eJournals körper tanz bewegung 11/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Fachbeitrag: Bindung vor Trauma

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2023
Cornelia Reichlin
Babys und Kleinkinder kommunizieren mittels Ausdrucks-, Bewegungs- und Verhaltensmuster über ihre früh erlebten Herausforderungen. Der Artikel beleuchtet, dass prä-, peri- und postnatal belastende Erfahrungen für ein Kind prägend sein und sich über das Kleinkindalter hinaus festsetzen können. Die Kinder können ein Verhalten oder Ausdrucksprozesse zeigen, welche die Eltern nicht verstehen und verunsichern. In der bindungsorientierten und traumaintegrativen Körperpsychotherapie wird gemeinsam mit den Eltern bindungsaufbauend gearbeitet. So werden sichere Voraussetzungen geschaffen, damit das Kind körperpsychotherapeutisch unterstützt seine traumabasierten Belastungen im Kontakt mit den Eltern integrieren kann.
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Fachbeitrag 138 körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 138-150 (2023) DOI 10.2378/ ktb2023.art20d © Ernst Reinhardt Verlag Bindung vor Trauma Bindungsorientierte und traumaintegrative Körperpsychotherapie mit Babys und Kleinkindern Cornelia Reichlin Babys und Kleinkinder kommunizieren mittels Ausdrucks-, Bewegungs- und Verhaltensmuster über ihre früh erlebten Herausforderungen. Der Artikel beleuchtet, dass prä-, peri- und postnatal belastende Erfahrungen für ein Kind prägend sein und sich über das Kleinkindalter hinaus festsetzen können. Die Kinder können ein Verhalten oder Ausdrucksprozesse zeigen, welche die Eltern nicht verstehen und verunsichern. In der bindungsorientierten und traumaintegrativen Körperpsychotherapie wird gemeinsam mit den Eltern bindungsaufbauend gearbeitet. So werden sichere Voraussetzungen geschaffen, damit das Kind körperpsychotherapeutisch unterstützt seine traumabasierten Belastungen im Kontakt mit den Eltern integrieren kann. Schlüsselbegriffe Eltern-Baby-Therapie, Baby-Therapie, Bindung, Trauma, Baby, Kleinkind, Emotionelle Erste Hilfe, bindungsorientierte Körperpsychotherapie, prä- und perinatale Psychologie Attachment before Trauma. Attachment-Oriented and Trauma-Integrative Body Psychotherapy with Babies and Toddlers Babies and toddlers communicate through patterns of expression, movement, and behavior, reflecting the challenges they have experienced in their early lives. This article highlights that prenatal, perinatal, and postnatal stressful experiences can have a lasting impact on a child, extending beyond the toddler years. These children can exhibit behavior or expression that parents may not understand and find unsettling. In attachment-oriented and trauma-integrative body psychotherapy, the focus is on building attachment in collaboration with the parents. This approach creates secure conditions for the child, allowing it to integrate its trauma-related burdens through body-psychotherapeutic support while in contact with their parents. Key words parent-baby therapy, baby-therapy, attachment, trauma, infant, toddler, emotional first-aid, attachment-oriented body psychotherapy, prenatal and perinatal psychology I n meiner Arbeit begleite ich Eltern, die entweder rund um Schwangerschaft, Geburt oder in der ersten Lebenszeit mit dem Kind Belastendes erlebt haben, das noch Integration braucht, oder Eltern, die im täglichen Zusammensein mit dem Kind Belastung erleben und so immer wieder an ihre körperlichen und vor allem emotionalen Grenzen stoßen. Eltern suchen Hilfe und Unterstützung, weil ihre Kinder ein Verhalten oder Ausdrucksprozesse zei- Körperpsychotherapie mit Babys und Kleinkindern 139 4 | 2023 gen, welche sie nicht zuordnen und begleiten können, oder weil sie sich selbst in der Herausforderung im Zusammensein mit dem Kind nicht mehr verstehen. Zugleich unterstütze ich Babys und Kleinkinder nach schwierigen Erfahrungen körper- und prozessorientiert dabei, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Geschehen rund um Schwangerschaft und Geburt oder auch in den ersten Lebensjahren einschneidende Ereignisse, sind die Eltern gefordert, mit den daraus entstehenden Gefühlen umzugehen. Manchmal betreffen diese belasteten Momente Eltern und Kind gleichermaßen, und die Betroffenheit ist offen im Raum zu spüren. Manchmal sind die Kinder in Kontakt mit überwältigenden Erlebnissen und die Eltern nicht in Resonanz mit dem Geschehen. Dann brauchen Eltern Unterstützung, um in Kontakt mit der Geschichte des Kindes zu kommen. Denn die Gründe, warum sich ein Kind anders verhält als die Eltern es sich vorgestellt oder erwartet haben, können vielfältig sein. Die Frage nach diesem „Warum? “ beschäftigt Eltern in Krisensituationen sehr. Um aus einer belasteten Familiensituation mit einem dauerhaft angespannten, gefühlsintensiven oder traumatisierten Kind herauszukommen, bedarf es in erster Linie weniger einer Antwort auf diese Frage als vielmehr eines Lernens, als Eltern im Hier und Jetzt für das Kind da zu sein, ihm zuzuhören, ihm Halt zu geben, zu verstehen, was es im Moment erlebt, wenn es seine Gefühle zum Ausdruck bringt, und es darin zu begleiten. Diese Qualitäten gehen mit der Fähigkeit einher, in Verbindung mit sich