherapie selbst. Psychotherapeutische Kompetenz kann sich bei der Bestimmung der Mensch-Maschine-Beziehung als hilfreich erweisen - erleben sich viele Menschen doch in Zeiten von Globalisierung als wurzellos und in den Datenströmen mitgerissen und verloren. Gerade hier steht Psychotherapie vor der großen doppelten Aufgabe, Menschen sowohl bei Wiedererlangung von „Lebenserkennungsgefühl“ zu begleiten als auch im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten einen Einfluss auf den virtuellen Raum selbst zu nehmen. Schlüsselbegriffe Psychotherapie, Öffentlichkeit, Digitalisierung, mediale Inszenierung, Virtualität, Aufmerksamkeit, Mensch-Maschine- Beziehung (Body) Psychotherapy Is Part of the Virtual Space. An Essay Psychotherapy is always social action and part of the public space. Regarding the development of digitization, on the one hand it is confronted with media staging, especially in social media, and in particular the participation of the society in this development. On the other hand, it is itself part of the virtual space in which the focus is on the economy of attention, and at the same time on the paradigmatic (re)definition of psychotherapy itself. Psychotherapeutic competence can prove to be particularly helpful in defining the human-machine relationship. In times of globalization, many people experience themselves as rootless and carried away and lost in the data streams. It is precisely here that psychotherapy is faced with the great double task of both accompanying people in regaining a “feeling for recognizing life” and of having an influence on the virtual space itself within the framework of the given possibilities. Key words psychotherapy, public, digitization, media staging, virtuality, attention, humanmachine relationship (Körper-)Psychotherapie im virtuellen Raum 3 | 2023 115 (Körper-)Psychotherapie im virtuellen Raum Psychotherapie ist nicht nur die Behandlung von Krankheit I m Folgenden beziehe ich mich auf Körperpsychotherapie als Teilbereich von Psychotherapie. Im Einzelfall werde ich Spezifika von Körperpsychotherapie nennen. Psychotherapie ist schon immer gesellschaftliches Handeln. Menschen suchen eine psychotherapeutische Behandlung, um ihr persönlich erlebtes, gesellschaftlich bedingtes Leiden besser zu verstehen, zu verringern oder gar zu heilen. Menschen sind gleichzeitig, bewusst oder unbewusst, auch daran interessiert, (wieder) stärker Verfügung über ihren Alltag und ihr subjektives Erleben zu erlangen. In beiden Fällen hat dies einen sichtbaren und spürbaren Einfluss auf die Art ihrer zufriedenstellenden Beziehungsgestaltung sowie darauf, wie sie auf ihre Lebensumstände reagieren, sie verändern oder gar ganz neue Schritte in ihrem Leben wagen. Psychotherapie findet also als Behandlung von persönlichem Leiden nicht in einem werte- und herrschaftsfreien Raum statt, sondern bildet (auch) die vorherrschenden und szenisch erlebten gesellschaftlichen Bedingungen und Dynamiken ab. Psychotherapie befähigt somit Menschen auch (aktiv) zu gesellschaftlichem Handeln. Psychotherapie ist immer kommunikatives Handeln. Schon Freud nannte seine Behandlung „Redekur“ (Palmer 2021). TherapeutIn und PatientIn bemühten sich im gemeinsamen Gespräch, das persönliche Leiden zu überwinden. Dies geschah u. a. mittels Vertiefung und Erhellung des (gemeinsamen) Erlebens in der Therapiebeziehung, mittels der Erweiterung des (gemeinsamen) Verstehens des motivationalen Handelns der PatientInnen auf dem Hintergrund und als Ausdruck seiner biographischen Entwicklung. Die Therapiebeziehung gestaltete sich daher schon früh als ein kommunikatives, reziprokes Geschehen (Übertragung und Gegenübertragung). Diese Art von szenisch erlebter und gestalteter Kommunikation sowie Beziehungsgestaltung verhalf dem / der TherapeuteIn dazu, (noch nicht) verbalisierbare Inhalte ahnend zu verstehen. Der / die PatientIn wiederum erlebte (vielleicht erstmalig in seinem / ihrem Leben) einen Raum des Selbst-Erlebens im Beisein eines „guten Anderen“. Psychotherapie findet auch im öffentlichen Raum statt. Andy Warhol charakterisiert zukunftsweisend in seinem berühmten Zitat „Jeder wird in Zukunft 15 Minuten lang weltberühmt sein“ (Warhol et al. 1968) das Leben der Menschen als Leben im öffentlichen Raum- - findet Leben doch seit der Entwicklung der Massenmedien zunehmend (auch) im medialen Raum statt und