und mit dem Gegenüber zu sein. Deshalb ist es in der bindungsorientierten Körperpsychotherapie ein primäres Ziel, Eltern zu unterstützen, einen Ausweg aus dem Kreislauf von Angst, Überspannung und Bindungslosigkeit zu finden, welcher möglicherweise auf eigener Stressbelastung, Traumatisierungen oder Trauma-Reaktivierungen gründet, sodass sie ihr Kind in der Verarbeitung und Integration seiner schwierigen Erlebnisse empathisch begleiten können. Grundlagen und Paradigmen der prä- und perinatalen Psychologie Die amerikanische Professorin für prä- und perinatale Psychologie Wendy Anne McCarty beschreibt in ihrem integrativen Modell, dass in der primären Entwicklungsphase des Menschen, von der Zeugung bis zum Ende des ersten Lebensjahres, eine Basis an lebenswichtigen Grundlagen gelegt wird: körperlich, emotional, mental, seelisch und auf der Beziehungsebene (McCarty 2013). Die während dieser Zeit gemachten Erfahrungen können prägend sein für unsere Empfindungen, Glaubensmuster und unser gesamtes Welt- und Selbstverhältnis. Die menschliche Entwicklung beginnt vorgeburtlich und setzt sich postnatal fort. Babys sind selbst in der frühen primären Phase bewusst, sie bringen ein Bewusstsein mit auf diese Welt, nehmen wahr und haben ein Selbstgefühl (McCarty 2013). Das menschliche Wesen entsteht von Anfang an durch Beziehungen, menschliche Bindungen, und das Umfeld beeinflusst Qualität und Struktur eines jeden Entwicklungsschrittes des Babys. Das Verlangen nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Liebe und Nahrung, das Gewolltwerden, Wertgeschätztwerden und als Selbst gesehen zu werden sind Grundbedürfnisse, die von Anfang an existieren. Werden diese Bedürfnisse erfüllt, wirkt sich das positiv auf die Entwicklung des Kindes aus (McCarty 2013). Die prä- und perinatale Psychologie (Emerson 2012; Terry 2014; Renggli 2013; Schindler 2011), die Körperpsychotherapie (Reich / Zornanszky 1993; Harms 2008; Boadella 1991) und die Traumatherapie (Levine 2011; Heller / Lapierre 2014; Schmidt 2008) beschreiben, dass unverarbeitete Traumen, Verletzungen, Konflikte und Ängste schon in der Zeit der Schwangerschaft unsere Lebensqualität negativ beeinflussen und dass die Geburt als erster prägender Übergang zu verstehen ist, der für die weitere Entwicklung bedeutsam sein kann. 140 Cornelia Reichlin 4 | 2023 In der bindungsorientierten Körperpsychotherapie, einem von Thomas Harms entwickelten Ansatz, der zum Ziel hat, die inneren Wachstumspotenziale und Lebenskräfte zu wecken, um tragende Bindungs- und Selbstbeziehungen zu ermöglichen, verstehen wir das Kind und sein Verhalten auf Basis folgender Grundlagen und grundlegenden Denkweisen, welche sich aus den Erkenntnissen der prä- und perinatalen Psychologie, der Körperpsychotherapie und der Bindungsforschung ableiten lassen (Harms 2008): ● Das un- und neugeborene Baby ist von Anfang an ein hoch sensitives, kommunizierendes, bewusstes Lebenssystem. Es hat ein implizites Gedächtnis und reagiert auf die Qualität seines Umfeldes. ● Das Baby braucht ein stabiles, kontinuierliches und haltefähiges Beziehungsfeld, damit es sich erlauben kann, sich auf sich selbst zu beziehen und sich gegenüber der Welt auszudehnen. ● Die physische Kontraktion und der emotionale Rückzug eines un- oder neugeborenen Babys ist die Antwort auf eine überwältigende Erfahrung oder auf ein ablehnendes oder zeitweise nicht verfügbares Beziehungsfeld. In der Praxis sehen wir Kinder, die überspannt sind, untröstlich weinen oder sich zurückgezogen haben und nicht in Kontakt gehen, Kinder, die sich nicht entwickeln, hyperaktiv sind, ein Verhalten zeigen, das schwer einzuordnen ist. Medizinisch gesund zeigen die Kinder eine hohe Belastung, und wir dürfen uns fragen, was das Kind erlebt hat, dass es sich so verhält, auf eine bestimmte Art ausdrückt, sich bestimmte Bewegungsmuster angeeignet hat. Bindungsorientierte und traumaintegrative Körperpsychotherapie Eine sichere und tragende Bindung zwischen Eltern und Baby ist eine der größten Ressourcen, die wir in der Trauma-Aufarbeitung zur Verfügung haben. In der bindungsorientierten Eltern-Baby-Arbeit verfolgen wir einen zweiseitigen Ansatz. Elternarbeit und babytherapeutische Arbeit sind unmittelbar miteinander verwoben, und innerhalb des Therapieprozesses wechseln wir den Fokus ständig zwischen Eltern und Baby (Harms 2008). Gleichzeitig wird immer wieder differenziert, wann wir bindungsstärkend im Hier und Jetzt arbeiten oder wann wir die Belastungsprozesse gesichert eröffnen. In der bindungsorientierten Arbeit wird die Bindungs- und Kontaktsicherheit gestärkt. Der Fokus liegt auf der aktuellen Belastung, auf dem Leidensdruck im Hier und Jetzt. Wo gibt es Bindungsabbrüche, Irritationen, Kontaktschwächung im Zusammensein mit dem Kind? Durch bindungsaufbauende Angebote, wie haltgebende Berührungen, Atemarbeit, Visualisierungen, Kontaktaufbau mit dem Kind, Ressourcenstärkung, wird Sicherheit und Stabilität erzielt. Eltern werden unterstützt, sich selbst in der belastenden Situation besser zu verstehen und die Verbindung zum dazugehörigen Körpererleben zu knüpfen, um dadurch ihre Wahrnehmungs- und Selbstanbindungsfähigkeit zu stärken. Bindung findet im Moment statt und entsteht durch Innehalten, Gewahrsein und Präsenz. Die ganze Summe der Erfahrungen von Eltern und Kind ist im Hier und Jetzt enthalten und bearbeitbar. Die emotionale Anbindung der Eltern an sich selbst, an ihr Kind und an die belastende Geschichte ist zentral. Wir haben eine Herzorientierung in der Begleitung. Wenn Eltern sich selbst in der belasteten Situation besser verstehen, die Wahrnehmungs- und die Selbstanbindungsfähigkeit gestärkt sind, können die Kinder oft loslassen, und die Eltern werden kompetent, Körperpsychotherapie mit Babys und Kleinkindern 141 4 | 2023 ihr Kind in seinem Verarbeitungsprozess zu begleiten. Wichtiges Ziel der Therapie ist die Neuorganisation der aktuellen Bindungskonstellation im Hier und Jetzt. Ist es aber so, dass das Kind trotz mehr Haltefähigkeit der Eltern nicht aus seinem Muster kommt, dann ist die Frage zentral, was einem Kind auf dem Herzen liegt. Was hat ein Kind bereits auf seinem kurzen Lebensweg erlebt, dass es eingekapselt, nicht erreichbar, dauernd angespannt oder außer sich ist? In der traumazentrierten Arbeit liegt der Fokus auf den Belastungen und Herausforderungen und der Aufarbeitung und Integration von schmerzhaften Erfahrungen. Gezielt werden einzelne Traumakapseln (von Mama / Papa und/ oder Kind) erkundet, wenn das Kind trotz Kontaktsicherheit nicht aus seinem Muster kommt oder sich die Herzkraft, das Liebesband, nicht entfaltet. Bereits prä- und perinatal macht das Baby Bindungserfahrungen und nimmt auf dem langen Weg in die Welt viele Herausforderungen an, die es positiv stärkend oder belastend bis traumatisch erleben kann. Ist das Baby auf der Welt, macht es Erfahrungen im Kontakt mit seinen Bezugspersonen und entwickelt sich zwischen Bindung und Autonomie zu einem unabhängigen, selbständigen Menschen mit einem individuellen und von Anfang an geprägten Selbsterleben. Gleichzeitig bringt jedes Individuum eine Widerstandskraft mit ins Leben, die Resilienz, die Lebenskraft. Immer wieder staunen wir über Babys, die einen schwierigen Start ins Leben hatten, aber trotzdem gut reguliert sind. Die individuelle Bindungs- und Traumageschichte sowie die mitgebrachte und durch Erfahrungen geprägte Resilienz entwickeln sich parallel zueinander und stehen in unmittelbarer Abhängigkeit voneinander. Schwierig wird es für Kinder an den Stellen, wo Belastung und Beziehungsabbruch zusammenfallen (Abb. 1). Auswirkung einer Traumabelastung auf Körper, Psyche und Seele Peter Levine definiert Trauma nicht nur als ein „psychisches“ Problem, es passiert auch im Körper (Levine 2011). Ein Trauma basiert auf Abb. 1: Bindungsorientierte und traumaintegrative Körperpsychotherapie 142 Cornelia Reichlin 4 | 2023 einem Ereignis, das den Menschen physisch und psychisch so überfordert, dass es mit den normalen Bewältigungsstrategien nicht verarbeitet werden kann. Trauma-Symptome entstehen nicht nur durch das traumatische Erlebnis selbst, sondern dann, wenn die hohe emotionale und physiologische Aktivierung im Nachklang des traumatischen Erlebnisses nicht integriert werden kann. Körper und Seele bleiben dann in belastetem Zustand. Die traumatische Reaktion beginnt für die betroffenen Menschen dort, wo die herkömmlichen Ressourcen und Anpassungsstrategien versagen oder die äußere Belastung so stark ist, dass das System zusammenbricht (Harms 2008). Erlebt der Mensch traumatisch überwältigende Situationen, dann hat das einen Effekt auf den Körper, die Gefühle und auf die Psyche. Der Körper mobilisiert sein Abwehrsystem, der Organismus kontrahiert, um sich den Schmerz vom Leib zu halten und sich zu schützen. Dabei kommt das System in einen Zustand der Lähmung bei gleichzeitiger Übererregung. Die Körperpanzerung (Muskelpanzerung) dient im Allgemeinen dazu, Gefühle zu unterdrücken und einzukapseln. Der Körper verharrt in dem Zustand der Kontraktion, und die Aktivierung bleibt gebunden (Boadella 1995). Das Schutzsystem der Psyche ist die Dissoziation, ein Wegtreten aus der Realität. Dissoziation beschreibt in der Psychologie die Trennung von Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten, welche normalerweise assoziiert sind (Ruppert 2014). Dadurch kann die integrative Fähigkeit des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und der Identität beeinträchtigt werden. Findet die traumatische Erfahrung keine Integration, fragmentiert die Psyche. Trauma braucht Kontakt. In der Therapie werden schmerzhafte und eingekapselte Gefühle sicher eingebunden, sodass Körper und Psyche wieder zurück zur Ganzheit, Gesundheit, Selbstregulation und Lebenskraft finden. Grundlagen für die traumaintegrative Begleitung von Babys und Kleinkindern Traumaorientierte Ansätze werden in der Baby- Arbeit eröffnet, wenn durch die koregulierende Funktion der TherapeutIn die Eltern so weit stabilisiert sind, dass der Prozess des Kindes gehalten begleitet werden kann. Die Eltern müssen das noch nicht allein können, denn die Arbeit ist prozesshaft, und eine tiefgreifende Stabilität darf sich während des Therapieprozesses entfalten. Eltern werden unterstützt, zwischen Ressource, Selbstkontakt und Betroffenheit, Erregung und Aktivierung zu pendeln, so dass sie gesichert auf das Unsichere schauen können. Die regressiven Prozesse, die das