als gestaltender Teil desselben. Seit Entwicklung von Internet und Sozialen Medien erweitert sich dieser mediale Raum zu einem global öffentlichen Raum, in dem Menschen, Medien und öffentlicher Wirkungsraum eng miteinander verwoben sind. Menschen inszenieren sich selbst in diesem Raum. Sie verhalten sich in Reaktion auf die mediale Inszenierung. Medien nutzen dies, indem sie ständig neue Inszenierungsangebote machen. Digitalisierung liefert hierzu die nötigen Mittel (devices), Tools und Attraktionen. Psychotherapie befasst sich (auch) mit dem hierdurch bedingten Erleben, Spiegelungsprozessen und Charakteristika. Diese werden einerseits durch die KlientInnen in den Therapieprozess eingebracht. Diese beeinflussen andererseits die / den TherapeutIn selbst als Teil des besagten öffentlichen Raums. Psychotherapie ist daher schon seit vielen Jahren unübersehbarer, unverzichtbarer und unvermeidbarer Teil des öffentlichen Raums. Dies findet seinen Ausdruck u. a. im Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung. Dies umfasst auch die Realbeziehung zwischen TherapeutIn und PatientIn und spiegelt sich vor allem aber auch in der Körper-zu-Körper-Beziehung. Psychotherapie entwickelt sich seit einigen Jahren (auch) im Rahmen von globaler Digita- 116 3 | 2023 Ulrich Sollmann lisierung. Einerseits nutzt Psychotherapie zunehmend technologische Entwicklungen, digitale Fortschritte und integriert diese vor dem Hintergrund einer 150 Jahre alten Historie zu transformierten Konzepten und Verfahrensweisen, in der Verstehen, konzeptionelle Gestaltung und operative Handhabung so zur Wirkung kommen können, dass sie den Erfordernissen der aktuellen Entwicklungen Rechnung tragen können. Andererseits pflegt die psychotherapeutische Kunst auch die Wahrung psychotherapeutischer Traditionen. Sie bemüht sich, sich den Bedingungen sowie der hochkomplexen Dynamik der Entwicklungen besagter Digitalisierung nicht zu unterwerfen. Wie sich die Digitalisierung auf die Psyche des Menschen auswirkt, erfordert einerseits einen neuen Blick auf den Menschen, auf seinen psychischen Apparat und auf die jeweils individuelle Aneignung von Gesellschaft. Dies führt andererseits zu der Frage, wie in Zukunft die „Psyche des Homo Digitalis“ (Hepp 2022, Titel) aussehen wird. Diese Entwicklung ist auch ein bedeutsamer Erfahrungsprozess. Ich habe daher in diesem Beitrag bewusst die Form des wissenschaftlichen Essays gewählt, um durch diesen „kommunikativen Akt“ das Thema als Ausdruck eines Geschehens zu spiegeln und fokussiert narrativ weiterzuerzählen („Narration“; Spektrum 2023). Die „Learning History“ als eine Form der Narration erzählt spezifische Aspekte des Prozesses einer eigenen Erfahrung und (selbst-)kritischen Auseinandersetzung. Sinn-konstitutiv und auf eine persuasive Wirkung bedacht geht es bei der Narration sowohl um das anschauliche Nachzeichnen von Ereignissen, Entwicklungen, Gedanken, Verwerfungen, Fragen und Erleben einerseits, und andererseits konstituiert sich gerade durch die Erzählweise eine Beziehung zum Gegenüber, zum / zur LeserIn. Somit berühren sich die sinnliche Erfahrung sowie persönliche Überzeugung des Erzählenden und die diskursive Neugier sowie das Bemühen um eine Wahrheitsfindung des anderen. Die „Learning History“ spiegelt auch notwendigerweise sehr persönliche konflikthafte Herausforderungen und hiermit einhergehende (Selbst-)Zweifel. Hier ein Beispiel: Die Erfahrung, aber auch die Selbstreflexion zum Thema „virtuelle, öffentliche Person und mediale Inszenierung“ begleitet mich intensiv seit 1995. Damals erhielt ich von Der Spiegel den Auftrag, die mediale Inszenierung der Beziehungsdynamik zwischen der Tennisspielerin Steffi Graf und ihrem Vater zu analysieren (Sollmann 1995). Dies nährte in mir das als notwendig empfundene Bedürfnis, den einzelnen Menschen zu sehen, zu verstehen und mit ihm körperpsychotherapeutisch zu arbeiten. Dies ergab gleichzeitig die Notwendigkeit des Bedürfnisses, den Menschen in seiner jeweiligen Lebenswirklichkeit als einen wesentlichen Bestandteil derselben nicht nur mitzudenken, sondern auch die sich hierdurch ergebenden Spannungsfelder als einen unverzichtbaren Bestandteil des therapeutischen Handelns als konstituierende Elemente mit einzubeziehen. Dies erschuf wiederum in mir die notwendige Erkenntnis, dass menschliches Verhalten in der Gesellschaft immer auch Selbstinszenierung, Verkörperung und virtuelles Wirkgeschehen ist. Dies ist aber auch, wie ich selbst mehrfach erfahren musste, ein konfliktreicher, herausfordernder persönlicher Erfahrungsprozess. Digitalisierung, Virtualität und Psychotherapie Digitalisierung zeichnet sich unabdingbar durch die Teilhabe an der technologischen Entwicklung aus. Wenn man bis vor einigen Jahren von einer Informationsgesellschaft gesprochen hatte, sieht man sich jetzt stärker mit dem Fluss von Information konfrontiert. Nicht (nur) die Daten sind relevant, sondern die Datenströme. Im Alltag begegnet einem (Körper-)Psychotherapie im virtuellen Raum 3 | 2023 117 das zurzeit besonders durch die Sozialen Medien. Daten kommen nie zur Ruhe, werden ständig erneuert (Lobo 2022). Die Erfindung der Timeline kann insoweit als bahnbrechend verstanden werden. „Die große Neuerung der digitalen Vernetzung ist (…) die ständige Weiterentwicklung. Durch die Gesetze sowohl der Gesellschaft wie auch des Marktes hat sich aus der Möglichkeit die Pflicht zur Weiterentwicklung ergeben (…) Gesellschaftliche Teilhabe unterhalb eines bestimmten Alters ist heute kaum mehr möglich, ohne sich selbst ständig upzudaten.“ (Lobo 2022) Einschätzung, Wissen, Kommunikation und Handeln sind somit nie fertig. Sich als Psychotherapeut diesen gesellschaftlichen Bedingungen von Digitalisierung und dem hiermit verbundenen dynamischen Prozess zu verweigern, käme nicht nur einer Kränkung gleich. Vielmehr führte dies zu einer kontinuierlichen Verringerung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und dem öffentlichen Raum. Dies hätte wesentliche Auswirkungen auf Psychotherapie insgesamt sowie die gelebte praktische konkrete Psychotherapiebeziehung. Psychotherapie befasst sich mit dem Erleben der Kommunikation und dem konkreten (interaktiven) Verhalten von Menschen im Hier und Jetzt, aber auch auf dem Hintergrund ihrer biographischen Erfahrung. Körperpsychotherapie erweitert diesen therapeutischen Erfahrungs- und Handlungsraum durch den Einbezug der Dimension des körperlichen Erlebens, des körperlichen (Selbst-) Ausdrucks und der Körper-zu-Körper-Kommunikation. Dies schließt die Dynamik der Beschäftigung mit den hiermit verknüpften Erregungsprozessen sowie die Vertiefung von Erleben ein. Relevante Fragen, die im Zusammenhang von Digitalisierung auftauchen, sind dann unter anderem: ● Wie funktioniert Wahrnehmung? ● Wie kommt Gesellschaft und Kultur in den Kopf (Northoff 2015)? ● Wie passen sich die Sinne an die dynamische Entwicklung von Welt an, in diesem Fall von digitaler Welt und (Medien-)Öffentlichkeit? ● Wie wirkt sich z. B. der Einfluss von Virtual- Reality-Brillen psychologisch sowie sensomotorisch auf die Propriozeption, auf das Sein im Raum aus? ● Wie wirken andere digitale Devices (z. B. Smartphone, Joystick, Photoshop u. a.) auf die Struktur und Funktion des Erlebens der Sensomotorik? ● Wie entstehen „neue“ diesbezügliche Störungsbilder (Hepp 2022)? ● Welche Rolle werden in Zukunft KI (künstliche Intelligenz), Gesichts- und Bewegungserkennung sowie ChatGPT usw. spielen? Psychotherapie ist auch als ein virtuelles Geschehen zu verstehen. Virtuelle Welten sind computergestützte, computersimulierte parallel wirkende Erfahrungsräume. In diesen vermischen sich Realerfahrung, Fiktion, Digitales zu einer unendlichen Vielzahl von Paralleluniversen (Turkle 1999). Jeder kann alles sein, was er will, bzw. vorgeben zu sein, ohne dass jemand das bemerken kann. Anonymität, die Unendlichkeit der Möglichkeiten und die digitalen Gestaltungsmittel bieten einen ungeahnt attraktiven Freiraum für Selbsterfahrung, die Gefahr der „Zeitverschwendung mit Suchtcharakter“ oder aber eine rastlose Suche nach dem eigenen Selbst in einer ortlosen Welt. Avatare als künstliche Person oder virtuelle, digitale Stellvertreter einer echten Person (Duden 2023) gewinnen zunehmend an Attraktivität bei den Usern. Zuckerbergs Metaverse schafft einen virtuellen Raum, der, man könnte fast sagen, eine digitale Schnittstelle ist zwischen analoger und virtueller Welt (Neumayer 2010). Ein weiteres konkretes Beispiel für eine solche Schnittstelle könnte „Kissenger“ sein. So hat eine chinesische Universität vor einigen Jahren eine App für die Küsse in Fernbeziehungen entwickelt (Carman 2016). Diese App mag skurril 118 3 | 2023 Ulrich Sollmann wirken. Und doch zeigt die Welt der digitalen Industrie