Kind zum Ausdruck bringt, sind meist mit bedeutsamen Reaktionen der betroffenen Mütter und Väter verwoben. In jenen Momenten, in denen die Babys die erlebte Ohnmacht und Verzweiflung der Geburt zum Ausdruck bringen, drängen häufig die hierzu passenden affektiven Reaktionen von Mutter oder Vater an die Oberfläche (Harms 2008). Wir dürfen nicht jenseits der Toleranzgrenze einer beteiligten Person arbeiten (Terry 2014), ansonsten muss diese ihr Abwehrsystem mobilisieren, und es besteht die Gefahr der Retraumatisierung. Rund um die Arbeit mit Traumaprozessen ist es therapeutische Aufgabe, für Schutzsysteme zu sorgen, damit niemand von der emotionalen Heftigkeit überschwemmt wird. Diese Sicherheit müssen wir schaffen, damit sich die Eltern die emotionale Betroffenheit erlauben können und ein emotionales Verständnis für den Ausdrucksprozess des Babys entsteht (Harms 2008). Eltern bekommen durch die Hilfe und Koregulation einen inneren Plan, verstehen sich selbst besser und gewinnen Sicherheit in der Begleitung ihres Kindes. In der Therapie werden die Eltern unterstützt, wieder Vertrauen in sich selbst zu fassen und an ihre Intuition anzuknüpfen, damit sie selbst sicher darin werden, ihr Baby mit all seinen Gefühlen zu begleiten. Entwickeln Eltern diese Körperpsychotherapie mit Babys und Kleinkindern 143 4 | 2023 Kompetenzen, so wird sich das nachhaltig auf das Eltern-Sein auswirken. Fallbeispiel Magda Magda kommt mit ihren Eltern im Alter von sechs Wochen zu mir in die Praxis. Die Schwangerschaft von Magda hat die jungen Eltern überrascht. Nach einer aufgewühlten Anfangszeit haben sie sich sehr auf Magda gefreut. Die Schwangerschaft ist komplikationslos verlaufen, und die Geburt von Magda ging sehr schnell, was für die Mama herausfordernd war. Unter den Presswehen sanken die Herztöne, und es kam große Hektik auf. Mit einer hohen Dosis Wehenhemmer wurde die Geburt gebremst, und Magda kam mit der Nabelschnur um die Schulter auf die Welt. Unter den Presswehen wurde die Nabelschnur zusammengedrückt, und die Blutzufuhr wurde knapp. Magda hatte am Anfang große Mühe mit dem Atmen. Für den Vater war die Situation im Gebärsaal sehr aufwühlend. Er hatte große Angst um Baby und Mutter. Die ersten vier Wochen war Magda sehr ruhig. Seit den letzten zwei Wochen zeigt sie abends von 18-24 Uhr große Unruhe, weint viel und kann sich nur schlecht in den Schlaf fallen lassen. In der therapeutischen Anbindung geht es um die Weinphasen abends, die Eltern sind beunruhigt. Nachdem sich die Eltern bequem positioniert haben, erzählen sie über die Geburt, und die Mama erinnert sich daran, wie schlimm der Moment war, als die Geburt unterbrochen wurde. Sie war verängstigt, und der innere Kontaktfaden war abgebrochen. Magda liegt auf ihrem Arm. Sie wird etwas unruhig, weil sie die Betroffenheit der Mama spürt und die Geburtsgeschichte im Raum steht. Durch Verlangsamung und Unterstützung mit einer haltgebenden Berührung findet die Mama wieder zu mehr Sicherheit und Selbstverbindung. Wir nehmen uns Zeit, die Aufregung als Enge in der Brust somatisch zu lokalisieren. Mittels Bauchatmung und körperlicher Unterstützung durch den Vater stabilisiert sich die Situation. Die Mama wird von ihrem Mann gehalten, und gemeinsam bestaunen sie ihre Tochter. Die kleine Magda spürt den Halt der Eltern und nutzt die Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen. Sie kommt in ein heftiges Weinen, schaut dabei ihre Eltern an und ist durch mich am Köpfchen gehalten und unterstützt. Sie zeigt in ihrem Bewegungsmuster das Steckenbleiben, die Einschränkung durch die Nabelschnur, ihre Atemnot und den Versuch, ihren Weg aus der Pattsituation zu finden. Sie schiebt mit den Beinen, presst ihren Bauch nach oben, dreht ihren Kopf verzweifelt hin und her, bringt sich damit immer wieder selbst in die gleiche verkeilte Position in meinen Händen. Dabei atmet Magda gepresst bei verzweifeltem Weinen. Aus ihrem Weinen ist die Angst und die Panik zu hören. Ich spreche mit Magda: „Ja, so machst du das gut, erzähle uns deine Geschichte, wir sind jetzt ganz bei dir und hören dir zu, du darfst mit deinem Schmerz und deiner Not hier sein, wir sehen dich.“ Diese Worte berühren beide Eltern sehr, und beim Vater bricht ein Damm. Er weint bitterlich und spricht über seine Belastung in der Geburtssituation, über die Angst um seine Tochter und seine Frau. Er spricht über die Hilflosigkeit und wie ihn das seit der Geburt verfolgt. Einhergehend mit der Betroffenheit und den lösenden Tränen des Vaters kommt Magda ganz zur Ruhe. Sie schaut ihre Eltern mit großen Augen an, und es entsteht ein ganz inniger, friedvoller Raum. Ich lasse die Eltern einen Moment allein, damit sie mit ihrer Tochter nochmals diesen neuen Augenblick des Ankommens genießen können. Dies ist ein wunderbares Beispiel, wie sich die Themen oft ganz von allein entfalten, die abgekapselten Gefühle wie Seifenblasen an die Oberfläche kommen und integriert werden können. Das Baby erzählt seine Geschichte, die Geschichte berührt die Eltern, welche wiederum mit ihrer Betroffenheit und ihren Tränen einen heilenden Raum betreten. Baby und Eltern kommen in eine Resonanz und verstehen 144 Cornelia Reichlin 4 | 2023 einander. Die Herzen gehen auf, und das Liebesband kommt ins Fließen. Nähe und Verbundenheit bauen sich auf. Indikationen für traumaintegratives Arbeiten Grundsätzlich gibt es meiner Erfahrung nach vier Indikationen für die Eröffnung der Traumaprozesse: 1. Die Herzkraft zwischen Eltern und Baby entfaltet sich nicht Wenn das Liebesband zwischen Eltern und Baby nicht ins Fließen kommt, Entfremdungsgefühle da sind, keine Ressourcen mehr kontaktiert werden können, Mama und / oder Baby traumatisiert und in Starre sind, dann müssen wir mit den Traumaprozessen (bei Mama oder Baby) arbeiten. Die Erlebnisse sind dann in der Regel gekoppelt, und Aufgabe der TherapeutIn ist, als KoregulatorIn unterstützend zur Seite zu stehen, für Sicherheit zu sorgen, um so langsam die Traumathemen aufzuarbeiten. 