inzwischen Möglichkeiten, sogar einen Roboter zu heiraten (Leutronics 2022). Wie wird Psychotherapie in Zukunft eine solche virtuelle Cyborg-Beziehung beraten oder gar therapieren? Was für eine fundamentale Herausforderung wird dies gar für die Arbeit mit dem Körper darstellen? Ist die sexuelle Anziehung durch einen Roboter „normal“? Heißt es heute nicht mehr nur, ob, sondern wie kann ein Roboter Einsamkeit ersetzen? Die virtuell erschaffenen, angebotenen „Bilder und Räume“ sind oft reicher und faszinierender als das wirkliche Leben. Diese entbehren sowohl der sinnlichen Erfahrung als auch der (analogen) emotionalen Begegnung mit einem konkreten, anfassbaren Gegenüber. Und so spricht man bereits in den 1990ern vom übersättigten Selbst (Gergen 1996), das der medial inszenierten Einladung zur Zusammenhanglosigkeit erliegt. Die Zukunft wird zeigen, wie die Menschen (weiterhin? wieder? ) in der Lage sein werden, neue „Stammesgemeinschaften“ zu erschaffen (McLuhan / Fiore 2011). McLuhan und Fiore beschrieben schon sehr früh, dass der Mensch doch nach der Individualität und Trennung, bedingt durch die technologische Entwicklung, zu einer neuen kollektiven Stammesgemeinschaft kommen wird. Wie aber wird der Cyberspace sich von einem zurzeit noch als „ortlose Welt“ zu charakterisierenden Erfahrungsraum hin zu einem „globalen Dorf“ (McLuhan 2007) entwickeln? Psychotherapie ist Teil dieses Geschehens und wird sich fragen müssen, wie ein solcher Prozess zu verstehen und zu begleiten sein wird- - ein Prozess, der insbesondere Körperpsychotherapie im Wesen paradigmatisch erschüttern und fordern wird. Der VR-Handschuh kann exemplarisch ein Device bzw. Erfahrungsraum sein, in dem Mensch, Maschine und Virtualität zerfließen (Hilbert 2019). VR-Handschuhe simulieren über Vibrationstechnik oder Luftpolster ein haptisches Berührungserlebnis. Auf diese Weise wird es möglich, mit der gesamten Handfläche nicht nur Größe und Gewicht, sondern auch Temperatur, Oberflächenbeschaffenheit und Material von virtuellen Gegenständen oder auch Menschen nachzuahmen. Um die gefühlten Berührungen auf der Handfläche zu realisieren, drücken bis zu 130 kreisförmig angeordnete, aufblasbare Luft-Röhrchen auf die Handflächen und verschieben diese so, wie es bei realer Berührung geschieht. Das Spektrum reicht vom leichten Kribbeln bis hin zu einer über die Hand rollenden Murmel. Ich habe selbst dies erstmalig 1995 bei einer Zukunftskonferenz in Kassel erleben können und war erstaunt über die faktische, aber auch über die emotionale Berührungsqualität. Nicht nur das-- konnte ich doch qua Internet bereits damals Berührung virtuell mit einem nicht anwesenden Gegenüber erleben und austauschen. Die Verschmelzung von physischer, analoger und digitaler Welt gleicht einem Evolutionsprozess, dem man sich, global gesehen, nicht mehr entziehen kann. Wenn z. B. „Second Life“ Anfang der 2000er Jahre (Second Life 2023) noch wie ein seltsames digitales Experiment für Nerds aussah, wird Zuckerbergs sogenanntes Metaverse schon jetzt als bahnbrechend und zukunftsweisend virtuelles Ökosystem angepriesen (Rixecker 2022). Kritiker sehen die Gefahr, dass sich die jetzt noch von vielen als Privilegierung des Globalen gepriesene Virtualität auf Kosten des konkret-nachbarschaftlich Lokalen entwickeln wird (Bundeskunsthalle 2022; Schwab 2022). Entwicklung von psychotherapeutischer Kompetenz im virtuellen Raum Psychotherapie ist meines Erachtens (noch) nicht hinreichend mit dem (Selbst-)Verstehen und dem diesbezüglichen spezifischen Handeln in Bezug auf virtuelle Räume vertraut. Dies verwundert nicht, da die Einflüsse, gerade der Digitalisierung, erst sukzessive in (Körper-)Psychotherapie im virtuellen Raum 3 | 2023 119 den Raum der Aufmerksamkeit und Erfahrung von psychotherapeutischen KollegInnen gerückt sind. Wer kommuniziert in der psychotherapeutischen Community inzwischen wie digital? Woran könnte man als Außenstehender digitale Kompetenz im Bereich Psychotherapie erkennen? Wer hat sich schon, und wenn ja, seit wann, mit Virtualität, Cyberspace, Avatar, Cyborg, Metaverse befasst? Wer ist wie und mit welcher Intention in den Sozialen Medien präsent? Oder warum nicht? Welche Präsenz auf welcher Plattform ist mit welcher Intention ausgewählt? Wer glaubt noch, dass es der letzte Schrei ist, auf einer Internet-Plattform präsent zu sein (wo man sich bereits in