2. Das Kind kommt trotz Haltefähigkeit der Eltern nicht aus seinem Muster Babys zeigen ihre Geschichten über ihren Körper. Die Stress-, Abwehr- oder Haltemuster sind wahrnehmbar und sichtbar. Auch die dazugehörigen emotionalen Ausdrucksprozesse sind als Muster im System gehalten. Kommt ein Baby nicht aus seinem Muster, kann es die weitere Entwicklung einschränken. In der babybezogenen Arbeit ist jede Geschichte individuell zu verstehen und bietet die Möglichkeit einer Hypothesenbildung, die hilft, das Kind achtsam zu verstehen, keinesfalls sollte generalisiert oder dogmatisiert werden. Ein Baby, welches zum Beispiel mit Kaiserschnitt zur Welt kommt, kann Mühe haben, seine Kraft, seine Energie in den Beinchen auszurichten. Es gibt keine innere Erfahrung dafür, seine Kraft zu bündeln und sich selbstwirksam auf den Weg zu machen. Möglicherweise zeigt das Baby dann viel Unruhe, Schreckhaftigkeit und hat eine hohe Muskelspannung in sich. Vor allem die Beinchen können nicht loslassen. In dieser Spannung erlebt sich das Kind gestresst und kommt immer wieder in ein Weinen. Mit diesem Grundmuster kann das Kind Mühe haben, sich später aus eigenem Antrieb auf den Weg zu machen und ins Krabbeln zu kommen. Die Entwicklung kann eingeschränkt sein. Mit zunehmendem Alter stehen immer mehr Fähigkeiten und Regulationsmöglichkeiten zur Verfügung, jedoch bleibt die Grundmatrix, nicht mit eigener Kraft einen Weg zu Ende machen zu können, bestehen. Helfen wir dem Kind mittels regressiver Prozessarbeit, seinen eigenen Weg zu finden, kann es wieder an seine Kraft anknüpfen. 3. Das Baby drängt danach, seine Geschichte zu erzählen Manchmal und oft schneller als uns lieb ist kommen die Babys mit ihren aktivierten Themen schon in die Praxis. Die Babys sind oft mehr als bereit, ihre Geschichte zu erzählen, und suchen Entlastung. Sie sind im Prozess, weinen, erzählen immer wieder ihre Geschichte. Dann binden wir den Prozess des Babys ein und versuchen, die Eltern so weit zu stabilisieren, dass sie das Baby begleiten können. Aber gerade dann, wenn wir diese Situationen noch nicht einschätzen können, ist es vordringlich, erst einmal für ausreichende Sicherheit für alle zu sorgen und die Eltern mit ins Boot zu holen. Babys und Eltern verstehen, wenn man ihnen sagt: „Ich sehe, du möchtest gerne erzählen, aber ich muss erst schauen, dass es Mama und Papa dabei gut geht und wir dir zuhören können.“ 4. Das Kind zeigt körperlich strukturelle Belastungen Nach einer natürlichen Geburt kann es durch die Enge im Geburtskanal beim Säugling zu Verschiebungen der Schädelknochen und Kom- Körperpsychotherapie mit Babys und Kleinkindern 145 4 | 2023 pressionen sowie teilweise Verdrehungen in der Wirbelsäule kommen. Ein sanftes Übereinanderschieben der Schädelknochen ist normal und für den Geburtsprozess notwendig. Bei hohen Belastungen durch Druck-, Zug- oder Schubkräfte oder nach geburtshilflichen Interventionen ist es möglich, dass sich in der Folge belastete Strukturen nicht wieder auf ihre natürliche Position zurückbewegen und dabei Nervenbahnen und Blutgefäße blockieren. Der natürliche Selbstregulationsmechanismus eines Neugeborenen reicht dann oft nicht aus, um wieder in Balance zu kommen-- weder körperlich noch psychisch. Je früher Säuglingen und Kindern die Möglichkeit verbesserter Selbstregulation gegeben wird, umso besser entwickelt sich auch deren autonomes Nervensystem (Agustoni 2008). Fallbeispiel Leon Leon und seine Mama habe ich über längere Zeit begleitet. Leon ist ein Frühchen. Seine Mutter musste lange Zeit im Spital liegen, da sie fast kein Fruchtwasser mehr hatte. Er ist nach seiner Geburt auf der Neonatologie durch einen Infekt fast gestorben. Ich möchte hier gar nicht den ganzen Prozess mit Leon beschreiben, sondern nur eine Sequenz daraus hervorheben. Leon hatte-- wie gesagt-- wenig „Polsterung“ durch das fehlende Fruchtwasser der Mutter und war im Mutterleib schon sehr konkret mit den knöchernen Strukturen der Mama in Kontakt. Diese Kompressionsstellen am Kopf sind bei ihm gut sichtbar, und es hat sich dort nur wenig Bindegewebe aufgebaut. Die Eltern von Leon sind sehr dankbar, dass er sich gesund entwickelt hat, doch natürlich auch überfürsorglich und schnell besorgt. Auffällig ist, dass Leon sich immer wieder unsanft selbst auf den Kopf schlägt oder seinen Kopf an der Wand oder am Boden aktiv anschlägt, wenn er emotional aktiviert ist. Immer auf dieselbe Stelle: auf die rechte Seite am