anderen Ländern in virtuellen Ökosystemen tummelt (Koch et al. 2021))? Welches sind die persönlichen und professionellen Erfahrungen mit Virtualität? Wer erlebt sich im Therapiegeschehen mit solchen Bezügen und Erfahrungen auf Seiten der KlientInnen konfrontiert? (Körper-)Psychotherapie steht besonders und konkret spätestens seit der Corona-Krise diesen gesellschaftlichen Entwicklungen gegenüber, da seitdem psychotherapeutische Behandlungen, Weiterbildungen und kollegialer Austausch zu einem hohen Maße virtuell stattfinden. Man fragt sich, ob, und wenn ja, wie körperpsychotherapeutische Behandlung auch online durch Zuhilfenahme von Kamera, Mikrofon und Computer erfolgreich durchgeführt werden kann. Es werden digitale Tools entwickelt, die inzwischen auch Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind. Und doch sieht Keupp eine soziale Amnesie im Bereich Psychotherapie (Keupp 2017). Daher sei es unbedingt erforderlich, dass Psychotherapie einerseits die eigene Rolle und Funktion im gesellschaftlichen Kontext selbstkritisch reflektiert und neu bestimmt. Andererseits sollte diese kollegiale und professionelle Ortsbestimmung sich nicht nur mit der Entwicklung digitaler Tools begnügen. Körperpsychotherapie ist gerade hier gefordert und indiziert. Stattdessen geht es darum zu untersuchen, wie sich Digitalisierung und Virtualität als gesellschaftliche Ausdrucksformen von Erleben verhalten, die Lebensbereiche durchdringen und somit eine bestimmende Wirkung auf die menschliche Psyche haben. Diese Betrachtung umfasst auch die Kompetenz, sich im virtuellen Raum zu erleben, sich zu bewegen und selbstwirksam seine Bedürfnisse befriedigen zu können sowie persönliches psychisches Leid zu überwinden, um hierdurch, humanistischen Werten gegenüber verpflichtet, Einfluss zu nehmen auf die McLuhan’sche virtuelle Stammesgesellschaft. Die Diskussion um z. B. künstliche Intelligenz (KI) scheidet zurzeit die Gemüter. Einerseits gibt es die eher kulturpessimistisch Argumentierenden, die gleich zu Anfang der Entwicklung auf zu befürchtende Gefahren verweisen. Dies ist historisch gesehen bei technologischen Entwicklungen immer wieder der Fall gewesen. Andererseits gibt es die neugierigen Pioniere und Entwickler. Ich denke dabei auch an einige Initiativen, KollegInnen und Pioniere, die bereits ihre persönliche und professionelle (Selbst-) Wirksamkeit interessiert, engagiert und zunehmend fachkundig entwickeln, indem sie sich mit den Instrumenten der technologischen Entwicklung vertraut machen sowie sich persönlich und fachlich in der neuen Art und Weise, digital zu kommunizieren oder digitale Beziehungen einzugehen, üben. Darüber hinaus beginnen sie, Psychotherapie als Teil von gesellschaftlicher und digitaler Entwicklung nicht nur zu verstehen, sondern Psychotherapie diesbezüglich paradigmatisch neu zu denken. So gesehen tauchen essentielle Fragen auf, die zunehmend auf den Prüfstand der operativen, konzeptionellen, aber auch der ethischen Betrachtung gestellt werden. Hierzu zählt auch das (Mit-)Wirken und (Co-)Agieren im virtuellen Raum im Bereich der virtuellen Inszenierung. So fragt man sich, was man unter einer virtuellen Person verstehen könnte, wie emotionaler Ausdruck in einer virtuellen 120 3 | 2023 Ulrich Sollmann Welt gelingen kann, erlebbar und für die jeweils Beteiligten auch sichtbar und verstehbar wird. Dies kommt einem bedeutsamen, unvermeidbaren wünschenswerten und notwendigen globalen Experiment gleich, sich nämlich selbst professionell auf das Wagnis des virtuellen Erlebens (im Sinne einer Learning History (Roth / Kleiner 1997)) einzulassen. (Selbst-)Wirksamkeit von Psychotherapie im virtuellen Raum gelingt umso besser, als psychotherapeutische Konzepte, Verstehensmodelle und Handlungsmuster nicht nur hierzu genutzt, sondern auch paradigmatisch an die neue Situation anpasst werden. Schließlich ist Psychotherapie bemüht, basierend auf einem humanistischen Menschenbild, Fürsprecher oder Mentor für „den Menschen“ (in Zukunft auch in Bezug auf virtuelle Welten) zu sein. Körperpsychotherapie kann hierdurch auch als kompetenter gesellschaftlicher Partner bezüglich des Verstehens und der Beeinflussung der Mensch-Maschine-Beziehung wahrgenommen werden. Psychotherapie, wenn sie denn in dieser Hinsicht sichtbar und wahrnehmbar wird, kann eine bedeutungsvolle gesellschaftspolitische Funktion wahrnehmen (Sollmann 1999; Sollmann / Mayer 2021, siehe auch weitere Publikationen aus dem Bereich Psychobiographie). Algorithmen machen es jedoch schwer, eine solche Position zu leben. Sie entscheiden inzwischen schon in und über weite Bereiche des sozialen Lebens, somit auch über das Erleben der Menschen, die Kommunikations- und Beziehungsgestaltung. Nicht nur das, sie steuern unser Entscheidungsverhalten sowie den (erlebnismäßigen) Blick auf die Welt und die Orientierung in einer global vernetzten, dynamischen Welt (Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung 2020; Kendal 2021). Bezogen auf die Entwicklung von KI und deren (möglichem) Einsatz im Bereich der Psychotherapie verweise ich auf eine aktuelle hochinteressante Arbeit aus dem Bereich der Körperpsychotherapie (Durt et al. 2023). Die Kollegen Durt et al. verdeutlichen die bedeutsame Unterscheidung von bewussten, in Worte gebrachten Aspekten einerseits und vorbewussten, d. h. körperlich und erlebnismäßig begründeten Aspekten andererseits. Letztere können nie durch KI erfasst oder abgebildet werden. Das Private-- das Öffentliche-- das Virtuelle Privatheit und Öffentlichkeit unterliegen historisch gesehen einem steten Wandel. Auf die heutige Zeit bezogen kann man sich nicht mehr auf eine (gesicherte) geschützte Privatheit zurückziehen. Die Fiktionen von McLuhans und Fiores „The Medium Is the Massage“ (2011) und Orwells „Big Brother Is Watching You“ (2009) wandeln sich zur allgegenwärtigen, prägenden Lebenswirklichkeit. Niemand kann sich dem entziehen. Gleichzeitig gieren Menschen nach Öffentlichkeit (ganz im Sinne von Andy Warhol) durch eine dauerhafte, schier grenzenlose Selbst-Offenbarung (self-disclosure) im (verzweifelten) Bemühen, gerade hierdurch überhaupt erst wahrgenommen zu werden. Selfies und der allseits bekannte, beliebte Like-Button mögen als Beispiele dienen. In Anlehnung an Jung und Müller-Doohm kann gesagt werden, dass der Mensch sich in der Virtualität vom Subjekt zum öffentlichen, virtuellen Subjekt wandelt. Insoweit macht er sich auch zum Kommunikationsobjekt. Er offenbart sich selbst, damit er den Erwartungen der Mediengesellschaft Rechnung trägt (Jung / Müller-Doohm 1998) So wahrgenommen zu werden, scheint diesen Menschen das Gefühl zu geben, in der endlos offen wirkenden globalen Welt (Virtualität) überhaupt zu existieren. Die Ausweitung seiner selbst im virtuellen Spiegel trägt dabei, wie bereits Baltes et al. (1997) betonten, Züge der narzisstischen Faszination in das eigene Spiegelbild. Man könnte daher vermuten, dass der Mensch, verliebt in die digitalen Medien, (Körper-)Psychotherapie im virtuellen Raum 3 | 2023 121 Gefahr läuft, seine narzisstischen Bestrebungen wie eine Narkose zu erleben Die Wahrnehmung des eigenen Bildes in der virtuellen Welt (z. B. der sozialen Medien) und beispielsweise. die Anzahl der Likes erfüllen den Menschen dann mit der Hoffnung auf das mögliche Gelingen einer sinnlich erfahrbaren Mensch-zu-Mensch-Begegnung in einer gelingenden emotionalen Beziehung. Die Flüchtigkeit dieses Vorgangs scheint aber das (unbewusste) Erleben von Einsamkeit als fraktales Subjekt (Baudrillard 1989) zu verstärken. Nicht nur das: Auf dem Weg, sich selbst (auch in Bezug auf den Anderen) zu finden, besteht die Gefahr, das zu verlieren, was man bereits ist (Feild 1997). Dies Wirkgeschehen meint die mediale Inszenierung, den gesellschaftlichen als Öffentlichkeitsraum und die Selbstoffenbarung als Öffentlichkeit im Beziehungsgeschehen (u. a. Sollmann 2001). Psychotherapie ist (auch) politisches Handeln Die gnadenlose Unmittelbarkeit des Ereignisses vom 11. September 2001 ließ die Menschen weltweit ins Bodenlose ihrer Affekte stürzen. Viele spürten kein Sicherheitsgefühl mehr in der eigenen Identität. Stattdessen entstand durch die weltweit gleichzeitig gezeigten Fernsehbilder zum ersten Mal in der Geschichte ein globaler Affekt in virtueller Echtzeit. Das Ereignis hat die Menschen noch heute im Griff und wirbelt Information und Affekte durcheinander. Der Mensch ist wie paralysiert und gefangen von der Flut der (Fernseh-)- Bilder und wird zur „Sehmaschine“ (Virilio 1989). Es kann nicht mehr ausgemacht werden, was echt und simuliert ist. Dieses Geschehen führt qua medialer Inszenierung im virtuellen Raum zu einer selbstregulierten, sich selbst verstärkenden und die Menschen weltweit beeinflussenden Dynamik. Mensch, Maschine und Medien vereinen sich zu einer neuen Wirklichkeit, die zu einer Überlappung / Überschneidung oder gar Vermischung von analoger und virtueller Wirklichkeit führt. Epilog Beeinflusst Gesellschaft die Psychotherapie und auch umgekehrt? Eine fast schon rhetorisch anmutende Frage. Es war nie anders, blickt man genau auf die Historie von Psychotherapie. Psychotherapie hat gerade in der heutigen Zeit die Aufgabe, dem Menschen in einer zunehmend ortlos wirkenden Welt verstehend zu begegnen, ihm ein anfassbares Gegenüber zu sein. Gerade Körperpsychotherapie besitzt das psychologische und praktische Knowhow, dem Leben auch als „lebendiges Leben“ (Lowen) wieder eine neue Aktualität zu verleihen. Und Psychotherapie bietet die Chance, (rationales) Wissen durch sinnlich erfahrbares Wissen zu bereichern. Psychotherapie hat daher einen unausgesprochen impliziten Auftrag, nämlich gesellschaftliche Vorgänge verstehend zu beschreiben. Gleichzeitig gestaltet Psychotherapie, insbesondere Körperpsychotherapie, diese Vorgänge selbst mit. Viele Pioniere der Psychotherapie legen ein diesbezüglich überzeugendes und ermutigendes Zeugnis ab. Ich denke dabei u. a. an Wilhelm Reich (1933) und Hans-Jürgen Wirth (2022), um nur einige zu nennen. Psychotherapie im, als und in Bezug auf den virtuellen Raum kann nicht ohne die Entwicklung von Medien, medialer Inszenierung sowie der technologischen Entwicklung derselben und des Zusammenspiels von Digitalisierung und Globalisierung gedacht werden. Dies Geschehen beeinflusst die Wahrnehmung des Menschen, somit sein Erleben, sein (Beziehungs-)Verhalten und sein Verhältnis zum Körper. Nicht nur das, es prägt seine Beziehung zur Welt. War Warhol Hellseher, Science-Fiction-Protagonist, Apologet oder Wegbereiter für eine 122 3 | 2023 Ulrich Sollmann solche Entwicklung? Wie man die Dinge auch bewerten möchte, in seinem Zitat stecken bereits wesentliche Elemente der Entwicklung hin zu einer wachsenden, die Lebenswirklichkeit prägenden Virtualität, die das menschliche Grundbedürfnis nach Wahrgenommen- Werden und Resonanz zu einer Droge wandelt (Franck 1998; Postman 2008). Warhol konnte nicht die gesellschaftlichen Bewegungen, Ereignisse und Disruptionen vorhersehen. Stattdessen lag ihm daran, den Menschen in einer hypostasierten, virtuellen Welt zu verorten. Diese ist einerseits nicht unwesentlich durch medial inszenierte Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Andererseits verflüchtigt sich eine solche Berühmtheit zunehmend durch neue Aufmerksamkeitsreize. Die Suche nach einem solchen Ruhm, die diesbezügliche Sucht vieler Menschen und die kolportierende gesellschaftliche Verführung bilden eine Lebenswirklichkeit, die, einer Gefahr gleich, dem Menschen das Gespür für die eigenen emotionalen, erlebbaren, sinnlich erfahrbaren, psychischen Wurzeln rauben kann. Diese Suche eröffnet aber auch Zugänge zu bisher (noch) nicht gedachten und vorstellbaren Zukunftsperspektiven und Möglichkeiten. KI und z. B. Chat-GPT haben bereits die Tür zur Zukunft der Ununterscheidbarkeit von analoger und virtueller Zukunft geöffnet. Tab. 1: Psychologische Implikationen von medialer Inszenierung und Virtualität Zeit Ereignis Gesellschaftliche Bedeutung Psychologische Wirkung Wahrnehmung von Virtualität 1967 Andy Warhol „Jeder wird in Zukunft 15 Minuten lang berühmt sein.“ Psychedelische Erfahrung, Peak Experience Sehnsucht nach virtueller Öffentlichkeit 1968 Studentenbewegung u. a. Kampf gegen Establishment und Meinungsmonopol (Springerverlag) Gesellschaftlicher Aufbruch und Studentenbewegung in der westlichen Welt Gesellschaftspolitische Kritik an Medien 1972 „Napalm- Mädchen“ Eine der bekanntesten medialen Ikonen der Neuzeit Symbolische Gravur in das historische Gedächtnis Ikonografische mediale Inszenierung Mitte der 1980er Jahre Vielfalt der TV-Sender Start der kommerziellen TV-Sender Illusion von Verfügbarkeit durch Konsumenten (mittels Fernbedienung) Eigene Wirkmächtigkeit bezüglich Medienkonsum 1985 Infotainment Politik, Kultur usw. wird zur emotionalisierten Unterhaltung Ununterscheidbare Verwobenheit von Information und Unterhaltung Lust auf mediale Inszenierung Anfang der 1990er Jahre Mode als Markenbotschafter Käufer tragen gerne Markenkleidung mit sichtbarem Logo (Selbst-)Identifikation als Werbeträger Illusion von Selbstwert in der Öffentlichkeit 1991 Tod von Lady Di