Schädeldach, dort, wo er im Becken der Mutter angestoßen war. Die Mama verunsichert dieser Ausdruck von Leon, und sie versteht es nicht. Wenn Leon dieses Muster zeigt, kann sie dieses Verhalten kaum aushalten. Sie ist besorgt und wünscht sich, dass er doch einfach damit aufhören solle. Sein Verhalten beantwortet sie dementsprechend und kommentiert: „Hör auf, das macht man nicht, lass das sein, du tust dir weh“ etc. Zum Zeitpunkt dieser Sitzung ist Leon 8 Monate alt. Gemeinsam schauen wir in der Therapiesitzung die Situation an und forschen mit Puppe und Becken, ob es Sinn macht, dass diese Stelle in Verbindung mit seiner Lage im Mutterleib stehen könnte. Als wir das dreidimensional ansehen, wird plötzlich klar, was Leon uns erzählt. Er war mit dieser Stelle in direktem Kontakt mit dem Beckenrand der Mama. Die Mama erinnert sich an die Zeit in der Klinik. Leon fängt bei der Sitzung an, mit der Puppe und dem Becken zu spielen. Es ist sehr eindrücklich, wie er uns seine Geschichte erzählt. Die Mama kann sehen und anerkennen, dass Leon mit seinem Verhalten seinen Schmerz zeigt, den er an dieser Kompressionsstelle gespürt hat. Dieses Bewusstwerden hat bei ihr nochmals tiefe Gefühle von Trauer und Schmerz über diese schwierige Situation in der Schwangerschaft und viel Empathie für Leon und sich selbst hervorgebracht. Gemeinsam suchen wir nach neuen Worten, wie sie dem Verhalten von Leon begegnen kann. Die neuen Sätze sind: „Ich sehe deinen Schmerz, ja das hat weh getan, ich verstehe das, hier war es ganz schwierig für dich.“ Nach etwa einer Woche liebevoller Begleitung der Eltern mit diesen neuen Worten hört Leon mit dem selbstverletzenden Verhalten auf, und es kehrt nicht wieder zurück. Er fühlte sich in der Tiefe verstanden und gesehen und konnte so seinen Schmerz integrieren. 146 Cornelia Reichlin 4 | 2023 Vier Grundaspekte der prä- und perinatalen und frühkindlichen Belastung Rund um prä- und perinatale und frühkindliche Belastungen lassen sich vier Grundaspekte definieren, die generell für den Menschen schwierig sind. Kinder tragen diese Themen in der Grunderfahrung mit sich und verhandeln die Belastung erfahrungsgemäß auf unterschiedlichste Art und Weise. Verlust des Eigenrhythmus Erlebt ein Kind z. B. unter der Geburt, dass sein Tempo verlangsamt oder beschleunigt wird, geht der Bezug zum eigenen Grundrhythmus verloren. In der Therapie ist deshalb ein wichtiges Referenzsystem, auf Rhythmus und Tempo des Kindes zu achten. Ist ein Kind immer sehr schnell, immer in Action, kann es kaum Pausen machen? Gibt es Kontaktmomente, oder umgekehrt, ist ein Kind sehr zurückgezogen, wagt sich nicht vor, ist träge? Diese Rhythmik hat viel mit Selbstregulation zu tun, wo Kinder im Gesunden aktiv sind, Pausen machen und regenerieren können. Verlust der Selbstwirksamkeit Autonomie ist ein menschliches Grundbedürfnis. Diese fängt nicht erst im Kleinkindalter an. Ist ein Mensch in seiner Autonomie verletzt worden, gab es gekoppelt mit Angst- oder Schmerzerleben sehr früh überwältigende und grenzüberschreitende Erfahrungen, dann führt das zu Vorsicht, Obacht, ausgefahrenen Antennen. Hier sehen wir entweder Kinder, die alles allein machen möchten, oder Kinder, die für alles Unterstützung und Sicherheit einer anderen Person brauchen. Verlust des verkörperten Selbsterlebens Gibt es im Erleben des Kindes Momente, wo es die Kontrolle verloren hat, z. B. bei Narkosen, oder wo es sich von jetzt auf sofort anders erfahren hat, z. B. nach pränatalem Verlust eines Zwillings, kann das zu kompensatorischem Verhalten führen. Kinder fangen an, alles zu bestimmen, mögen keine Ansagen oder Grenzen, lassen sich nicht ablenken, kommen in Not, wenn sie nicht selbst den Takt vorgeben können. Diese Grenzen neu zu verhandeln oder Mut zu machen, für sich einzustehen, sind wichtige Ziele in der Therapie. Verlust der Abstimmung / Kontaktverlust Fällt ein Gegenüber real oder emotional für das Kind weg, kommt es zu einer Überforderung. Das Kind muss sich selbst halten oder klammert sich an das Gegenüber. Im täglichen Miteinander zwischen Bindungsperson und Kind ist der Abstimmungsprozess ein andauernder Tanz. Verstehen sich Mama und Kind nicht, sind Zeichen unklar, ist die Mutter nicht feinfühlig, wiederholt sich im Alltag eine Belastungsdynamik, dann wiederholt sich ein Erleben von „Mismatches“ im Alltag immer wieder und kann zu unsicheren Bindungsmustern führen. Voraussetzungen für die Arbeit mit Babys und Kleinkindern Um Kinder in der Therapie zu erreichen, braucht es eine bezogene und eröffnende Kontaktaufnahme. Kinder brauchen eine ehrliche Einladung, sich zu zeigen, sich mitzuteilen, eine Art Möglichkeitsraum, der sich gestalten darf. Bei Kleinkindern erfordert das einen kreativen Zugang. Dabei wird die Körpersprache des Kindes aufgenommen, teilweise nachgefühlt, direkt gespiegelt, Qualitätswechsel werden benannt und markiert. Die Abwehrgrenzen des Kindes werden respektiert. Abgebildete Resonanzprozesse werden aufgegriffen und benannt. Wichtig ist, Empathie mit dem Baby oder Kleinkind auszubilden. Die Prozesse bedingen eine gute Führung durch Worte und Sicherheitskontakte. Auch die Eltern sollten dem Prozess empathisch folgen können, und die Selbstanbindung und