Beerdigung wird von 2,5 Milliarden Menschen über TV erlebt Erstmalig globaler Affekt Emotion als ein Charakteristikum von Globalisierung (Körper-)Psychotherapie im virtuellen Raum 3 | 2023 123 Zeit Ereignis Gesellschaftliche Bedeutung Psychologische Wirkung Wahrnehmung von Virtualität 1991-2001 z. B. Krieg in Jugoslawien (auch Irak, Kuwait usw.) Ungeheuerliche, völlig überraschende Brutalität mitten in Europa Massaker, Vergewaltigung sogar von Säuglingen u. a. Konsument ist medial embedded / Als-ob-Teilnahme am Kriegsgeschehen Seit Anfang der 1990er Jahre Verstärkt Selbstmordattentate Der eigene Körper, nicht die Bombe, ist die Bombe Verlust des eigenen Körper-, Identitätsgefühls Der Mensch im ortlosen Raum 1993 „Absprache“ der Medien über die Bedeutung der Person Jede Story beginnt ab jetzt mit: konkrete Person, Ort, Zeit u. Ereignis Personalisierung von Öffentlichkeit Mediale Verführung durch Storytelling 1995 Millennium- Kongresse Millennium-Kongresse zur Jahrtausendwende (z. B. Kassel) Performance von Cyberspace (z. B. durch Laurie Anderson) durch Bezugnahme auf Technologie als einer „organischen“ Erweiterung von Stimme, Körper und Raum / Entgrenzung von Wahrnehmung Vermischung von Grenze zwischen Mensch und Maschine, von analog und digital usw. Mitte der 1990er Jahre Personifizierung in der Politik „Aufstieg“ populistischer Strömungen Backlash auf die Globalisierung Identifizierung als Illusion von „Rettung“ in einer globalen (unpersönlichen) Welt 1999 Emoji Emotionale Piktogramme Entwicklung einer durch Emotion geprägten „neuen“ Sprache Emotionale Gehversuche im Cyberspace 1999 Projekt: Erregung und Information (Rowohlt- Verlag) Publikationsprojekt zur Jahrtausendwende Medien / mediale Inszenierung wandeln sich zu „Erregungsmaschinen“ Erregung und Information als zukunftsleitende Cyber-Allianz 11.09.2001 Einsturz der Twin-Tower Entwicklung von global tätigem Terrorismus Globaler Affekt in Echtzeit (erstmalig) Erfahrung von emotionaler Gleichzeitigkeit in der Welt/ Ununterscheidbarkeit sowie unvermeidbare Verbundenheit als Wesensmerkmal von (virtueller) Öffentlichkeit 124 3 | 2023 Ulrich Sollmann Zeit Ereignis Gesellschaftliche Bedeutung Psychologische Wirkung Wahrnehmung von Virtualität Spätestens seit Anfang 2000 Virtuelle Person Leben und Identität im Netz Selbstbestimmung im Erleben und Handeln durch „Ich bin viele“ Persönlichkeit als verführerisches, geheimnisvolles Selbst-Experiment Anfang 2000 Open Source in der Wissenschaft Globale Verfügbarkeit von „freier Software“ u. a. Selbst-Wirksamkeit/ Wirkmächtigkeit von Wissenschaft im medialen Raum Öffentliche Verfügbarkeit von Wissenschaft für Jedermann Spätestens seit Jahrtausendwende Internet Jeder kann stets überall sein Allmachtsgefühl in Bezug auf Raum und Zeit Ich bin mein eigener Algorithmus 2002 Selfie Fotografisches Selbstportrait mit der Funktion der Selbst-Präsentation im virtuellen Raum Hedonistische Selbstreferenz als Teil virtueller Kommunikation Selbst-Referenz als „medialer Aufschrei“ in einer unfassbaren Welt 2008 Wirtschafts- und Finanzkrise z. B. Psychotherapeuten beschäftigen sich aktiv mit der Wirtschaftskrise (auch publizistisch) Ungeschminktes Erleben von Ausgeliefertsein und Ohnmacht der Menschen gegenüber einer globalen Krise Rolle und Funktion von Psychotherapie als Überwindung von sozialer Amnesie 2020 Pandemie (globale, zeitgleiche, essentielle Verunsicherung) „Viruscocktail“ aus Corona, Angst u. medialer Inszenierung Zeitgleiche eruptive, disruptive, globale Erschütterung in allen Lebensbereichen „Infektion“ als bestimmendes Charakteristikum von gesellschaftlicher Zukunft Ab ca. 2020 (Weiter-)Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI / AI) Maschinen lernen selbst und werden intelligenter Beginnende Symbiose von analoger KI und Psychologie Ununterscheidbarkeit von analoger und virtueller Wirklichkeit 2022 Ukraine-Krieg (Zeitenwende) Die Rede des deutschen Bundeskanzlers (Scholz) zum Thema Zeitenwende (ein Bsp. von vielen) Politisches Erdbeben von bisherigen politischen Überzeugungen / Strategien Der global prägende Neoliberalismus wird abgelöst durch eine Zeit (der Notwendigkeit) von Mangel, Verfügbarkeit, Verzicht und globaler Demut (Körper-)Psychotherapie im virtuellen Raum 3 | 2023 125 Literatur Baltes, M., Böhler, F., Höltschl, R., Reuß, J. 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