Körperpsychotherapie mit Babys und Kleinkindern 147 4 | 2023 Sicherheit aller Beteiligten muss gewährleistet sein. Es steht einerseits die Frage im Raum, was das Kind zeigt und erlebt hat in der Belastung (Momentum der Anerkennung), und andererseits, was das Kind braucht, um einen Prozess zu vervollständigen oder sich wieder an seine Kraft und Selbstwirksamkeit anzuschließen, die in einer Belastung eingeschränkt oder unterbunden wurde. Kinder verhandeln ihre Belastungsthemen individuell sehr unterschiedlich. Es sind aber zwei grundlegende Strebungen zu erkennen. Entweder verhält sich das Kind vermeidend und versucht, nicht mehr in eine bekannte Pattsituation zu kommen, oder es wiederholt die Belastungssituation immer wieder, indem es sich selbst oder andere in die Erfahrung der Belastung führt. Manchmal schwingen diese Dynamiken auch ambivalent auf beiden Seiten aus. Dabei ist die Haltung für die Therapie grundlegend, dass Kinder im Kern immer richtig sind und sie über ihr Verhalten oder ihre Körpersprache etwas zeigen, das wir als Erwachsene noch nicht verstanden haben. In der Therapie ist es wichtig, diese Inhalte zu verstehen. Das bedingt ein Einlassen auf die Kind- Ebene. Körperpsychotherapeutische Interventionen Spiegeln, Benennen und Anerkennen Spiegeln, Benennen und Anerkennen, zum Beispiel über Nachvollzug einer Geburtssituation mittels Puppe und Becken, unterstützt die Empathiebildung und Differenzierung der erlebten Situation mit dem Kind für die Eltern. Kinder sind sehr interessiert an ihrer Geschichte. Palpieren (Berührungskontakt, annähernd oder direkt am Körper) Die verkörperte Geschichte zeigt sich durch Reaktionsmuster an belasteten Strukturen oder Segmenten. Mittels Palpation können wir uns der verkörperten Geschichte annähern und das Kind einladen, sich mit dem Kontakt auseinanderzusetzen. So kann z. B. die Annäherung einer Berührung am Kopf repetitiv einen Hustenreiz oder eine Palpation am Bauch ein Durchbiegen nach hinten auslösen. Im Berührungsdialog geht das Kind in eine Art verkörpertes Erzählen. Körperberührung zur Unterstützung der Selbstregulation Mittels achtsamer Berührung auf der Basis von körperpsychotherapeutischen Modellen wie z. B. der sanften Bioenergetik von Eva Reich (Deyringer 2008) wird direkt mit gehaltenen Körpersegmenten gearbeitet und die ursprüngliche gesunde Pulsationsfähigkeit wieder eingeladen. Das Schöne an Kindern ist, dass die Belastungsprozesse sehr plastisch und noch nicht gepanzert sind, sodass durch sanfte Stimulation das vegetative Gleichgewicht unterstützt werden kann. Körperarbeit zur strukturellen Integration Manche Kinder haben strukturelle Belastungen. Der Kopf muss sich durch den engen Geburtskanal schieben, Schädelplatten sind überlappt, der Nacken gestaucht. Der Körper war unter Umständen starken Schub- oder Zugkräften ausgesetzt. Neben den körperpsychotherapeutischen Angeboten empfiehlt es sich, körpertherapeutische Methoden wie Craniosacraltherapie, Osteopathie oder Chiropraktik hinzuzuziehen. Arbeit mit Prägungen, Halte- und Bewegungsmustern Die Babys zeigen uns über verschiedene Kanäle, mit was sie beschäftigt sind. Dabei verweben sich die Erfahrungen des Babys aus Schwangerschaft und Geburt, und es gibt Überlappungen, die oft nicht so einfach auseinandergehalten werden können. Wichtig ist, offen zu sein für die individuelle Geschichte und für das Wesen des Kindes, welches wir begleiten, und nicht mit vorgefertigten Ideen 148 Cornelia Reichlin 4 | 2023 und Interpretationen auf das Baby zuzugehen. Kinder zeigen repetitive Berührungen, Bewegungen oder auch Haltemuster. Diese Muster können gespiegelt, verkörpert miterlebt oder verstärkt werden, um sie zu verstehen. Die Körpersprache wird gespiegelt und für die Eltern versprachlicht. Begleiten von Ausdrucksprozessen Weinen ist eine wichtige Möglichkeit des Kindes, sich wieder in ein physiologisches Gleichgewicht zu bewegen. Weinen ist Kommunikation und in der grundlegenden Funktion gesund. Über Weinen drückt das Kind sein Bedürfnis aus und reguliert Spannungszustände. Weiterhin teilen Kinder über Erinnerungsweinen ihre Belastung mit. Diese Form von Weinen wurde von Emerson erstmals unter der Bezeichnung „Trauma Crying“ (Emerson 2012) eingeführt und von Karton Terry, seinem Schüler, unter dem Begriff „Memory Crying“ (Terry 2014) weiterentwickelt. Beim Erinnerungsweinen gibt es keine direkte Verbindung zwischen Weinausdruck und inneren oder äußeren Umständen. Das Weinen ist immer an ein zurückliegendes, unlustvolles Erleben geknüpft. Die überwältigenden Erlebnisse wirken im Hier und Jetzt im impliziten Körpergedächtnis weiter und werden durch an sie erinnernde Reize ausgelöst. In der Therapie bekommt das Kind die Möglichkeit, sich gehalten im Weinen auszudrücken. Geburtswiederholende Prozessarbeit Mit der geburtswiederholenden Arbeit wird dem Kind die Möglichkeit gegeben, einerseits zu erzählen und aufzuzeigen, wie es die Geburt erlebt hat, und andererseits wird der Prozess korrektiv unterstützt, sodass das Kind eine neue verkörperte, stärkende Erfahrung machen kann. Für ein Kaiserschnitt-Baby kann es unglaublich erleichternd sein, in diesen Körperprozess zu gehen und die in ihm ungerichtete Schub-Energie, v. a. in den Beinen, zu gebrauchen und seine Körpergrenze zu spüren. Ein Kind, das sehr schnell geboren wurde, kann die Erfahrung machen, wie es ist, das eigene Tempo zu finden und sich selbst in der Kraft wahrzunehmen. Abb. 2: Spielerische Aufarbeitung einer Kaiserschnitterfahrung: Das Kind baut eine große Wand aus Kissen mit nur einer kleinen Öffnung auf. Eine ganze Armee von Tieren bewacht diesen kleinen Ausgang. Das Ritterpferd kämpft erfolgreich gegen den Drachen (repräsentiert durch die Therapeutin). Macht, Ohnmacht und Ermächtigung werden im Spiel neu verhandelt. Körperpsychotherapie mit Babys und Kleinkindern 149 4 | 2023 Regressive Prozessbegleitung In der Prozessarbeit gehen die Kinder in Regressionen und zurück in Körperzustände vor, während der Geburt oder im früheren Lebensalter. Oft zeigen die Kinder dann deutlich bestimmte Körpermuster oder ein Verhalten, oder sie drücken ein erinnertes Gefühl aus. In den regressiven Zuständen zeigen sich neben den Geburtsthemen auch pränatale Themen, wie Versorgungsthemen über die Nabelschnur, Entdeckungsthemen, Implantation, intrauterine Verlusterfahrungen etc. Wir begleiten das Kind individuell, unterstützen es achtsam und versprachlichen die Prozesse. Trauma-Integration durch das Spiel Kinder spielen ihre Belastung auf kreativste Art und Weise. Sie bauen Nester, Höhlen, agieren mit Vertretern, z. B. Puppen, Tieren, Kissen. Oft interagieren sie in der Therapie rund um polare Themen: Ohnmacht/ Macht, Opfer/ Täterschaft, Selbstwirksamkeit/ Fremdbestimmung, Kraft/ Schwäche, Erschrecken / Bewachen … In der Therapie geht es darum, sich kreativ auf das Kind im Spiel einzulassen, Worte zu finden, Verknüpfungen zu machen, den Gegenpol einzuladen. Trifft man das Thema, geht etwas im Kind in Resonanz, dann ist meist ein Moment des Erkennens und Innehaltens im Raum. Es sind magische Momente, wo sich Synapsen neu bilden können auf der Basis einer Mischung von Anerkennung und Neugestaltung. Abschlussbemerkung Die Arbeit mit Babys, Kleinkindern und ihren Eltern ist faszinierend, weil zu keinem anderen Zeitpunkt so viel Veränderung möglich ist. Nie sind Menschen so offen für Veränderung wie in der Zeit des jungen Eltern-Seins. In kürzester Zeit kann einer jungen Familie ein gut genährter Boden geschaffen werden, auf dem sie wachsen und sich entwickeln kann. Die Kinder führen die Eltern zurück zu ihren eigenen Lebensthemen, aber auch zurück zur Bewusstheit, Langsamkeit, zum Da-Sein und zu neuen Prioritäten im Leben. Denn Kinder spiegeln ihr Gegenüber und orientieren sich an der Art, wie Menschen mit sich selbst umgehen. Sie führen die Pulsation des Lebendigen vor Augen. In der heutigen schnelllebigen und anspruchsgeprägten Zeit ist es bedeutsam, Eltern zu unterstützen, dass sie für ihre Kinder wirklich verfügbar und ein emotional lebendiges Gegenüber sein können. Denn Eltern müssen nicht perfekt sein, sie müssen vor allem da sein. Literatur Agustoni, D (2008): Craniosacral-Therapie für Kinder. Grundlagen und Praxis ganzheitlicher Heilung und Gesundheit. Kösel, München Boadella, D. (1995): Wilhelm Reich, Pionier des neuen Denkens. Eine Biografie. 2. überarb. Neuausg. Scherz Verlag, Bern / München Boadella, D. (1991): Befreite Lebensenergie. Einführung in die Biosynthese. Kösel, München Deyringer, M. (2008): Bindung durch Berührung: Schmetterlingsmassage für Eltern und Baby. Leutner, Berlin Emerson, W. R. (2012): Behandlung von Geburtstraumata bei Säuglingen und Kindern. Mattes Verlag, Heidelberg Harms, T. (2008): Emotionelle Erste Hilfe. Bindungsförderung, Krisenintervention, Eltern- Baby-Therapie. Leutner, Berlin Heller L., Lapierre A. (2014): Entwicklungstrauma heilen. Alte Überlebensstrategien lösen, Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken. Kösel, München Levine, P. (2011): Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die Balance zurückführt. Kösel, München McCarty, W. (2013): Ich bin Bewusstsein: Babys von Anfang an als ganzheitliche Wesen willkommen heißen. Innenwelt Verlag, Köln Reich, E., Zornanszky, E. (1993): Lebensenergie durch Sanfte Bioenergetik. Kösel, München Renggli, F. (2013): Das goldene Tor zum Leben: Wie unser Trauma aus Geburt und Schwangerschaft ausheilen kann. Arkana, München 150 Cornelia Reichlin 4 | 2023 Ruppert F. (2014): Trauma, Angst und Liebe. Unterwegs zu gesunder Eigenständigkeit. Kösel, München Schindler, P. (Hrsg.) (2011): Am Anfang des Lebens. Neue körperpsychotherapeutische Erkenntnisse über unsere frühesten Prägungen durch Schwangerschaft und Geburt. SGBAT Körper und Seele, Band 7. Schwabe, Muttenz / Basel Schmidt, J. B. (2008): Der Körper kennt den Weg. Trauma-Heilung und persönliche Transformation. Kösel, München Terry, K. (2014): Vom Schreien und Schmusen, vom Weinen zur Wonne: Babys verstehen und heilen. Axel Jentzsch, Wien Cornelia Reichlin Komplementär-Therapeutin, EEH-Therapeutin und Körperpsychotherapeutin Biosynthese und BKPT. Begleitet mit Schwerpunkt auf der Integration von prä- und perinatalen Belastungen Erwachsene, Säuglinge, (Klein-)Kinder und Familien. Sie ist Ausbilderin, Referentin und Supervisorin. ✉ Cornelia Reichlin Leonhardsberg 14a | CH-4051 Basel praxis@corneliareichlin.ch www.corneliareichlin.ch www.aavabasel.ch